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LEBEN UND WERKE
DES
DIO VON PRUSA
MIT EINER EINLEITÜNO : • " •
SOPHISTIK, RHETORIK, PHILOSOPHIE
IN IHREM KAMPF UM DIE JUGENDBILDUNCt
VON
HANS VON ARNIiM.
BERLIN,
WBIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG.
1898.
• t
ULRICH VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF
ZUGEEIGNET.
403115
Vorwort.
Dafs ich dieses Buch, das erste gröfsere darstellende Werk, mit
dem ich an die Öffentlichkeit trete, meinem hochverehrten Lehrer, Pro-
fessor von Wilamowitz, darbringe, bedarf keiner wortreichen Be-
gründung. Schon lange habe ich gewünscht, ihm meine Dankbarkeit
für alles, was ein akademischer Lehrer, für die Wissenschaft und über
die Wissenschaft hinaus, dem Schüler geben kann, durch die Widmung
eines Werkes, das nicht unwürdig wäre, seinen Namen auf der Stirne
zu tragen, auch öffentlich zu bezeugen. Ich kann nur wünschen, dafs
meine Arbeit ihm selbst und anderen als ein Beweis erscheine, dafs
seine Aussaat bei mir nicht auf die Heerstrafse und nicht unter die
Dornen gefallen ist. Auch hoffe ich, dafs er, der das Interpretiren für
die schönste Aufgabe der Philologie hält, und meint, dafs ein Document
voll verstanden mehr wert sei als alle Apercus und alle Stoffsammlungen,
meine Arbeit, in der die Interpretation Anfang und Ende ist, als eine
nach dem Verstehen in diesem Sinne ringende, wenn auch leider hinter
dem „voll verstanden^ weit zurückbleibende gelten lasse.
Zu lebhaftem Danke fühle ich mich auch meinem Collegen und
Freunde Otto Kern verpflichtet, der mich bei der Drucklegung des
Werkes in aufopferndster Weise mit Rat und That unterstützt hat.
Rostock, den 4. Februar 1S98.
Hans von Amlm.
Inhalt.
S«tte
EinleitoDg 1
Erstes Kapitel. Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf am die
Jagendbildang 4
Zweites Kapitel. Dio als Sophist 115
Drittes Kapitel. Das Exil 223
Viertes Kapitel. Dio nach der Restitation. Die bithynischen Reden . . 309
Fflnftes Kapitel. Dios letste Lebensperiode 393
Nachtrag 515
Sachregister 517
Einleitnng.
Die folgeode Untersuchung stellt sich die Aufgabe, eine richtige
Beurteilung des Dio von Prusa als Redner und Philosoph anzubahnen.
Fttr eine allseitige und erschöpfende Darstellung dieses Gegenstandes ist
die Zeit noch nicht gekommen, ich hoffe aber schon jetzt das Bild des
Autors wesentlich deutlicher und richtiger zeichnen zu können, als es
bisher geschehen ist. Möge die Unvollkommenheit dieses Versuches
Mitforscher zu voUkommnerer Darstellung des Gegenstandes anregen.
Dafs Bedürfnis nach einer monographischen Darstellung des Dio
von Prusa vorhanden ist, wird Niemand bestreiten. Denn es finden sich
in der philologischen Litteratur zwar einzelne Ansätze und Vorarbeiten
zu einer Schilderung des interessanten Mannes, z.T. von hohem Werte,*)
aber bisher ist nicht der Versuch gemacht worden, auf Grund des ganzen
vorhandenen Stoffes ein Gesamtbild seines Lebens und seiner Leistungen
zu entwerfen. Dio ist neben Plutarch der hervorragendste Vertreter
des Hellenismus seiner Zeit. Für das Verständnis dieser Zeit birgt er
die reichsten Aufschlüsse. Ich denke dabei nicht an einzelne That-*
Sachen der Sittengeschichte oder der römischen Verwaltung oder son-
stiger Lebensgebiete, die zufällig von ihm erwähnt werden. Das tiefere
geschichtliche Verständnis einer Epoche wird durch nichts so stark ge-
fördert, wie durch die lebendige Vergegenwärtigung bedeutender Per-
sönlichkeiten, die in ihr gelebt haben. Wie sich ein begabter, über das
Alltägliche hinausstrebender Mensch in ihr entwickelt, ist das beste
Zeichen der Zeit. Schon der Umstand allein, dafs wir von Dios mensch-
1) Aarser dem bekannten Anfsatz von Barckhardt im Schweiz. Mos. IV 97 — 191
und den Beiträgen in Dflmmlera Antiaiheniea (Halle 1882) nenne ich Paul Hagen
Quaestiones Dionae (Kiel 1887), £. Weber De Dione Ghrysostomo Gynicoram secta-
tore Leipz. Studien Vol. V, Job. Wegehaupt De Dione Chrysostomo Xenophontis
sectatore Götting. Diss. 1S96, Garl Hahn De Dionis orationibus VI. V]1L IX. X
Götting* Dis9. 1896.
y. Arnim, Dio. \
2 EinleitoDg.
lieber Individualität und persönlicher Entwicklung etwas wissen können,
sichert ihm unser besonderes Interesse. Dio verschwindet nicht hinter
seinen Werken^ Denn er ist ein höchst subjectiver Schriftsteller. Überall
leuchtet sein Ethos durch die Darstellung hindurch. Im Ethos haben
schon antike Beurteiler den Reiz seines Stils gefunden.
Glücklicher Weise sind die Zeiten vorüber, wo man in unsrer
Wissenschaft nur die Werke der sogenannten klassischen Zeit für einen
würdigen Gegenstand der Forschung hielt und alle jüngeren Erzeugnisse
teils mit dem Mafsstabe der Klassicität mafs und schulmeisterlich ab-
kanzelte, teils als blofse StoflTmasse für die Erkenntnis der klassischen
Periode ausnutzte. Die einseitige „ humanistische*' Auffassung ist in
unserer Wissenschaft verdrängt worden durch die unendlich tiefere und
grofsartigere der Geschichtswissenschaft. Die Kenntnis der geistigen
Physiognomie der Flavierzeit ist ebenso unerläfslich wie die der peri-
kleischen für die Erreichung unserer letzten Ziele. Wenn wir die ganze
Folge verschieden gearteter Zeiten von dem ersten fernen Aufdämmern
der Cultur bis zum Zusammenbruch der antiken Welt durchlaufen und
nicht nur in jede einzelne dieser Zeiten uns hineindenken und fühlen
können, sondern auch das sinnvolle Ganze verstehen, zu dem diese
Zeitenfolge sich zusammenschliefst, so haben wir unstreitig für die Er-
kenntnis der menschlichen Dinge viel mehr gewonnen als durch die
Anschauung einer einzelnen Zeit, wäre sie auch die schöpferisch herr-
lichste, gewonnen werden kann.
Dios Verhältnis zur Vergangenheit könnte leicht dazu verführen,
ihn auch nur als Fundgrube für ältere Zeiten zu benutzen. Gewifs
sind die Quellenuntersuchungen von hoher Bedeutung, die bei Dio Auf-
schlüsse über die Geistesgeschichte der vorausgehenden Jahrhunderte
suchen; aber neben ihnen hat auch die von mir gewählte Betrachtungs-
weise ihre Berechtigung, welche die Quellenfrage vorläuGg beiseite
schiebt und Dio selbst in den Brennpunkt rückt. Einen Autor, der
kein Compilator, sondern eine schriftstellerische Individualität ist, kann
man nicht quellenkritisch analysiren, ohne seine Individualität zu kennen.
Man wird mir entgegenhalten, ob bei einem Manne wie Dio über-
haupt von Individualität die Rede sein könne. Gilt es nicht auch von
ihm^ wie von allen Autoren dieser Epoche, dafs er nur den alten Kohl
aufwärmt? Kann man von Individualität sprechen bei einem Autor, der
nicht aus der Anschauung des Lebens neue eigene Gedanken erzeugt,
sondern wiederholt, was andere vor ihm gedächt und ausgesprochen
haben? Hoffentlich werden die folgenden Betrachtungen in ihrer Ge-
Einleitung. 8
samtheit eine genügende Beantwortung dieser Frage enthalten. Natür-
lich kann es sich nicht um Individualit£lt im Sinne schöpferischer Ur-
sprünglichkeit handeln. Es ist kaum nötig auszusprechen, dafs Dio so
wenig wie irgendein anderer Philosoph dieser Epoche die Menschheit
durch neue, Wissenschaft oder Leben fördernde Gedanken bereichert
hat. Es ist selbstverständlich, dafs ein Grieche der Kaiserzeit nur cha-
rakterisirt werden kann durch sein Verhältnis zur Vergangenheit.
In der Art und Weise, wie ein solcher Mann aus dem von früheren
Generationen erworbenen Geistesschatze auswählend für sich und andere
Bildung schöpft, kommt seine Individualität zum Ausdruck.
Es gilt also für die Darstellung seiner Person und seines Lebens
zunächst das Fundament zu sichern: die Geschichte der für ihn be-
stimmenden und Yon ihm gepflegten Bestrebungen. Sophistik, Rhetorik,
Philosophie sind die drei Dinge, um die sichs bei unserm Autor han-
delt. Wie sie in seinem Leben und Wirken teils als gegensätzliche
Pole sich abstofsen, teils wider ununterscheidbar in einander fliefsen, so
hatten sie schon seit einem halben Jahrtausend gegen und in einander
gewirkt und dadurch die Geschichte des griechischen Unterrichtswesens
bestimmt.
Ich versuche im ersten Kapitel die Grundlinien dieser Entwicklung
zu ziehen. Teils handelt sichs um allbekannte Thatsachen, an die nur
des Zusammenhanges wegen kurz. erinnert werden mufste, teils um nicht
hinlänglich gewürdigte.
Entat Kapital.
Sophistik, Bhetoiik, Philosophie
in ihrem Kampf nm die Jugendbildung.
i.
Die Geschichte der griechischen Philosophie beginnt mit den natur-
philosophischen Specülationen der lonier, einem Erzeugnis der ionischen
Aufklärung des 6. Jahrh. Die Vertreter dieser Naturphilosophie heifsen
im Sprachgebrauch ihrer Zeit nicht Philosophen. Der BegrilT qftXoaofpla
war noch nicht erfunden. Sie können ootpLüTaL genannt werden, aber
sie teilen diesen Namen mit den Vertretern jeder andern Art von Inlelli-
genz oder künstlerischer Fertigkeit Soll ihre besondere Bestrebung
charakterisirt werden, so heifsen sie q>vaLok6yoi, Der Name aoq>iarrjg
bezeichnet einen Mann, der die Bethätigung irgendeiner ootpLa (d.h.
eines das Durchschnittsmafs übersteigenden geistigen Könnens) gewohn-
heitsmäfsig oder als Beruf übt.') Von vornherein mag diesem Ausdruck
etwas von der Zweischneidigkeit inne gewohnt haben, die er in seiner
gpSiteren Bedeutungsentwicklung bewährt. Es war ein stolzer Name,
aber er konnte leicht gebraucht werden, um gegen den Träger Mifs-
trauen und Mifsgunst zu erregen. Nach der bekannten Stelle im plato-
nischen Protagoras p. 317 ist es eine Neuerung des Protagoras, dafs er
sich selbst den Namen Sophist beilegt. Das ist kein geschichtliches
Zeugnis, sofern sich's um Protagoras handelt, aber die Stelle beweist
doch, dafs der Name Sophist ursprünglich einen zu stolzen Klang hatte,
um ihn sich selbst beizulegen.
Wie die ionischen fpvatoloyoLj so sind auch die Vertreter der ost-
griechischen Philosophie, die Pythagoreer, die Eleaten, Empedokles als
Sophisten nur in jenem allgemeineren Sinne bezeichnet worden, der
t) Vgl. die Belege über den älteren Gebrauch von oo^ianfe bei Zeller Philos.
d.Gr. IP p. 1074 Aniii.2.
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildang. 5
dem Worte ursprünglich eigen ist. Aber unverkennbar tragen Empe-
dokles und die jüngeren Eleaten schon mehr von den Charakterzügen
an sich, die uns als bezeichnende Merkmale der später xon i^ox^v so
benannten Sophistik gellen. Dem Empedokles hat Aristoteles die Er-
findung der Rhetorik zugeschrieben. Sein Schüler Gorgias betrachtet
es als seinen Lebensberuf, Rhetorik zu lehren, und gilt uns als ein
Hauptvertreter der Sophistik im gewöhnlichen Sinne. Diels hat in seiner
bekannten Abhandlung ') die Richtigkeit der aristotelischen Nachricht zu
erhärten versucht, indem er in den Resten des empedokleischen Lehr-
gedichts den Gebrauch rhetorischer Figuren nachwies. Es bleibt dabei
zweifelhaft, ob sich Empedokles schon mit der Technik der Rede theo«
retisch befafst und — was auf dasselbe hinauskommt — rhetorischen
Unterricht erteilt hat oder ob er nur praktisch unter der Einwirkung
der in seiner Heimat hochentwickelten Redekunst stand. Mir ist das
letztere wahrscheinlicher. Sicherlich konnte er in seiner Vaterstadt
nicht die Rolle spielen, die er thatsächlich gespielt hat, ohne selbst
Redner zu sein. Empedokles macht schon den Übergang von dem
älteren zu dem jüngeren Sophistentypus. Es genügt ihm nicht, „weise^^
zu sein, er will auch in der öffentlichen Meinung als weise gelten und
mit seiner Weisheit auf das öffentliche Leben einwirken. Das Vordrän-
gen seiner Person, die Eitelkeit und Ruhmredigkeit, die in den Bruch-
stücken hervortritt, ist ein echt sophistischer Charakterzug. Durch den
Wunsch, in die W^eite zu wirken, wird die Redekunst als unentbehr-
licher Bestandteil der aoq)la erkannt. Die aofpla^ deren Besitz der
aoqftati^g beansprucht, ist hier nicht mehr ein einzelner geistiger Vor-
zug, sondern ein erhöhter Zustand des ganzen Menschen, ein gestei-
gertes Wissen und Können, das den Menschen zur Götterwürde empor-
hebt und zur Herrschaft über andere Menschen befähigt.
Nach anderer Richtung bildet die Wirksamkeit und Lehre eines
Zenon und Melissos den Übergang zur Sophistik xar' i^ox;r]v. Wie
Empedokles als Erfinder der Rhetorik, hat Aristoteles den Zenon als
Erfinder der Dialektik bezeichnet. In den Beweisführungen dieser Philo-
sophen gegen die Wirkhchkeit der Erfahrungswelt und der Bewegung
entwickelt sich zuerst die Virtuosität, im Frage- und Antwortspiel zu
beweisen und zu widerlegen, die als Elenktik und Eristik bei den
eigentlichen Sophisten eine wichtige Rolle spielt und zugleich die Vor-
läuferin der sokratischen Dialektik wird. Bei den Eleaten hat diese
1) Gorgias a. Empedokles, Sitsangsberichte der Berl. Akad. d. Wissensch. 1884.
6 Erstes Kapitel.
Eristik einen philosophischen Zweck. Aber man brauchte nur von der
eleatischen Ontotogie abzusehen und die den Eleaten abgelauschte
eristische Technik auf andere Stoffe zu übertragen, um ein neues Macht-
mittel der aotpla zu gewinnen, das sich ergänzend zu der rednerischen
Peitho gesellte. Zenon und Melissos sind in unserem Sinne Philosophen ;
aber ihre Methode athmet sophistischen Geist. Sie haben den nach
ihnen kommenden Sophisten die Waffen geschmiedet.
Der Fortschritt, auf dem die weitere Entwicklung beruht, liegt in
der Erhebung der aotpla zum Bildungsideal der Nation, nicht der
aoq>la in dem alten engbegrenzten Sinne eines einzelnen geistigen
Vorzugs, sondern in dem höheren einer an Wert und Macht gesteigerten
Gesamtpersönlichkeit. Dem so gefafsten Begriff der aoq>la ist der der
aQe%ri nah verwandt, der in dieser Zeit noch kein ethischer Begriff ist;
nur dafs bei ootpla mehr an das intellektuelle Können, bei agezv, an
Leistung und Erfolg gedacht wird. Das allgemeine Bildungsbedürfnis
ist ein Erzeugnis der attischen Aufklärungsepoche. Es ergreift vorwie-
gend die Staaten mit demokratischer Verfassung. Der Vorrang des pri-
vilegirten Standes ist gebrochen^ für den Wettbewerb aller Bürger um
die Macht freie Bahn geschaffen. Dieser W^ettbewerb erzeugt mit innerer
Notwendigkeit den Trieb nach aoq>la^ als dem nun wichtigsten Mittel,
andern den Bang abzulaufen. Mit diesem Trieb verbindet sich der
Glaube, dafs die aoq>La durch Unterricht und methodische Schulung an-
geeignet werden kann. Früher hatte man den aoq)LaTrjg mit halb be-
wundernden, halb mifstrauischen Blicken angeschaut. Jetzt wagt das
Volk selbst nach dem Kranz der aoqila zu greifen. Dadurch eröffnet
sich dem aoq)iaTTJg eine ganz neue Bahn. Wo Nachfrage ist, bleibt
auch das Angebot nicht aus. Wo ein Bildungsbedürfnis im Volke her-
vortritt^ stellen sich alsbald die Männer ein, die es zu befriedigen ver-
sprechen. Unter dem Druck der Zeit wandeln sich die ooq)La%al^ an
denen es in der griechischen Welt niemals gefehlt hatte, in Lehrer und
Erzieher um.
Wer andern Weisheit mitteilen soll, der mufs selbst Weisheit be-
sitzen. Darum ist es natürlich, dafs der Sophist diesen Anspruch erhebt.
Wer als Erzieher etwas leisten soll, der mufs alle seine Kräfte diesem
schwierigen Berufe widmen. Darum ist es der Sophist, der Lehrer und
Bildungsapostel von Beruf, dem die bildungsdurstige Menge zuströmt.
Wer sein Leben dem Lehrberuf widmet, der mufs auch von diesem
Berufe leben können. Darum fordert der Sophist für seinen Unterricht
Bezahlung. Da der Unterricht reine Privatsache ist und es der Staat
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf nm die Jagendbildong. 7
Doch nicht als seine Aufgabe belrachtet, für die Geistesbildung seiner
Bürger zu sorgen, so bestimmt sich der Preis des Unterrichts, wie der
jeder andern Waare, durch Angebot und Nachfrage.
Natürlich war es vor allem die Jugend, die sich an die Sophisten
anschlofs. Mochte auch der eine oder andere reife Mann eine verspätete
Wifsbegier fühlen, der Hauptnachdruck in der Lchrthätigkeit der Sophisten
fiel naturgemäfs auf den Jugendunterricht. Viele Väter besuchten die
Vorträge der Sophisten, um den geeigneten Lehrer für ihre heran-
wachsenden Sohne ausflndig zu machen, während andere sich grund-
sätzlich ablehnend gegen das neue Unterrichtswesen verhielten und in
den Sophisten nur Verderber der Jugend erblickten. Neben lebhaftem
Bildungsdrang herrschte über Wege und Ziele der Bildung einstweilen
die gröfsle Unklarheit. Wie hätte es auch anders sein können? Noch
bis vor kurzem hatte ein dürftiger Elementarunterricht in Lesen,
Schreiben, Rechnen, Musik als standesgemäfse Ausbildung freigeborner
Knaben gegolten. Die weitere Anleitung für das praktische Leben em-
pfing der Jüngling nicht durch Lehrer von Beruf, sondern durch seine
Angehörigen, die, selbst in der Praxis des Lebens stehend, ihm aus dem
Schatze ihrer Lebenserfahrungen mitteilten. Die Entwicklung des Unter-
richtswesens hatte nicht Schritt gehalten mit dem raschen Culturfort-
schritt. Das liefs sich nicht von heute auf morgen nachholen. Erst
durch längeres Herumtasten und Probiren, wobei es nicht ohne schwere
Mifsgriffe abging, konnten die Erfahrungen gesammelt werden, die zu
' einer dauerhaften und bewährten Gestalt des Unterrichtswesens führten.
Die Begriffe aocpla und ageir waren so allgemein und unbestimmt, dafs
für die Unterschiede individueller Auffassung weiter Spielraum blieb.
Unser Zweck erfordert nicht eine eingehende Darstellung der
mannichfaltigen Erscheinungsformen der Sophistik; es soll nur das
Verhältnis dieser Bestrebungen zu Rhetorik und Philosophie dargelegt
werden. Da ist es denn von vornherein klar, dafs die niedrigste und
hausbackenste Auffassung des Bildungsideals, die von den Lehrern der
gerichtlichen Beredsamkeit vertreten wird, auf den gröfsten Erfolg
rechnen und die weiteste Verbreitung ßnden konnte. Denn täglich
konnte der Bürger einer griechischen Demokratie in die Lage kommen,
Leben und Eigentum vor dem Volksgericht verteidigen zu müssen.
Die Technologie der Gerichtsrede war zuerst in Sicilien ausgebildet
worden. Dort waren die ersten theoretischen Lehrbücher erschienen.
Auf dieser sicilischen Technologie, verbunden mit praktischen Übungen,
beruhte der Unterricht der vulgären Rhetorschule. Wir dürfen an-
i
8 Erstes Kapitel.
nehmen, dals diese Vulgärrhetorik sich schnell in allen demokratischen
Staaten verbreitete. Denn sie vertrat eine Auffassung des Bildungszieles^
die wegen ihrer Beschränkung auf die grobe praktische Nützlichkeit der
Mehrzahl der Menschen einleuchten mufste.
Aber freilich die Höherstrebeoden hielten den Inbegriff von Advo-
catenkniffen , den die Vulgärrhetorik ihren Zöglingen überlieferte, filr
eine traurige Weisheit. Sie beurteilten sie von vornherein, so wie noch
Isokrates in der Sophistenrede.*) Diesen Höherstrebenden schwebte als
Bildungsziel die bürgerliche Tüchtigkeit vor (nohTixfj a^erij). Das war
freilich ein höheres Ideal, aber auch ein unbestimmteres und schwerer
fafsbares. Je nach seinem Charakter konnte es der einzelne mehr im
egoistischen oder mehr im altruistischen Sinne auffassen. Und vollends
herrschte über die Mittel und Wege, durch die man zu bürgerlicher
Tüchtigkeit gelangt, die gröfste| Unklarheit. Jeder Lehrer pries ganz
naiv sein Wissens- und Könnensgebiet als bestes Bildungsmitlel an.
Zu dem Begriff der naidela und Ttokirixii agenj liefs sich ebensogut
die jonische Naturphilosophie in Beziehung setzen, wie die jungeleatische
Eristik, die Synonymik und Etymologie wie die Dichtererklärung und
Genealogie der Heroen. All diese Studienzweige, für die in der frühe-
ren Entwicklung Ansätze vorhanden waren, hatten unmittelbar mit dem
bürgerlichen Leben ftichts zu schaffen. Sie konnten teils als geistige
Gymnastik (formale Bildungsmittel), teils als Bereicherung der Welt- und
Lebensanschauung (materiale Bildungsmiltel) aufgefafst werden. Bei den
bedeutenderen Lehrern tritt naturgemäfs das Bestreben hervor, die ganze
Bildung und W^eisheit ihrer Zeit zu umfassen, in allen Sätteln gerecht
zu sein. Denn die Zeil ist aller fachmännischen Arbeitsteilung abhold.
Ihr Ideal ist der TtoltTtxdg avrjg, der durch seine allgemeine Bildung
den Fachmännern zu gebieten und jeden an seinen Platz zu stellen ver-
steht. Einseitige Fachbildung gilt als banausisch. Mit ihr begnüge sich,
wer das höhere Ziel allumfassender naideia nicht zu erreichen vermag.
Nun ist es ja klar, dafs die Überlegenheit des nohtLxog aviqQ über
die Fachleute nicht darauf beruhen kann, dafs er technische Kenntnisse
1) § 19: ol Ttves ^7tia%ovro 8ixd^ea&ai St^d^sir, ixle^duefot rd Svo'/^eQi-
ararov rßv dvoudratr j ö r&v tp&ovo^Tfov i^yov ijv ^Jyeifj dXX oi r&v nqot-
ari&rtuv rys roiajünjs naideiaeats , xai ra^ra ro€ nQdy/naroSj xad" daov iari
BidoMTÖVy o^dkv juälXov n^ds rois Sucavixabs Xöyovs ^ ngds raie älXove äTiavrae
i&^eXsZv dwauivov, — ixelvoi $^ ini rois nolirtxovs löyovs na^etxcdovvres,
d/u£Xi}aapree rofv älXtov löiv Tt^oaövrojv airots dyaO'ioVj TiolvTi^ayuoaütijs xai
TiXeoveiias ^Tiiarrjaav elvai ^iSdaxalot.
Sopbistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf am die Jugendbildung. 9
der verschiedensten Gebiete in sich vereinigt. Es wird ihm doch in
jedem einzelnen Gebiete der Fachmann überlegen sein. Seine Ober-
legenheit mufs darin bestehen, dafs er das Wissen und Rönnen der
Fachleute für die allgemeine Wohlfahrt in Staat und Gesellschaft auszu-
nutzen versteht. Das ist der eigentliche Inhalt der TtohtiKri a^eri), der
staatsmännischen Fähigkeit. Wie aber wird diese Fähigkeit erworben?
Indem der Gedanke sich verbreitete, dafs auch sie und sie vor
allem Gegenstand des Unterrichts werden müsse, war streng genommen
das Postulat einer ethisch-politischen Wissenschaft gegeben. Es ist cha-
rakteristisch für die eigentliche Sophistik, dafs sie diese Aufgabe nicht
klar erkannt hat. Eine objective Wissenschaft von Staat, Recht und
Sittlichkeit hat sie nicht für möglich gehalten und deshalb statt der
materialen eine blos formale Bildung zur politischen Tugend gegeben.
Es zeigt sich das am deutlichsten bei den beiden hervorragendsten
Sophisten des 5. Jahrb., die auch für die Geschichte der Philosophie
in Betracht kommen, Protagoras und Gorgias. Es ist von der gröfsten
Bedeutung für die Beurteilung der sophistischen Bewegung , dafs auch
diese alle übrigen um eines Hauptes Länge überragenden Männer nicht
eigentlich wissenschaftUche Forscher sind. Der Skeptizismus und Sub-
jectivismus bildet die wissenschaftliche Voraussetzung und Grundlage
ihrer Lehre, aber nicht ihren Kern. Auch bei ihnen liegt der Schwer-
punkt nach der praktischen Seite hin: sie sind in erster Linie als
Lehrer aufzufassen^ die ihre Schüler zur noktTLxij ageri] anleiten
wollen. Rhetorik und Eristik bilden für beide den Inhalt dieser agerrj.
Von ethischen und politischen Dingen kann es ein Wissen überhaupt
nicht geben, weil sie rein conventioneller Natur sind. Der Redner und
Dialektiker ist es, der mit diesen Dingen frei schaltet und waltet. Er
hat die Macht, seine subjective Auflassung von dem was gut, nützlich
und gerecht ist, durch Überredung und Überführung zur allgemeinen
Geltung zu bringen. Diese Macht auch den Schülern zu verleihen, ist
der Zweck des ganzen Unterrichts.
Gorgias hat in seiner Jugend die empedokleische Physik kennen
gelernt und sich als ihren Anhänger bekannt. Auch später hat er wohl,
wenn er auf physikalische Dinge zu sprechen kam, mit empedokleischen
Lehrmeinungen gewirtschaftet. So ist bekanntlich die gorgianische De-
ünition der Farbe im plat. Menon p. 76 c von Empedokles entlehnt.
Dagegen knüpft die Schrift negl cpvaeiog iq neql xov firj ovrog an
Zenon den Eleaten an. Anderseits wissen wir aus dem platonischen
„Gorgias^S dafs Gorgias die Redekunst ausdrücklich als den einzigen
10 Erstes Kapitel.
Gegenstand seines Unterrichts bezeichnete. Dafs er die Lehre des
ziemlich genau gleichaltrigen Empedokles sich aneignete, macht ihn noch
nicht zum Philosophen. Die Schrift 7C€qI q>vO€a}g mit ihrem radicalen
Nihilismus und Skeptizismus widerspricht der empedokleischen Physik.
Sollen wir deshalb verschiedene Entwicklungsperioden des Philosophen
Gorgias annehmen, eine empedokleische und eine eleatische, und ihn
dann erst^ in seinem höheren Alter, auf die Rhetorik sich zurückziehen
lassen? Ich möchte eher glauben, dafs Gorgias von Anfang an in der
Rhetorik seinen eigentlichen Beruf fand und dafs jene philosophischen
Studien zu ihr in einem dienenden Verhältnis standen. Die Unmög-
lichkeit der Erkenntnis, die in der Schrift negl q)vaB(ag bewiesen wird,
bildet die Voraussetzung für die Allgewalt der rednerischen Kunst. Wenn
man beweisen kann^ dafs nichts isU so kann man alles beweisen. Ich
könnte mir denken, dafs Gorgias in derselben Epoche seines Lebens,
die jene nihilistische Schrift zeitigte, doch auch von der empedokleischen
Naturerklarung Gebrauch machte. Wo Sein und Erkennen geleugnet
wird, da bleibt nur die do^a übrig, mit welcher der rednerische Xoyog
nach Belieben schaltet; da wird die Rhetorik (oder Eristik) zum Inbe-
griff der ootpla und a^er?}.
Auf anderem Wege gelangt Protagoras zu demselben Ergebnis. Von
der heraklitischen Physik ausgehend, begründet er, in seinem Buche
^krj&eia ij Karaßolloweg, jene subjectivistische Erkenntnistheorie, die
in dem Satze gipfelt: Ttavrtov ;c^ij^aTW>' fiizQOv av&QiOTCog, rwv fihv
ovTwv wg %oxi, Twv dh fufj ovtwv C(5g ovx botlv. Das heifst, nach
der in diesem Falle wirklich mafsgebenden Erklärung Piatos imTheaetet:
Wie die Dinge mir erscheinen, so sind sie auch für mich, und wie sie
dir erscheinen, so sind sie für dich. Durch diese Lehre werden die
Begriffe Irrtum und Wahrheit aufgehoben. Es bleiben wiederum nur
die do^ai, die subjectiven Vorstellungen übrig, die alle untereinander
gleichberechtigt und weder wahr noch falsch sind. Wenn nun der-
selbe Protagoras als Henschenerzieher auftritt und seine Hörer in der
TcoXiTixTi aQetri auszubilden verspricht, so kann unter dieser wiederum
nichts andres verstanden werden, als die Fähigkeit, sei es in zusammen-
hängender Rede, sei es in Frage und Antwort, nach Belieben die Ding<'
so oder so erscheinen zu lassen. Auch hier ist das, was philosophisch
ist an der Lehre des Protagoras, die skeptische Erkenntnistheorie, nicht
ihr eigentlicher Kern, sondern nur der Unterbau für die rhetorische
und eristische Kunst.
Betrachtet man beide Männer in dem geschichtlichen Zusammen-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf nm die Jagendbildang. 11
hang, dem sie angehören, so wird man nicht geneigt sein, das philo-
sophische Element in ihrer Lehre als das beherrschende anzusehen.
Philosophie und Rhetorik sind bei ihnen so innig mit einander ver-
quickt, dafs keines der beiden Elemente zu voller Ausgestaltung kommt.
Sie beschränken nicht ihre Lehre auf die Form der Rede, wie die
eigentliche Rhetorik; sie sind auch nicht wissenschaftliche Forscher,
denen die Erkenntnis der Wahrheit höchster Zweck ist. Sondern Form
und Sache, Philosophie und Rhetorik, fliefsen bei ihnen unterschiedslos
in einander. Sie sind sich selber nicht bewufst, zwei unterschiedene
Dinge zu vermischen. Sie glauben eine einheitliche aoq>la zu besitzen
und zu lehren. Denn einheitlich ist der Zweck ihrer Bestrebung: die
Macht in Staat und Gesellschaft durchs Wort zu wirken. Fragt man
nun, welcher der beiden mit einander verwachsenen Zwillinge am
meisten beeinträchtigt und in der freien Entfaltung seines Wesens ge-
hemmt ist, die Wissenschaft oder die Redekunst, so kann die Antwort
nicht zweifelhaft sein.
Wir haben die beiden Männer betrachtet, die alle übrigen Sophisten
an geistiger Bedeutung weit überragen und noch am ersten beanspruchen
können, als Philosophen zu gelten. Bei der Mehrzahl wird der philo-
sophische Gehalt noch weit geringer gewesen sein. Es ist damit natür-
lich nicht gesagt, dafs nicht auch der Ausdruck (ptXoaocpla auf diese
Bestrebungen angewandt wurde. Der Gebrauch von fptXoaofpeiv und
(pLkoooq>la bei Isokrales macht den Eindruck, dafs diese Ausdrücke
zur Bezeichnung höheren Bildungsstrebens längst allgemein üblich
waren. Die Sophisten schrieben sich ursprünglich den Besitz der
aoq)la zu. Wer sich bei ihnen in die Lehre gab, bekundete dadurch
den Wunsch, selbst aocpog zu werden. Sein Studium konnte kaum
treflender bezeichnet werden, als mit den Worten: ipikoaofpelv und
(piloaoq)la. Es wäre merkwürdig, wenn während der langen Zeit,, in
der dieses Streben viele Tausende von Männern und Jünglingen be-
seelte, der einzig dafür zutreffende Ausdruck nicht geprägt worden
wäre. Bei den Sokratikern hat er eine ganz veränderte Bedeutung be-
kommen, weil sie den Begriff der aoq>la selbst vertieften.
Gorgias ist in erster Linie Rhetor. Auch eine rixvrj hat er ge-
schrieben.') Nur vereinzelt, wie in der Schrift. /re^i cpvaeiog, hat er
sich auf dem Gebiet der Eristik versucht. Seine Rhetorik unterscheidet
1) Vgl. darüber jetzt A. Gercke die alte Tix^ ^tjTo^ixt} und ihre Gegner
Hermes XXXIl.
12 Erstes Kapitel.
sich dadurch von der Vulgärrhetorik, dafs er sich Dicht auf die Gerichts-
rede beschränkt, sondern vor Allem auch zur politischen Beredsamkeit
erziehen wilL Das zeigen seine Reden in der olympischen und pythi-
schen Festversammlung , die zwar dem yivog navrjyvQinLov angehören,
aber die Richtung seines Unterrichts auf die Staatsberedsamkeit erweisen.
Er ist in dieser Beziehung durchaus der Vorläufer seines Schülers Iso-
krates. Neben den grofsen ImdBl^ug politisch-symbuleutischen Inhalts
verfafst er Ttalyvia^ d. h. Reden, die an einem willkürlich gewählten
und an sich bedeutungslosen Gegenstand die formale Kunst des Redners
zur Schau stellen und zugleich dem Hörer oder Leser Unterhaltung
bieten sollen. Hauptsächlich sollen diese nalyvta die sophistische Kunst
des Lobens und Tadeins in Musterstücken veranschaulichen: die Macht
der Rede, das kleine grofs, das grofse klein, das gute bös, das böse gut
erscheinen zu lassen. Die sogenannten ado^oi vrto&ioeig bieten die
beste Gelegenheit, für diese Kunst des Redners Reclame zu machen.
Wenn auch die erhaltenen Declamationen, die diesem Genre angehören,
nicht echt sein sollten — durchschlagende Gründe gegen die Echtheit
sind niemals vorgebracht worden — so könnte doch nicht bezweifelt
werden, dafs Gorgias nalyvia verfafst und ado^oi vno^ioeig behandelt
hat Isokrates spricht sich geringschätzig über diese Gattung aus, hat
sich aber doch nicht enthalten können mit <]er Helena und dem Busiris
dieses Gebiet zu betreten. Wir dürfen, annehmen, dafs dies im eigent-
lichen Sinne epideiktische Genre von allen ^rjroQtxol aotpiaral cultivirt
wurde. Auch Lysias hat es ja gepflegt.
Neben der Beweisführung hat Gorgias auch die elocutio zuerst kunst-
mäfsig ausgebildet. Sein Streben ist, eine Kunstprosa zu schafi*en, die
an Formschönbeit und an Wirkung auf das menschliche Gemüth mit
der dichterischen Darstellung wetteifern kann. Daher in der Wortwahl
die Vorliebe für noitjTixa ovofxara^ daher die FoQyleia ax^f^ccta, die
den antithetischen Charakter der Darstellung auch im Klange zum Aus-
druck bringen. Die laoxwXa^ nagioa, ofiotOTikevra u. s. w. dienen
nicht allein, die vom Gedanken geforderten Parallelismen und Gegen-
sätze zum klanglichen Ausdruck zu bringen, sie beeinflussen auch ihrer-
seits die Ausprägung der Gedanken, indem der Klangschönheit zu Liebe
Gegensätze und Entsprechungen in den Gedanken hineingetragen werden,
die nicht aus seiner inneren Beschaffenheit entspringen.
Die Lehrthatigkeit des Protagoras ist uns weit weniger bekannt, als
die des Gorgias. Aber wir dürfen uns nicht durch die Zufälligkeit der
Oberlieferung beirren lassen, welche uns nur über seine Erkenntnis-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie Iq ihrem Kampf am die Jugendbildong. 13
theorie genauere Nachrichten aufbehalten hat. Der durch sie erweckte
Eindruck, als ohProtagoras selbst in der Vertretung dieser subjectivistischen
Erkenntnistheorie seine Hauptaufgabe erblickt hätte, ist sicherlich falsch.
In dem Cursus bürgerlicher Tüchtigkeit, für den er 100 Minen Honorar
verlangte, wird die Erkenntnistheorie nur eine Nebenrolle gespielt haben.
Mag er auch für die Geschichte der Philosophie durch sie aliein Be-
deutung haben, vom allgemein geschichtlichen Standpunkt ist sie nicht
die Hauptsache. Dafs der teure Cursus zu einem praktisch brauch-
baren Ergebnis führen mufste, ist einleuchtend. Konnte dies den ganzen
Verhältnissen nach ein anderes sein, als Fertigkeit im Reden und Dis-
putiren über ethische und politische Gegenstände? Nach Plato Phaedr.
p. 267C hat Protagoras aufser einer 'O^^o^/rcto noch vieles andere für
die Rhetorik geleistet.
Das Gesagte beweist wohl genügend, dafs von Protagoras und
Gorgias das durch das Bildungsbedürfnis der Zeit aufgestellte Postulat
einer ethisch-politischen Wissenschaft nicht erfüllt wurde, dafs vielmehr
ihre aoq)la, von der Leugnung der Wissenschaft ausgehend, in redneri-
scher oder elenktischer Kunst gipfelte. Von beiden kann gesagt werden
ori %d elxog hlfxrjaav avrl %ov alrj&ovg. Wie sollten wir minder
bedeutenden Vertretern der Sophistik die weltgeschichtliche That der
Begründung einer Staats- und Gesellschaftswissenschaft zutrauen? Die
politischen Fragen waren in Folge des leidenschaftlichen Parteikampfes
ein Gegenstand allgemeinen Interesses. Es konnte nicht ausbleiben,
dafs die Staatsformen und die politischen Institutionen auch theoretisch
auf ihren Wert oder Unwert geprüft wurden. Natürlich haben auch
die Sophisten, welche zur noliTixt aQsrri erziehen wollten, schrift-
stellerisch und in ihren Lehrvorträgen, diese Fragen behandelt. Aber
sie haben nicht Systeme der Staatslehre errichtet auf dem Grunde
rationeller Weltanschauung oder empirischer Beobachtung des Staats-
lebens — sie haben nur für den im Parteileben vorhandenen Gegensatz
der. Meinungen den dialektischen und rhetorischen Ausdruck entwickelt.
Ein im Sinne der Sophistik gebildeter Mann, wie Euripides, ist im
Stande, den entgegengesetzten politischen Auffassungen Worte zu leihen.
Das geht aus Dümmler's interessanter Zusammenstellung deutlich hervor.')
Ebenso weifs Isokrates im Nikokles das Lob der Monarchie nicht minder
beredt zu singen, als er im Panegyricus die Demokratie verherrlicht.
Auf dem Gebiete der Individualelhik ist ebensowenig vor Sokrates
1) Prolegomena za PlatoD's Staat, Basel 1891.
14 Erstes Kapitel.
an wissenschaftliche Forschung zu denken. Wie die Sophistik des
5. Jahrh. ethische Fragen behandelte, veranschaulichen die Bruchstücke
Antiphons negl o^ovolag. Der Sophist folgt anscheinend in seiner Dar-
stellung dem Gange des menschlichen Lebens. Für jedes seiner typischen
Stadien giebt er in gewählter blumenreicher Sprache nUtzUche Lehren
der Lebensklugheit. Aneinanderreihung von Gnomen, nicht zusammen-
hängende Gedankenentwicklung war bis auf Sokrates die übliche Form
ethischer Darstellungen. Auch die Ethika des Demokritos scheinen noch
den Charakter der Spruchweisheit gehabt zu haben.
Auch wenn es nicht ausdrücklich bezeugt wäre, würden wir an-
nehmen, dafs diese Zeit die rednerische Improvisation besonders hoch-
schätzte. Das Ideal der aotpLa, welches das ganze sophistische Treiben
beherrscht, schien nur da verwirklicht, wo sich die PersönUchkeit allen
auch unvermuthet an sie herantretenden Anforderungen des Lebens ge-
wachsen zeigte. Weder im Privatleben noch vor Gericht noch in Volks-
versammlung und Rath konnte man ohne improvisatorische Schlag-
fertigkeit auskommen. Die Lehrer der aotpLa mufsten also vor allem
diese Fertigkeit bei sich selbst ausbilden. So tritt uns denn auch in
den platonischen Schilderungen der Sophisten dieser Zug deutlich ent-
gegen. Gorgias macht sich anheischig, auf jede aus der Versammlung
an ihn gerichtete Frage sofort aus dem Stegreif zu antworten; und
Protagoras beantwortet die Fragen des Sokrates in langen wohlgesetzten
Stegreifreden. Aber sobald an die künstlerische Durchbildung des Stils
gesteigerte Anforderungen gestellt wurden, mufste neben dem ursprüng-
lichen Ideal schlagfertiger Stegreifrede ein neues, von ihm verschiedenes
und in seiner höchsten Steigerung nicht mehr mit ihm vereinbares
rednerisches Ideal entstehen : die axglßeia. Während Gorgias offenbar
beide Gattungen, die sorgfältig ausgearbeitete und die extemporirte Rede
neben einander mit gleicher Virtuosität handhabte, sehen wir bei seinen
Schülern, Isokrates und Alkidamas, den Unterschied der Gattung zu einem
Schulgegensatz führen. Der eine vertritt das Ideal der axQlßeia mit
solcher Einseitigkeit, dafs er die Fähigkeit für die Stegreifrede darüber
einbüfst, der andere hält an dem alten Ideal der Schlagfertigkeit fest
und möchte es nicht für die Vorzüge des gefeilten Stils dahingehen.
Beide Richtungen haben sich durch die Jahrhunderte hindurch mit
wechselndem Erfolge neben einander erhalten, und noch der Rhetor
Aristides führt mit seinen Gegnern denselben Kampf.
Im 5. Jahrh. führen die bedeutendsten Sophisten ein Wander-
leben. Leute wie Gorgias und Protagoras ziehen von einer Stadt zur
Sophistik, Rhetorik, Philosophie Id ihrem Kampf um die Jogendbildung. 15
anderD; von jenem sagt Isokrates ausdrücklieb, er habe keinen festen
Wobnsitz gehabt und deshalb in keiner Gemeinde zu Steuern heran-
gezogen werden können.') Die verschiedensten Gründe wirkten hierbei
zusammen. Da sie nur persönlich und gegenwärtig ihre aoq)la ent-
falten konnten, so mufste schon das Streben nach panhellenischem Ruhm
sie wanderlustig machen. Auch die von Isokrates angedeutete Rück-
sicht auf die Communalsteuern mochte mitsprechen. Wenn Gorgias
irgendwo unter starkem Zulauf seine Rhetorikvorlesung gehalten und
sein Honorar eingestrichen hatte, so konnte er sie nicht gleich am selben
Orte widerholen. Daraus darf man wohl schliefsen, dafs ein solcher
Cursus nicht von langer Dauer war. Sonst hätte nach seiner Beendigung
ein neuer Jahrgang von Schülern den vorigen ablösen können. So war
es nicht: die ganze nach solcher Unterweisung begierige Altersklasse
hatte den Cursus mitgemacht. Es wäre vorläuQg auf eine gleich zahl-
reiche Zuhörerschaft nicht zu rechnen gewesen. Indem nun der Unter-
richt im Laufe der Entwicklung an Reichthum des Inhalts und damit
auch an Zeitdauer wuchs, schwand ein Hauptgrund für die unstäte
Lebensweise der Sophisten. Sie wurden sefshaft und gewöhnten sich,
jahraus jahrein ihren Lehrcurs in derselben Stadt zu wiederholen; denn
wenn sie ihn einmal zu Ende geführt hatten, war schon wieder Nach-
frage vorhanden. Diese Entwicklung wurde unterstüzt durch das im
Publicum immer weiter verbreitete und immer fester sich einwurzelnde
Bedürfnis nach solchem Unterricht. Anfangs hatten nur die fortschritt-
lich gesinnten nach dem neuen Bildungsmittel gegriffen. Allmählich
war es in Aufnahme gekommen, sodafs jede bedeutendere Stadt einem
oder mehreren solchen Lehrern dauernd auskömmlichen Erwerb ge-
währte. So entwickelt sich aus den Cursen der Wanderlehrer die orts-
ansässige Schule mit fester Tradition. Daneben blieb immer noch
Raum genug für die Wanderlehrer. Das Publicum lauschte gern dem
fremden Redner, von dessen Weisheit Fama berichtet hatte; und man-
cher Lehrer fühlte sich durch Sinnesart und Begabung mehr auf rha-
psodische Lehrweise hingewiesen. So war für den geschickten Steg-
reifredner, der mehr augenblicklichen Erfolg als tiefer gehende Wirkung
anstrebte, das Wanderleben nach wie vor am geeignetsten. Auch liefs
sich für neue Gedanken so am besten Propaganda machen, zumal wenn
sie für die breite Masse des Volkes bestimmt waren, die wenige oder
1) Uocr. Antid. § 156 nöXiv S^ (roSeuiav naranayiios oixijaas <rb8ä ne^i rd
KOivä danavri&els oiS tiatpoqäv liaereyxfZv Avayxaa&tis etc.
16 Erstes Kapitel.
gar keine Bücher liest. Es erhielt sich daher die Zunft der Reisepre-
diger und Wanderredner auch nach der Entstehung ortsansässiger Schulen.
Die Sophistik des 5. Jahrh. ist hauptsächlich charakterisirt durch
ihre formale Eigentümlichkeit als Rhetorik und Eristik; und wir hören
nicht, dafs diese zwiefache Methode zu einem principiellen Gegensatz
innerhalb der Sophistik geführt hätte. Mochte auch der eine in Frage
und Antwort, der andere in zusammenhängender Rede sich leichter be-
wegen, die ganze aoqfla besafs doch nach der Anschauung der Zeit
nur, wer beides konnte. An die Eristik hat Sokrates angeknüpft, aus
ihr hat er seine Methode der Begriffsforschung entwickelt. Dafs er den
zusammenhängenden Lehrvortrag verwarf und gegen alle Rhetorik sich
ablehneud verhielt, mufste den Zeitgenossen als eine auffällige Besonder-
heit erscheinen. In seiner GesprächfUhrung dagegen galt er ihnen ein-
fach als Eristiker. Es entging ihnen der Unterschied, welcher darin
lag, dafs Sokrates nicht aus Rechthaberei disputirte, um persönliche
Triumphe des Scharfsinns zu feiern, sondern um die Wahrheit an's Licht
zu stellen. Sokrates überwand den Skeptizismus und Subjectivismus,
der die sophistische Bewegung beherrschte und von den Häuptern der
Sophistik auch wissenschaftlich formulirl worden war. Der gesunde und
natürliche Glaube, dafs es auch auf dem sittlichen Gebiete allgemein
gültige Wahrheiten giebt und dafs also eine Wissenschaft von den mensch-
lichen Dingen möglich ist, bildete die Voraussetzung seiner Forschungen.
Die dialektische Methode benutzte er, um aus dem Denken der Menschen
das subjectiv willkürliche und als solches irrtümliche auszuscheiden,
und um das allgemein und notwendig von uns gedachte und als solches
wahre zu ermitteln.
Es ist hier nicht erforderlich, die EigentümUchkeit der sokratischen
Methode genauer zu untersuchen oder auf die schwierige Frage nach
dem positiven Gehalt von Sokrates' Lehre einzugehen. Wichtig für
unsern Gedankengang ist nur die unbestreitbare Wahrheit, dafs erst
durch Sokrates die von Protagoras und Gorgias geleugnete Möglichkeit
einer ethisch-politischen Wissenschaft nachgewiesen und zu ihrer Aus-
bildung ein gangbarer Weg eingeschlagen wurde. Das Postulat einer
solchen Wissenschaft, wie schon gesagt, lag in dem Bildungsbedürfnis
der Zeit, das einen Unterricht in der TtohTxfj agerri forderte. Diese
aQetri kann nur dann lehrbar sein, wenn sie auf einem Wissen beruht.
Ist dies der Fall, wie Sokrates glaubt, so ist die Aneignung dieses Wissens
der einzig möghebe Weg zur aQ^rrj. Die wahre Erziehung kann nur
auf Wissenschaft beruhen, und zwar auf der praktischen Wissenschaft,
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jogendbildung. 17
die uns über die Aufgabe unseres Lebens und über die Mittel und
Wege zur Erfüllung dieser Aufgabe belebrL Nur der ist aotpog, der
diese Wissenschaft besitzt. Eine aoq>ia^ die durch dialektische Ober-
führung genötigt werden kann, sich selbst zu widersprechen und ihr
Nichtwissen einzugestehen, verdient diesen Namen nicht. Das wahre
Wissen, das sich gegen alle Einwürfe behauptet und den widerwilligsten
Gegner zur Anerkennung zwingt, entspricht allein dem intellectuellen
Ideal {aoq)la). Das praktische Ideal (aQeri^) ist untrennbar mit ihm
verbunden. Wo das rechte Wissen ist, da versteht sich das rechte
Handeln von selbst.
Die Ideale der Sophistik, aoq>la und agerrjj werden von der Sokratik
vertieft und geläutert und damit auch dem Bildungs- und Erziehungs-
wesen neue Wege gewiesen. Nicht als gelehrter Forscher mit rein
theoretischem Interesse ist Sokrates an die ethischen Fragen heran-
getreten, sondern als Erzieher. Die Jünglinge, die sich ihm anschlössen^
zu tüchtigen Mannern zu erziehen^ war der Zweck seiner Wirksamkeit.
In dieser Hinsicht gehört er ganz zur Sophistenzunft. Aber in seiner
Erziehungsmethode ist die Wissenschaft Anfang und Ende, Weg und
Ziel zugleich. Es wäre ein grobes Mifsverständnis, wenn man sagen
wollte: er trieb Wissenschaft um des praktischen Zweckes willen. Er
verwirft die Beschäftigung mit Naturphilosophie, weil es ihm thöricht
scheint, das Fernliegende und vielleicht Unerforschliche ergründen zu
wollen, ehe wir über das Nächste und Notwendigste, über die mensch-
lichen Dinge, im Klaren sind. Aber die Erkenntnis, die er sucht, ist
ihm nicht blofs ein Mittel zum Zwecke richtigen Handelns; er unter-
scheidet nicht das theoretische und das praktische Ideal, um das eine
in den Dienst des andern zu stellen, sondern beide sind ihm ein und
dasselbe. Die Wissenschaft ist selbst unsre höchste Aufgabe; dafs ihr
die Kraft innewohnt, auch unser Leben und Handeln zu bestimmen,
gilt ihm als selbstverständhch.
Nach der Anschauung des Volkes war Sokrates ein aocpiüxrig (Aesch.
I 172). Er selbst wie« diesen Namen weit von sich. Denn er behauptete
nicht, im Besitze des Wissens zu sein. Diesen Anspruch kann nur erheben,
wem der Begriff der Wissenschaft in seiner Erhabenheit und Unendlich-
keit noch nicht aufgegangen ist. Dafs schon Sokrates dem Wort ^^e-
loaoq>la die Bedeutung beigelegt hat, die ihm für immer geblieben ist,
wird sich zwar kaum exact beweisen bssen, ist aber doch sehr wahr-
scheinlich, weil die veränderte Bedeutung sonst kaum so allgemeine
Verbreitung gefunden hätte. 0il6aoq>og ist nach diesem neuen Sprach-
▼. Arnim, Dio. 2
18 Erstes Kapitel.
gebrauch nicht mehr der bescheidene Name des eifrigen Studiosus;
mit stolzer Bescheidenheit nehmen ihn die wissenschaftlichen Forscher
und Lehrer selbst für sich in Anspruch. Isokrates gebraucht den Aus-
druck noch in seiner ursprünglichen Bedeutung. Seine Anwendung der
Worte (piXoaoq)€iv = yfSiud\ren^ und (pikoaoq>ia^=^ „Studium^ zeigt keine
Einwirkung der Sokratik; noch viel weniger ist in ihr eine persönliche
Überhebung des Isokrates zu erkennen. Auf Grund des vorsokratischen
Sprachgebrauchs halte er das unbestreitbare Recht sich so auszudrücken.
Er nennt sich selbst, soviel ich sehe, niemals q)ilcooq)og, kennt dieses
Wort überhaupt nicht als Bezeichnung eines Lebensberufes. Schwer-
lich hatte er etwas dagegen einzuwenden, dafs man ihn oocpiOTtig
nannte. Bei Piaton dagegen werden die Begriffe (piXoooq^og und ao-
(pioxris in scharfem Gegensatze zu einander ausgebildet: oocpioxrig
wendet er ausschliefslich an für die Vertreter der von ihm bekämpften
Richtung des Unterrichtswesens, q)ik6oo(fog ist das Schlagwort für sein
eigenes Ideal in Lehre und Leben. Diese Umprägung der Ausdrücke
hat Epoche gemacht. Es ist aber nicht ganz leicht festzustellen, wann
und in welcher Weise der Wandel des allgemeinen Sprachgebrauches
eingetreten ist« Erst nachdem die Scheidung der geistigen Bestrebungen
sich klar und in einer auch dem Volke verständUchen Weise vollzogen
hatte, konnte der Sprachgebrauch diese Scheidung zum Ausdruck bringen.
Es mufs scharf unterschieden werden zwischen der Selbstbenennung
der einzelnen Lehrer, der Benennung, die sie auf andre ihnen ähnliche
oder unähnliche Lehrer anwenden, den im Publicum für die Lehrer
verschiedener Richtung üblichen Ausdrücken, und endlich der Bezeich-
nungsweise, die nach unsrer Meinung den geschieb llichen Sachverhalt
am Besten zum Ausdruck bringt.
Durch Sokrates war, wie wir sahen, ein neues höheres Bildungs-
ideal dem alten gegenübergestellt worden. Es ist begreiflich, dafs im
Publicum nicht gleich volle Klarheit über den principiellen Gegensatz
der alten und der neuen Methode vorhanden war. Erst Piaton hat
diesen Gegensatz scharf und klar herausgearbeitet und seine Anerkennung
von Seiten der öffentlichen Meinung zwar nicht endgültig durchgesetzt,
aber doch vorbereitet, in der sophistischen Lehr- und Erziehungs-
methode war das stofTliche von dem formalen Element unterdrückt und
überwuchert worden. Sie war von der Ansicht ausgegangen, dafs eine
Erkenntnis von der wahren BeachalTenhcit der Dinge für den 7co)uTUüg
avriQ nicht erforderlich sei. Sie hatte geglaubt, eine formale Bildung
in Rede und Disputation geben zu können, ohne wissenschaftliche Er-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie ia ihrem Kampf um die Jogendbildung. 19
kenntnis von den Dingen selbst. Piaton dagegen behauptet, dafs for-
male Bildung ohne wissenschaftliche Erkenntnis unmöglich sei. Die
Methode des wissenschaftlichen Erkennens ist die Dialektik. Weder ist
Erkenntnis möglich auf anderem als dem dialektischen Wege, noch
kann man die dialektische Methode in formell einwandfreier Weise
handhaben, ohne wissenschaftliche Erkenntnis zu erstreben und zu er-
reichen. Formale und materiale Bildung sind ein und dasselbe. Die
Wissenschaft vereinigt beide in der rechten Weise. Die rechte Form
und der rechte Inhalt können nur zusammen angetroffen werden.
Hieraus crgiebt sich Plato's Stellung zu der sophistischen Rhetorik
undEristik. Wenn die sophistische Rhetorik sich anheischig macht, ohne
selbst von dem wahren Wesen der Dinge ein Wissen zu besitzen^ das
grofse klein, das kleine grofs darzustellen und jede beliebige Oberzeugung
und jeden beliebigen Affect nach ihrem Gefallen in den Seelen der Hörer
hervorzurufen, so ist dies nicht etwa nur ein verderblicher Mifsbrauch
der Rede: es ist schlechthin unmöglich. Selbst den trügerischen Schein
der Wahrheit kann man nicht erzeugen ohne Wissenschaft, selbst die
Erregung von Hitleid oder Zorn in den Seelen der Hörer ist ohne ein
Wissen von der menschlichen Seele unmöglich. Von der Philosophie
und Politik ist die Rhetorik ganz verschieden, da sie nicht auf Wahr-
heit, sondern auf Schein ausgeht. Nichts destoweniger ist ihre volle
Ausbildung auch nur auf philosophischer Grundlage möglich. Plato
hat die Ausbildung der rhetorischen Theorie und Technik nicht als
seine Aufgabe betrachtet und niemals rhetorischen Unterricht erteilt.
Aber praktisch hat er auch in der Schönheit der Rede mit den Red-
nern gewetteifert. Denn er hat in seinen Schriften neben der streng
wissenschaftlichen Darstellungsweise auch die künstlerische angewandt,
eine hinreifsende Beredsamkeit, die auf Gefühl und Phantasie des Lesers
wirkt. Diese Beredsamkeit quillt aus dem Innersten einer von den
wissenschaftlichen Gedanken begeisterten Persönlichkeit. Sie steht nicht
im Mittelpunkt seiner Bestrebungen. Sie ist nur ein Nebenprodukt der
wissenschaftlichen Forschung. Aber Piaton ist sich bewufst gewesen,
auch in dieser Hinsicht seine Gegner weit zu übertreffen.
Ähnlich ist das Verhältnis der platonischen Dialektik zur sophis-
tischen Eristik. Ganz abgesehen von ihrer Bedeutung als Werkzeug
der Erkenntnis, ist sie der Eristik in formeller Hinsicht überlegen.
Selbst wenn man in der Disputation kein anderes Ziel verfolgt als den
Sieg, die Behauptung der eignen, die W'iderlegung der gegnerischen
These, verleiht die Erkenntnis von den Gesetzen des begrifflichen
2*
20 Erstes Kapitel.
Denkens, auf der die dialektische Methode beruht, eine unbedingte
Überlegenheit. Ja selbst in dem Kunststück, entgegengesetzte Behaup-
tungen in gleich zwingender Weise zu beweisen und zu widerlegen, hat
Piaton im Parmenides die Eristiker überboten.
Vom geschichtlichen Standpunkt müssen wir Piaton zugestehen,
dafs das von seinem Lehrer und ihm geschaffene Bildungsideal seinem
inneren Wesen nach von dem sophistischen verschieden war. Die spä-
tere Entwicklung bestätigt durchaus diesen sokratisch-platonischen An-
spruch. Auf der einen Seite Schein Weisheit und sogenannte formale
Bildung, auf der andern Seite Philosophie d. h. Wissenschaft. Aber
für die Zeitgenossen, die weniger das innere geistige Wesen dieser Be-
strebungen, als ihre praktische Bedeutung beachteten, waren nicht nur
Sokrates und Protagoras, sondern auch Piaton und Isokrates Männer
derselben Berufsklasse. Für die Eltern, die auf die geistige Ausbildung
ihrer Söhne bedacht waren, stand die platonische Akademie neben den
zahllosen anderen diargißal als ein nur durch seinen Lehrplan unter-
schiedenes Erziehungsinstitut. Nur wenn man sich das klar macht,
versteht man die Rivalität der beiden Männer und überhaupt den Rang-
streit der Philosophie und der Rhetorik, der hier zuerst entsteht, um
dann in mannichfach veränderter Weise die folgenden Jahrhunderte hin-
durch bis in die römische Zeit hinein fortzudauern.
Um ein richtiges Bild von dem höheren Unterrichtswesen des
4. Jahrb. zu gewinnen, müssen wir neben Piaton auch die anderen
sogenannten Sokratiker beachten. Wie stehen sie zu dem von Sokrates-
Platon entwickelten Gegensatz von Sophistik und Philosophie? Es ist
klar, dafs für sie dieser Gegensatz bei weitem nicht in der Schärfe be-
steht, wie für Piaton. Sie heifsen Sokratiker, weil sie auch den Sokrates
zum Lehrer gehabt und weil sie sokratische Dialoge geschrieben haben.
Aber das ist kein genügender Grund, sie der Sophistik gegenüber zu
einer geschichtlichen Einheit zusammenzufassen. Es wäre an sich sehr
wohl denkbar, dafs einige von ihnen, obwohl sie Sokratiker sein wollten
und sokratische Dialoge schrieben, das Wesentliche in der Lehre des
Sokrates nicht fortgepflanzt hätten und dafs ihre Lehre und Wirksamkeit
als Ganzes betrachtet, ungeachtet des sokratischen Einflusses, sich viel-
mehr in der alten Bahn des sophistischen Unterrichts weiter bewegte,
als in der neuen sokratisch- platonischer Wissenschaft. Prüfen wir aus
diesem Gesichtspunkt kurz die wichtigsten der „unvollkommenen**
Sokratiker.
Der einzige Sokratiker aufser Piaton, von dem uns Schriften er-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie ia ihrem Kampf um die Jugendbild ang^. 21
halten sind, ist kein Lehrer gewesen, weder im alten noch im neuen
Sinne. Xenophon ist weder ao^iarrig noch im platonischen Sinne
q>iX6aoq>og.
Da er weder Lehrer von Beruf noch wissenschaftlicher Forscher
ist, so dürfen wir ihn hier ganz beiseite lassen. Seine Darstellung des
Sokrates in Memorabilien und Symposion ist ebensowenig wie bei den
übrigen Sokratikern eine geschichtlich treue. Auch er betrachtet den
sokratischen Dialog als eine Kunstform für die Darstellung seiner eignen
Ansichten. Aber da er kein selbständiger philosophischer Denker ist,
so hat er auch keine selbständige Auffassung von dem Wesen der
Sokratik, sondern giebt teils das von Sokrates gehörte in äufserlicher
und oberflächlicher Weise wieder, teils zeigt er sich von den Auffassun-
gen bedeutenderer Hitschüler, namentlich des Antisthenes, beeinfiufst.
Dals in Sokrates' Lehre die Keime einer ethisch - politischen Wissen-
schaft enthalten waren, hat er nicht begriffen.
Eine ähnliche Stellung nimmt Aischines zur sokratischen Lehre
ein. Er gilt als besonders treuer Schüler des Sokrates. Seine Dialoge
scheinen mehr als die seiner Mitschüler die Weise des wirklichen So-
krates abgespiegelt zu haben. Aber alles, was wir sonst von ihm
wissen, zeigt, dafs er durch sein Verhältnis zu Sokrates nicht in einen
grundsätzlichen Gegensatz zur Sophistik trat. Seine Dialoge wurden
vor allem wegen ihrer stilistischen Schönheit bewundert. Am Fürsten-
hofe zu Syrakus hält es Piaton unter seiner Würde, sich mit ihm ein-
zulassen, während Aristippos ihn mit dem Fürsten bekannt macht. Für
die Überreichung einiger Dialoge wird er von Dionysios durch Geschenke
belohnt. Nach Athen zurückgekehrt, heifst es, habe er nicht gewagt,
eine Schule zu errichten (ßrj rokfiäv aoq>iatev€iv)y wohl aber gegen
Bezahlung öffentliche Vorträge gehalten, auch das Gewerbe eines Logo-
graphen betrieben. In dem bei Athenaeus XIII 611 D erhaltenen
Bruchstück der lysianischen Rede wird er natürlich als aoqfiaz'qg be-
zeichnet. Auch gab es aufser den Dialogen Reden von ihm, die Nach-
ahmung des Gorgias verrieten. Er unterscheidet sich also in nichts
von dem vulgären Sophistentypus, obgleich er als treuster Schüler des
Sokrates gilt. Als Lehrer, als Logograph, am Fürstenhofe, weifs er
seine aoq>ia lucrativ zu verwerten. Ein Philosoph im platonischen
Sinne, ein wissenschaftlicher Forscher, wie wir sagen würden, ist er
sicherlich nicht gewesen.
Bei Eukleides von Megara scheint die Sache erheblich anders zu
stehen. Vor allem die Überlieferung, dafs auch Piaton nach dem Tode
22 Erstes Kapitel.
des Sokrates sich zu ihm nach Megara begab, legt die VermutuDg nahe,
dafs damals wenigstens die beiden in ihrer Auffassung des Sokrates
und seiner Lehre nicht grundsätzlich von einander abwichen. Auch
die Einführung des Eukleides im Rahmengespräch des Theaetet deutet
noch auf ein freundliches Verhältnis der beiden. Wir wissen sehr
wenig sicheres über Eukleides' Lehre. Aber die Zellersche Annahme
einer „megarischen Ideenlehre'' ist unhaltbar; sie beruht auf unrich-
tiger Interpretation des bekannten Abschnitts im „Sophistes'^ und steht
mit sicher bezeugten und durchaus glaubwürdigen Nachrichten über
Eukleides' Lehre in Widerspruch. Damit f^Ut der Hauptpunkt, in dem
man eine Annäherung an Piaton erbhcken könnte. Wir wissen dafs
die Lehre des Eukleides eine durch sokratischen Einflufs bedingte
Hodification der eleatischen Alleinslehre darstellte. Dafs das eine wahr-
haft Seiende des Parmenides hier als ayad'ov angesprochen wird,
welches wir unbeschadet seiner Wesenheit bald Gott, bald Vernunft,
bald Einsicht u. s. w. nennen, darin zeigt sich die ethische Gedanken-
richtung der Sokratik. Aber es zeigt sich auch deutlich, dafs nicht die
sokratische Lehre, sondern die eleatische für Eukleides grundlegend und
richtunggebend gewesen ist. Er ist offenbar mit Sokrates erst bekannt
geworden, als ihm die Wahrheit der eleatischen Ontologie bereits fest-
stand. Bezeichnend ist namentlich, dafs von ethischen Lehren der
Megariker nirgends die Rede ist. In der weiteren Entwicklung der
Schule wird bekanntlich ausschliefslich das negativ -dialektische oder
eristische Element ausgebildet, von dem sie auch ihren Namen erhält.
Man darf also die megarische Lehre nicht als eine von Sokrates aus-
gegangene philosophische Richtung ansehen. Was etwa bei Eukleides
von sokratischem Einflufs sich geltend machte, hat in der weiteren
Entwicklung der Schule, soviel wir sehen, nicht fortgelebt; vielmehr
ist sie ihrem inneren Wesen nach von der sophistischen Eristik nicht
verschieden. Ihre Trugschlüsse sind aocpianyLol Mkeyxoc für Aristoteles.
aoq>ia%aL waren sie in den Augen des Publicums, aoq)tatal für alle,
die sich zu Akademie oder Peripatos bekannten, um nichts weniger als
die älteren Eristiker. Von Eukleides wissen wir nicht, ob er sich seine
Lehrthätigkeit bezahlen liefs^ für die jüngeren Hitglieder der Schule ist
es höchst wahrscheinlich. Alexinos' Schrift Ttegl ayioy^g, die wir durch
Philodem kennen, scheint den Zweck verfolgt zu haben, den Wert der
Eristik für den Jugendunterricht nachzuweisen und mit dem der Rhetor-
schulen zu vergleichen. Da von den Lehrern dieser Richtung keinerlei
Kenntnisse mitgeteilt wurden, die man im praktischen Leben verwerten
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf am die Jagend bildong^. 28
konnte, so kann es nur der immer noch fortlebende Irrglaube an die
formale Geistesbildung gewesen sein, der ihnen Zuhörer verschaffte.
Erst ganz allmählich, durch die Fortschritte der wissenschaftlichen Logik,
wurde ihnen der Boden entzogen. — Stilpon nimmt eine Soncfersteliung
in der Schule ein, weil er eine Ethik kynischen Charakters mit der
Eristik verbindet. Ähnlich ist auch der Charakter der elisch-eretrischen
Schule, von deren Lehre wir so wenig wissen, obgleich wir Menedemos
als Person so genau kennen. Männer wie Stilpon und Menedemos
kommen dem Sokratestypus verhältnismäfsig am nächsten. Aber wenn
man fragt, wodurch der Unterricht des Stilpon sich jene grofse Be-
liebtheit erwarb, die uns PhiHppos der Megariker bei Diogenes Laertius
schildert, und wodurch es ihm gelang, seinen pädagogischen Collegen
soviele Schiller abspenstig zu machen, so kann die Antwort nicht viel
anders ausfallen, als bei den übrigen Megarikcrn. Die praktische Brauch-
barkeit seines Unterrichts, auf welche die äufseren Erfolge deuten,
wird hauptsächlich in formaler Geistesbildung bestanden haben. Dafs
sich dazu auch ethische Unterweisung gesellte, erhöhte seine Brauch-
barkeit.
Die Philosophen der megarischen, elischen, eretrischen Schule sind
alle ortsansässige Schulhäupter, nicht Wanderlehrer. Von Eukleides ist
anzunehmen, dafs er dauernd in Megara seinen Wohnsitz hatte. Daher
stammt der Name der Schule. Das setzt offenbar auch Timon voraus,
wenn er von ihm sagt: Meyagevaiv og efißake kvaaav igiofiov. Aber
eine Schule in dem Sinne, wie Akademie, Peripatos, Stoa, Garten, ein
zu dauerndem Bestände organisirtes und an eine bestimmte örtlichkeit
gebundenes Unterrichtsinstitut hat er offenbar nicht begründet. Von
EubuUdes dem Milesier wissen wir nicht , wo er seine Schule hatte.
Die Nachricht, dafs Demosthenes ihn gehört habe, scheint auf Athen
zu deuten. Auch seine erbitterten Angriffe gegen Aristoteles erklären
sich am leichtesten aus unmittelbarer RivaUtät Alexinos hatte seine
Schule ursprünglich in Elis und verlegte sie später nach Olympia. Von
der Lehrthätigkeit der meisten Megariker ist nichts näheres bekannt.
Dafs Stilpon, der Megarer, dauernd in Megara wohnte und lehrte, darf
natürlich nicht als Beweis für das ununterbrochene Fortbestehen der
euklidischen Schule benutzt werden. Jeder dieser Philosophen hat
seine eigene, persönliche Schule. Seinem persönlichen Ermessen ist es
anheimgestellt, wohin er sie verlegen will. Menedemos studirt in Athen,
Megara, Elis; seine Schule verlegt er nach seiner Vaterstadt Eretria. Dafs
die Megariker und die Lehrer der elisch-eretrischen Schule nicht auf Augen-
24 Erstes Kapitel.
blickserfolge vor einem wechselnden und zufälligen Publikum ausgingen,
sondern einen festen Schülerkreis um sich sammelten, den sie durch
einen systematischen Cursus für längere Zeit an sich fesselten und dem
Ziel der naiöela entgegenzuführen suchten, zeigt sich in den spär-
lichen Nachrichten noch deutlich genug. Unter ihren Schülern beßnden
sich neben solchen, die sich selbst wieder dem Lehrberuf widmeten, auch
solche, die nur zu allgemeinen Bildungszwecken ihren Unterricht ge-
nossen hatten. So wird Euphantos von Olynth, der Historiker und
Dichter von Tragödien, als Schüler des Eubulides genannt. Zu Stil-
pons Schülern zählte der Rhetor Alkimos, den Diog. II 114 anavtiav
TtQunevovra rwv iv %jj ^Ekkadi ^tjtoqwv nennt, zu denen des Henede-
mos der Dichter Lykophron, vielleicht auch Aratos und Antagoras, der
Bildhauer und Kunstschriftsteller Antigonos von Karystos. Alexinos
hoffte, dafs ihm seine Schüler von Elis nach Olympia folgen würden.
Bezeichnend für den längeren systematischen Cursus, im Gegensatz zu
einzelnen miQoaaeig vor wechselndem und zufälligem Publicum, ist
auch der Ausdruck diaxoveiv, der bei Diogenes in dem Abschnitt über
die Hegariker mehrfach wiederkehrt. Von Eubulides heifst es II 111
(nach Erwähnung des Euphantos): elol de xai akkoi diax.rjKo6teg
EvßovUdov, h olg xal IdTtokldviog 6 Kqovog, Von Stilpon II 113:
ditinovaa y.ev tcJv oltc Evxkelöov xivmv. Von Henedemos und Askle-
piades dem Phliasier II 126: ^ayii.rj7Ciddov dk rov Okiaalov tcsqi-
anaaavTog airov, iyivero Iv Meydgoig naQct ^tlkntavay ovTteQ
afig)6T€(joi öir^xovaav. In diesen Stellen ist diaycoveiv Terminus für
das Absolviren des ganzen Cursus. Von Stilpon und Menedemos ist
es ohnehin klar, dafs sie als Lehrer der Ttaidela auftraten und ihren
Schülern nicht nur Anregung und Belehrung über einzelne Gegenstände,
sondern eine abgeschlossene und in sich selbst genügende Geistes- und
Charakterbildung geben wollten. Die bekannte Schilderung des Mega-
rikers Philippus bei Diog. II 113, wie Stilpon seinen Collegen die
Schüler abspenstig macht und die Ausdrücke dnioTtaae, Crjlwrdg saxe,
TtQoariyayBj id^gaae, acpeiXeto haben nur Sinn, wenn es sich um die
Entstehung eines dauernden Verhältnisses handelt. In den bekannten
parodischen Versen des Krates über Stilpon lesen wir:
evd^a T iglCeaxeV noXXol 6" aid<p' avrov ktalQOi etc.
Die Bezeichnung iraigoc war nur auf die Mitglieder eines festen
Schülerkreises anwendbar. An Menedemos wird es als etwas auffallen-
der hervorgehoben, dafs für seine Schüler keine Bänke im Kreise auf-
gestellt waren; aAP/ ov uv exacTog ezvx^ neginaTtuv rj %ad^^uvog
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf am die Jagendbildong. 25
rj^ove xal avtov tovtov %bv tqotvov dicmeifiivov. Die Stelle ist ein
wichtiges Zeugnis für die im allgemeinen in diesen Schulen gebräuch-
liche Form des Unterrichts. Sie zeigt aber auch, dafs Menedemos selbst
einen festen Schülerkreis hatte, da sich ja sonst das Fehlen der ra^ig
und der ßad'Qa von selbst verstehen würde.
Aristippos von Kyrene gilt uns als einer der bedeutendsten Schüler
des Sokrates, aber es ist auch allgemein anerkannt, dafs er in vieler
Beziehung mehr Sophist als Sokratiker ist. Zunächst sofern er den
Lehrberuf als gewinnbringendes Gewerbe betreibt. Phanias b. Diog.
II 65 sagt ausdrücklich, Aristippos sei der erste unter den Sokratikern
gewesen, der gegen Bezahlung Unterricht erteilte {öoq>a%evaag TtgcjTog
Tiüv ScjycQccTiTidiv fua&ovg eiasTiQd^ccTo). In den bei Diog. 11 72.
74. 80 mitgeteilten Anekdoten spiegelt sich noch deutlich die That-
sache ab, dafs dieses Verfahren als den Grundsätzen des Heisters
widersprechend und eines ächten Sokratikers unwürdig scharf verurteilt
wurde. Es ist aber zu betonen, dafs sich der Tadel nicht gegen die An-
nahme eines Entgelts überhaupt, sondern gegen die Höhe der von
Aristippos geforderten Honorare richtete. Der Unterricht des Sokrates
war zwar principiell ein unentgeltlicher gewesen, aber Sokrates hatte
keinen Anstand genommen, die notwendigen Subsistenzmittel von seinen
reichen Freunden und Schülern anzunehmen. Nur gröfsere Geld-
summen anzunehmen, wehrte ihm sein daifxoviov» Aus der Nachahmung
dieses sokratischen Vorbildes hat sich unter veränderten Verhältnissen
der kynische Bettelphilosoph entwickelt:
ahl^wv axolovg, ovx aogag otfdk kißrjTag.
Andererseits berief sich auch Aristippos, nach der Anekdote Diog. II 74,
auf das Vorbild des Sokrates. Jener habe freilich, wenn man ihm Brot
und Wein schickte, weniges behalten und das übrige zurückgesandt:
elxB yoQ raftlag tovg TtQwrovglti&Tjvalwv lyw ök Evtvxlörjv aQyvQci-
vTjtov. Der Komiker Alexis b. Athen. XII 544 e spricht von einem Talent,
Plut. de puer. educ. p. 4F von 1000 Drachmen, Diog. 11 72 von 500
Drachmen, die Aristippos von einem Schüler gefordert habe. Die An-
gabe des Komikers ist ohne Zweifel übertrieben. Plutarch und Diogenes
erzählen dieselbe Anekdote ganz übereinstimmend und weichen nur in
der Zahlangabe von einander ab. Eine Entscheidung ist unmöglich,
aber auch nicht von grofsem Belang. Protagoras forderte bekanntlich
100 Minen für einen Cursus, Isokrates nur 1000 Drachmen. Der-
selbe bezeichnet in der Sophistenrede § 3 die Forderung von drei bis
vier Minen für eine Anleitung zur praktischen Weisheit und zur Glück-
26 Erstes Kapitel.
Seligkeit als lächerlich gering. Die Entscheidung, ob eine dieser For-
derungen als hoch oder als bescheiden zu gelten hat, hängt hauptsäch-
lich von der Dauer des Unterrichts ab, die wir bei Aristippos nicht
kennen. Jedenfalls stand aber Aristippos in dem Ruf, sich seinen
Unterricht teuer bezahlen zu lassen. Das zeigt sowohl der Spott des
Komikers, als die von Plutarch und Diogenes überlieferte Anekdote.
Wenn trotzdem, wie nicht zu bezweifeln ist, Aristippos einer der ge-
feiertsten Lehrer seiner Zeit war und zahlreiche Schüler fand, so mufs
sich wohl sein Unterricht praktisch wertvolle Ziele gesteckt haben und
die Schuler müssen auf die Erreichung dieser Ziele gerechnet haben.
In der Oberlieferung über Aristippos scheint sich nichts der Art zu
finden. Sie ist eine doppelte. Einmal besteht sie aus doxographischen
Nachrichten, welche seine Ethik in das Schema der nacharistotelischen
ethischen Systeme hineinzwängen und in ihrer Kunstsprache mit be-
sonderer Hervorhebung der Unterscheidungslehren gegenüber dem epi-
kureischen Dogma darstellen. Den andern Teil der Überlieferung bilden
Anekdoten, die in äufserst lebendiger Weise ein in sich ganz einheit-
liches Bild von der Persönlichkeit des Aristippos entwerfen. Mögen
diese Anekdoten im einzelnen unverbürgt sein, die Auffassung der Per-
sönlichkeit des Aristippos, von der sie alle getragen sind, mufs als ge-
schichtlich wahr gelten. Glaubt nun Jemand, dafs die Väter des vierten
Jahrhunderts 1000 Drachmen zahlten, nur um ihre Söhne in die Prin-
cipienlehre der Ethik einweihen zu lassen, so dürfte er ihnen zu viel
Ideahsmus und zu wenig praktischen Verstand zutrauen. Wenn Iso-
krates für einen drei- bis vierjährigen Gursus 1000 Drachmen forderte
und für Aristippos dieselbe Summe genannt wird, so ist der Schlufs
berechtigt, dafs auch sein Gursus der naiöela wenigstens ein bis zwei
Jahre dauerte. So lange Zeit war zum Erlernen der wenigen einfachen
Sätze der kyrenaischen Ethik schwerlich erforderlich. Die Physik war
grundsätzHch ausgeschlossen und die logische Unterweisung beschränkte
sich auf die erkenntnistheoretische Grundlegung des Systems. Eristische
Haarspaltereien wurden nicht getrieben. Es mufs daher angenommen
werden, dafs sich Aristippos mit seinen Schülern vor allem über Einzel-
fragen des praktischen Lebens unterhielt. Nur dadurch konnte er ihnen
etwas von der allen Lebenslagen gewachsenen Geschmeidigkeit mitteilen,
die ihn selbst auszeichnete. Gewifs giebt der Ausspruch, der ihm Diog.
H 80 in den Mund gelegt wird, dafs die Knaben lernen sollen, was sie
als Männer anwenden können {olg avögeg yevofievoi x^jJaovTOfO» seinen
Standpunkt treffend wieder. Man kann sich daher garnicht denken, dafs in
Sophistik, Rhetorik, Philosophie In ihrem Kampf um die JagendbilduDg. 27
seiaem ÜDlerricht die PriDcipienfrageo der Ethik die Hauptrolle spielten.
Durch den Charakter unserer Überlieferung ist es bedingt, dafs sie nur
das hervorhebt, was in die Geschichte der Philosophie hineingebort.
Mit Protagoras wird er nicht nur die philosophische Grundanschauung,
sondern auch Ziele und Wege des Unterrichts mehr, als es die Ober-
lieferung erkennen läfst, geteilt haben.
Nur einmal findet sich in dieser eine sehr merkwürdige Angabe,
die für meine AulTassung zu sprechen scheint. Diog. II 92 heifst es:
Meleager iv T(p devtegip TteQi öo^wv und Kleitomachos kv r(p 7tQuj%(fi
tzeqI t(Sv alqiaeiav sagen, dafs die Kyrenaiker (und zwar die, welche
der Lehre des Stifters treu geblieben waren) den physikalischen und den
dialektischen Teil der Philosophie für unnütz hielten : dvvaa&at yag xal
€v Xiyeiv xa£ deiaidaifiovlag hcrog elvai aal tov n€Qi d'avarov (poßov
ixq>evyeiv rov neQi aya&wv xal xcextav "koyov hi^€fj,ad'r)x6Ta* In diesem
Satze, der zu der elften xvqIo do^a Epikur's in bemerkenswertem Gegen-
satze steht {el fifjökv fjfiag al rtav iibxbvjqldv VTCOiplai rivwxXovv xal al
Tceol d'avaxov — ovtl av TtQoaedeofie&a q)vaiokoyiag\ fillU besonders
das 61; Hyetv auf, das nach feststehendem Sprachgebrauch nichts ande-
res bedeuten kann, als „stichhaltiges reden^'. Neben den Bedingungen
innerer Gemütsruhe, der Freiheit von Aberglauben und von Todesfurcht,
wird die wichtigste Bedingung äufseren Erfolges genannt, das rednerische
Können — oder vielmehr ganz allgemein die Fähigkeit, erfolgreich zu
sprechen; denn der Ausdruck umfafst nicht allein eigentliche Reden,
sondern jede Art richtiger und erfolgreicher Handhabung des Worts.
Wenn diese Fähigkeit als unmittelbare Folge vollständiger Erlernung
des TteQi aya&cjv xal xoxcJv koyog sich einstellen soll, so mufs wohl
diese Erlernung keine blofs theoretische, sondern mit praktischen Übungen
verbunden gewesen sein. Die Erkenntnistheorie und die ethische Prin-
cipienlehre bildeten auch bei Aristippos nur die Grundlage, auf der sich
eine sophistische Unterweisung im ev Xiyeiv^ eine Art von rhetorischem
Unterricht aufbaute. Welcher Art dieser Unterricht war, können wir
nicht sagen, da unsere Überheferung eine philosophisch-doxographische
ist und um diese schultechniscben Fragen sich nicht bekümmert. Aber
den Vorteil, den er selbst von seinem Weisheitsstreben geerntet zu haben
behauptete, %d dvvao&ai naai d'aQQOvvxiog ofiikeiv (Diog. II 65), mufste
er doch auch seinen Schülern zu verschaffen suchen. Dafs sein Unter-
richt keinen eristischen Charakter trug^ wie der der Megariker, geht aus
seiner gut bezeugten Verachtung der Dialektik hervor. Ebensowenig
kann sein Unterricht dem der eigentlichen QrjxoQinoi ao(pta%al ähnlich
28 Erstes Kapitel.
gewesen sein. Aus der besprocheneu Stelle Diog. II 92 geht viehnehr
hervor, dafs der loyoq negl aya^wv xal xoxcJv selbst in den Dienst
des ev Xiyetv gestellt wurde. Am nächsten liegt es wohl, an xoftOL
über das Nützliche und Schädliche, Gerechte und Ungerechte zu denken,
die er seine Schüler lernen liefs. Auch findet sich in der Einteilung
der Ethik, die Sextus adv.math. VII 11 den Kyrenaikem zuschreibt, ein
%6noQ 7C€qI twv nloTewv. Das ist ein Gegenstand, der sich leicht in
den Dienst des ev Hyeiv stellen liefs.
Wenn ich die Anschauung zu begründen suche, dafs auch Aristippos
nicht in erster Linie als wissenschaftlicher Forscher, sondern als prak-
tischer Sophist im protagoreischen Sinne, als Lehrer der naidela auf-
zufassen ist, so kann ich mich dafür vor allem auf den Charakter seiner
wissenschaftlichen Ansichten berufen. Denn seine subjectivistische Er-
kenntnistheorie ist geeignet und bestimmt, das Streben nach fortschrei-
tender Erkenntnis der Wahrheit, welches zum Wesen der Wissenschaft
gehört, von vornherein abzuschneiden. Der Glaube an eine ethisch -
politische Wissenschaft, durch den sich die sokratisch-platonische Philo-
sophie aus der Sophistik herausgearbeitet hat und als etwas neues und
höheres ihr gegenübergetreten ist, wird von Aristippos nicht geteilt
Da er durchaus auf dem subjectivistischen und skeptischen Standpunkt
der älteren Sophistik stehen bleibt und keine Wissenschaft anerkennt,
die den Inhalt der naiöela bilden könnte, so mufs er auch, wie jene,
formale Bildung verheifsen haben. Denn ohne jedes positive Supplement
würde seine negative Erkenntnislehre und Ethik wohl geringe Anziehungs-
kraft auf das Publicum ausgeübt haben. — Auch darin folgte er, um
mit Zeller zu reden, dem Vorgang der Sophisten, dafs er einen grofseu
Teil seines Lebens ohne festen Wohnsitz an verschiedenen Orten zu-
brachte.')
Natürlich hat auch er ebenso wenig wie Eukleides eine zu dauern-
dem Fortbestand bestimmte Unterrichtsanstalt gegründet. Denn solche
Gründungen entspringen aus dem Begriff der Wissenschaft als einer
unendlichen, die Kraft des einzelnen Menschen übersteigenden Aufgabe.
Aufser gewöhnhchen Studenten {(pLX6öoq>oi) hatte Aristippos natürlich
auch einige Schüler gehabt, die den höheren Ehrgeiz in sich fühlten,
selbst wieder aotpiaxaL zu werden. Durch Antipatros, einen persönlichen
Schüler des Aristippos, wurde die kyrenaische Lehre über Epitimides
und Paraibates auf Hegesias und Annikeris fortgepflanzt, deren Lehr-
1) Philos. d. Gr. IP 291 n. 2.
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jagend bildang^. 29
thätigkeit in die beiden letzten Jahrzehnte des vierten Jahrhunderts föilt.
Ihr Lehrer Paraibates war auch von Menedemos in seiner Jugend gehört
worden, hatte ihm aber ebensowenig wie Xenokrates imponirt. Ein
Zeitgenosse dieses Paraibates und des Xenokrates mufs der jüngere
Aristippos gewesen sein, den angeblich seine Mutter Arete, eine Tochter
des Sokratikers Aristippos, in die Lehre ihres Vaters eingeführt hatte.
Er wird unter den Rivalen des Stilpon genannt, denen dieser Schüler
abspenstig machte. Schüler des jüngeren Aristippos war Theodoros 6
a&sog. Hegesias, Annikeris und Theodoros wurden ungefähr gleichzeitig
Stifter dreier selbständiger, nach den Stiftern benannter Secten, der
'Hyrjaiaxoly lävvvKiQBioi, QeodwQeioi. Diese wiederholte stammbaum-
artige Spaltung der kyrenaischen Schule interessirt uns hier nur, sofern
sie die selbständige Stellung der einzelnen Lehrer, die jeder auf eigene
Faust das Sophistengewerbe betrieben, und den Mangel einer festorganisirten
und localisirten Unterrichtsanstalt charakterisiren. — Zu den Theodoreern
i
gehört bekanntlich Bion der Borysthenite, und Bions Nachahmer ist
wiederum jener Teles, von dessen Diatriben uns bei Stobaeus umfäng-
liche Reste erhalten sind. Da sich in Bions Popularphilosophie die
kyrenaische Richtung mit der kynischen vereinigt, so wird er erst ganz
gewürdigt werden können, nachdem auch die kynische Schule behandelt
ist Aber schon hier darf ich hervorheben, dab diese Ausläufer der
kyrenaischen Schule, die uns besser als ihre Vorgänger bekannt sind,
einen wichtigen Rückschlufs auf die Lehrfomi jener gestatten.
Wir haben für den Sokratiker Aristippos aus den Nachrichten über
die von ihm geforderten Honorare geschlossen, dafs er die vollständige
Ausbildung seiner Zöglinge übernahm und sie in einem längeren, wahr-
scheinlich mehrjährigen Cursus dem Ziel der xaidela entgegenführte. Auch
für den jüngeren Aristippos scheint sich aus der Nachricht über seine zu
Stilpon abgefallenen Schüler, Kieitarchos und Simmias, das Gleiche zu
ergeben. Denn von einem Abfall konnte doch Philippos nur sprechen,
wenn ein auf längere Dauer berechnetes Schülerverhäitnis vorzeitig ab-
gebrochen wurde. Auch Paraibates wird Diog. II 134 mit den andern
Lehrern des Menedemos, Xenokrates und Stilpon, jn einer Weise zu-
sammengestellt, die den Schlufs gestattet, er habe wie jene die voll-
ständige Ausbildung seiner Schüler übernommen. Ob auch Theodoros,
Bion, Teles dies thaten, wissen wir nicht. Für Theodoros darf man es
vielleicht aus der Stiftung der nach ihm benannten Secte erschliefsen.
Die QeodwqeiOi konnten das Recht, sich so zu nennen, gewifs nicht
auf das Anhören weniger Einzel vortrage, sondern nur auf einen aus-
30 Erstes Kapitel.
fUbrlichen systematischen Unterricht begründen. Für Bion hingegen
pafst eine solche Lehrweise nicht. Sein Ruhm wenigstens und seine
Bedeutung beruhte auf einer ganz anderen Art des Lehrens, auf der
rhapsodischen Lehrthätigkeit des popularphilosophischen Wanderpredigers,
der in glänzenden Einzelvorträgen auf die weitesten Kreise aufklärend
und erbauend zu wirken sucht. War diese Lehrweise Bions (und des
Teles), aus der die Litteraturgattung der Diatriben hervorging, etwas
ganz Neues und Unerhörtes innerhalb der kyrenaischen Schule oder
dürfen wir auch für die älteren Kyrenaiker ihre Verwendung neben der
schuknäfsigen voraussetzen? Dürfen wir es, so ist dies eine weitere
Stütze der Ansicht, dafs die Kyrenaiker eher zu den Fortsetzern und
Nachzüglern derSophistik des 5. Jahrb., als zu den anSokrates anknüpfen-
den Fortschrittlern gehören. Denn bei den alten Sophisten war von
jeher neben den bezahlten Unterrichtscursen die öiTentliche Epideixis
vor einem gröfseren Publicum üblich gewesen. Sie mufsten die Fische
fangen, ehe sie sie weiter zubereiten konnten. Die öffentlichen epi-
deiktischen Vorträge waren die Netze, deren sie sich zu diesem Zweck
bedienten. Läfst sich auch für Aristippos und die anderen älteren
Kyrenaiker die Verwendung dieser Lehrform wahrscheinlich machen, so
würde eine im wesentlichen gleichbleibende Tradition von Protagoras
bis auf Bion hinabreichen ; nur dafs vielleicht bei den jüngsten Aus-
läufern der Schule, bei Theodoros und Bion, der schulmäfsige Unter-
richt mehr und mehr gegen die öffentliche Epideixis zurücktrat. Für
Aristippos würde ein solches öffentliches Auftreten um so besser passen,
weil er zu den Sophisten gehört, die einen grofsen Teil ihres Lebens
ohne festen Wohnsitz in den verschiedensten Theileu der griechischen
Welt umherstreiflen, wie ausXen.Mem. 11 1, 13 ff. ersichtlich ist.*) Wer
in der Fremde Schüler sammeln will, ist immer darauf angewiesen,
durch öffentliches Auftreten für^seine Schule zu werben. Findet sich
nun in dem Schriftenverzeichnis des Aristippos bei Diog. II 84. 85 der-
selbe Titel, den auch die popularphilosophischen, für ein gröfseres Publi-
cum bestimmten Vorträge Bions tragen, der Titel ^larQißal, so dürfen
wir hierin den urkundlichen Beweis des schon an sich wahrscheinlichen
erblicken. Die zwei Schriftenverzeichnisse bei Diogenes enthalten beide
1) Xen. 1. 1. l4XX* iydf to«, Mfrj^ Iva ^1} n&oym Taüra^ otöS* sie Ttolirelav
iftavTÖv xaraxhüa^ dXld ^ivos Ttarra^ov eiui. § 15 iv Si rals 680U TtoXiv
X^övov StaTQißmv — — ij Siöxi al nöXeis 001, xijpvTTOvair dofdXciav xai npo-
aiövTi xai dntövru
Sophistik, Rhetorik, Philosophie ia ihrem Kampf um die Jugendbildung^. 31
den Titel JcargißtSv ^^. Das zweite (xora 2a)Tlü)va iv devrigip xal
IlavaiTiov) rechnet die sechs Bücher Diatriben ohne weiteres zu den
ächten Schrullen des Aristippos, während es sonst viele im ersten Ver-
zeichnisse aufgeführte fortläfst. Im ersten Verzeichnis werden die Dia-
triben in einem Zusatz am Schiufs genannt, der folgenden Wortlaut hat:
evioi öh xal diazQißiSv avrov <paaiv e§ y€yQaq)ivai, ol d' oid^ okwg
ygaipac, wv iati xal 2(üaixgdTr^g 6 'Podiog, Man hat dieses Urteil
des Sosikrates gewöhnlich in dem Sinn gedeutet, dafs er dem Aristippos
jegliche Schriftstellerei abgesprochen habe, und es in Verbindung gebracht
mit dem Urteil des Panaitios Diog. 1164, dafs von allen sokratischen
Dialogen nur die des Plaion, Xcnophon, Antisthcnes, Aischines alrj^eig
seien; über die desPhaidon und Eukleides künne man zweifeln. Meines
Erachtens hat Panaitios nicht von der Ächtheit, sondern von der Wahr-
heit des Inhalts dieser Dialoge gesprochen, von ihrer Brauchbarkeit für
die Kenntnis des Sokrates. Die andere Diogenesstelle VII 163, wo
Panaitios und Sosikrates dem Ariston von Chios nur die ^EuiaToXal
lassen, während sie alles übrige dem Pcripatetiker Ariston zuschreiben,
hat durch ihre scheinbare Analogie zu der sprachlich wie sachUcb un-
möglichen Deutung geführt, die durch Diog. II 85 ausreichend widerlegt
wird. Denn unter den Schriften, die hier Panaitios dem Aristippos zu-
schreibt, befinden sich sicher auch Dialoge. Das oid^ okwg yeyQaq)ivai
des Sosikrates bei Diog. II 84 hat mit Diog. II 64 ebensowenig zu schaffen,
wie mit VII 163.- Es bezieht sich lediglich auf die unmittelbar vorher
erwähnten Dialriben. Sosikrates wollte nicht leugnen, dafs diese Diatriben
von Aristippos herrührten, sondern nur dafs er sie selbst aufgeschrieben
habe. Diogenes hat durch unklare Ausdrucksweise das Mifsverständnis
verschuldet. Er wollte sagen : einige hallen die sechs Bücher Diatriben
für ein von Aristippos selbst ausgearbeitetes und herausgegebenes Werk
(andere, so müssen wir ergänzen, für eine auf Grund schriftlicher Notizen,
die sich Aristippos für den mündlichen Vortrag gemacht hatte, von
anderen zurecht gemachte Publication), wieder andere, zu denen auch
Sosikrates gehört, sagen^ es seien überhaupt keine eigenhändigen Auf-
zeichnungen vorhanden gewesen. Durch die Fortlassung des vermitteln-
den Gedankens ist der Ausdruck unklar geworden. Indessen, wie man
auch diese Stelle interpretiren mag, an der Existenz achter Diatriben
des Aristippos kann nicht gezweifelt werden, da schon Theopomp b.
Athen. XI 508 d sie citirU Auch solche Schriften, wie JT^o^ roig Int"
Tt^divrag ort Tiiyctrjtai olvov 7ta)Miov xai halgag, Jlgog tovg Itci-
TLfiüivrag ott nokvrehjig otpwvei sind vielleicht aus öffentlichen Vor-
32 Erstes Kapitel.
trägeo hervorgegaogen , in deaen er den ÄDgriiTeD auf seine luxuriöse
Lebensweise, die seinen Ruf als Erzieher schädigten, entgegentrat«
Alles in allem ist klar, dafs die Lehrthätigkeit des Aristippos und
der übrigen Kyrenaiker in allen wesentlichen Punkten dem älteren
Sophistentypus entspricht. Dafs sie im Sinne des Piaton und Aristoteles
Sophisten waren, ist zweifellos; dafs der allgemeine Sprachgebrauch
ihnen diesen Namen beilegte, zeigen unsere Quellen. Dafs Aristippos
sich selbst Philosoph genannt haben sollte, ist ganz unwahrscheinlich.
Er war in erster Linie gewerbsmäfsiger Lehrer und Erzieher. Ohne
Zweifel glaubte er im Vollbesitz der für Menschen erreichbaren aoq>la
zu sein. Der platonische Begriff der q)ikoaoq)la als einer das ganze
Leben hindurch und über das Leben des einzelnen Menschen hinaus
immer fortschreitenden Erkenntnis ist schon durch seine skeptische Er-
kenntnislehre ausgeschlossen.
Es bleibt uns noch die schwierige Aufgabe, den aufser Piaton be-
deutendsten Sokratiker, Antisthenes von Athen, auf seine geschichtUche
Stellung in der Entwicklung des höheren Unterrichtswesens zu prüfen.
Es ist allgemein anerkannt, dafs Antisthenes bereits ein namhafter So-
phist war, als er mit Sokrates in Berührung kam und seinen Einflufs
erfuhr. Er hatte die Bildungselemente, mit denen die Sophistik des
fünften Jahrhunderts wirtschaftete, bereits tief in sich aufgenommen und
hatte sich selbst zu einem Lehrer und Erzieher in ihrem Sinne ent-
wickelt. Es ist die Frage, ob der Einflufs des Sokrates mächtig genug
war, um den schon Gereiften von Grund aus umzugestahen und zu einem
nach einheitücher Weltanschauung ringenden wissenschaftlichen Forscher
zu machen. Es ist um so wichtiger für uns, von Antisthenes und seinen
kynischen Nachfolgern eine richtige Vorstellung zu gewinnen, als wir
hier ein Gebiet betreten, auf dem auch Dio von Prusa sich zu Zeiten
bewegt hat. Eine Darstellung der Lehre des Antisthenes liegt nicht im
Plane dieser Einleitung. Wie bei den Megarikeru und Kyrenaikern
werde ich auf den materiellen Lehrinhalt nur Bezug nehmen, soweit es
nötig ist, um ihre Stellung zu den drei hccTrjdevfiara zu kennzeichnen,
von denen die Geschichte des höheren Unterrichtswesens der Griechen
zu berichten hat, zur Rhetorik, Sophistik und Philosophie.
Ohne Zweifel ist Antisthenes tiefer als irgend ein anderer Schüler
des Sokrates aufser Piaton von der Persönlichkeit und Lehre des Meisters
beeinflufst worden. Ohne Zweifel hat auch seine Lehre mehr wissen-
schafthche Gedanken enthalten, die in der weiteren Entwicklung der
griechischen Philosophie fortgewirkt haben, als die irgend eines andern
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung^. 83
der uDvoUkommeDen Sokratiker. Der Einflurs des Sokrales zeigt sich
Damenüich in manchen Zügen seines Tugendideals. Die ctQezij, zu der
er seine Schüler erziehen will, besteht nicht in der Fähigkeit, Macht,
Ehre, Reichtum und Genufs zu erwerben. Er tritt in schroffen Gegen-
satz zu jener vulgär-praktischen Auffassung der Tüchtigkeit, die das
sophistische Unterrichtswesen beherrschte. Er ist also gewissermafsen
ein Bundesgenosse des Sokrates und Piaton in der Rettung des sittlichen
Bewufstseins. Ja, durch seine Lehre, dafs allein die Tugend Wert hat,
während alle äufseren Güter wertlos sind, überbietet er Sokrates und
Piaton an sittlichem Rigorismus. Die Tugend ist nach ihm ein Zustand
des Menschen, der seinen Wert ganz in sich selber trägt und nicht
etwa als Mittel zum Erwerb anderweitiger Güter erstrebt wird. Hören
wir nun, dafs das Wesen der Tugend in der Einsicht {(pqorriaig) be-
steht, so klingt auch das noch ganz sokratisch. Aber der Ausdruck ist
irreführend. In Wahrheit ist schon hier der Punkt, wo sich Antisthenes
von Sokrates-Platon trennt. Denn wenn man seine weiteren Lehrsätze
heranzieht, zeigt sich alsbald, dafs er unter q?Q6yr]aig Dicht eine wissen-
schaftliche Erkenntnis versteht. Da er jedes Wissen, das sich nicht
unmittelbar auf das Gute bezieht, ausdrückhch verwirft, so könnte nur
die Erkenntnis des Guten gemeint sein und es würde sich der Cirkcl
ergeben, dafs das einzige Gut die Erkenntnis des Guten wäre. Eine
verständliche Wesensbestimmung würde auf diesem Wege weder für das
Gute noch für die q>Q6vr]aig gewonnen werden. Wir müssen daher
annehmen, dafs sich Antisthenes hier sokratischer ausgedrückt hat, als
es seiuer innersten Anschauung entsprach. In Wirklichkeit hat er das
Wesen der Tugend nicht in theoretisch erlerntem Wissen, sondern in
der durch Obung {aaxrjaig) erworbenen und im Handeln sich bewähren-
den Seelenstärke gefunden: Diog. VI 11 avragKt] yag tijv agerriv elvat
TCQog evdaifiovlav, firjöevog nQoaöeofiivr]v oti fit] SwxQarnirjg laxvog.
Ttjv T€ agevriv rwv ^Qytav elvai, fxrjre Xoyoiv nXelatwv deofiivtjv
fir^TS fiadnfjfiaTüJv, Es ist also auch unter q)Q6yr]aig die praktische
Verständigkeit, nicht die wissenschaftliche Erkenntnis zu verstehen. Anti-
sthenes war weit entfernt, den hohen Gedanken der unendlichen Wissen-
schaft und der Erziehung durch Teilnahme an ihr zu fassen. Das zeigt
er schon dadurch, dafs er dem wissenschafllichen Streben von vorn-
herein so enge Schranken zieht. Wie andere berühmte Sophisten vor
ihm, hat er seinen Scharfsinn hauptsächlich dazu verwandt, die Unmög-
lichkeit und Verderblichkeit der Wissenschaft zu beweisen.
Ehe ich dies weiter erläutere, mufs ich noch einer andern Lehre
▼.Arnim, Dlo. 3
84 Erstes KapiteL
des Autisthenes gedenkeu, iu der maa eine AnnäheruDg an Piaton ge-
funden hat. Dümmler, der im ersten Kapitel seiner Antisthenica die
Punkte zusammenstellt, in denen Piaton und Antisthenes, gegenüber allen
andern Lehrern der Zeit, zusammentrafen, legt besondern Wert auf ge-
wisse Ähnlichkeiten ihrer politischen Theorien. Schon darin findet er
eine bemerkenswerte Gbereinstimmung, dafs beide nicht nur das Leben
des einzelnen, sondern auch Staat und Gesellschaft nach den Forderungen
der Vernunft regeln wollen (p.ll). Im einzelnen verweist er auf das
Zusammentreffen beider in der Forderung der Weibergemeinschaft und
der Aufhebung des Familienlebens (p. 4 — 6), sowie auf die beiden ge-
meinsame Verwerfung aller Staatsverfassungen, insbesondere der Demo-
kratie und ihrer Helden (p. 6 — 11). Aber das Ideal der Tcohriycrj aqetr^^
in dem das Bildungsbedürfnis dieser Zeit gipfelte, führte ja notwendig
zum Nachdenken über die Probleme der Staatslehre, das daher in ge-
wissem Sinne Gemeingut aller Gebildeten war. Auch die radicale Kritik
der bestehenden Zustände ist nichts individuelles, sondern ein allgemeiner
Charakterzug der Aufklärungsepoche. Die Verurteilung der athenischen
Demokratie insbesondere war damals in dem gebildeten Teil der Be-
völkerung allgemein verbreitet. Das entscheidende ist der Vi^eg, der zur
Lösung der Probleme eingeschlagen wird. Da will denn die Ähnlichkeit
bezüglich der Weibergemeinschaft, die sich bei näherer Betrachtung als
eine ziemlich oberflächliche erweist, wenig besagen gegenüber dem
fundamentalen Unterschied, dafs die platonische Staatslehre aufbauend
und organisirend, die des Antisthenes destructiv ist und in ihren Folge-
rungen jedes den Namen verdienende Slaatsleben aufhebt. Zum Mit-
schöpfer jener ethiscli-politischen Wissenschaft, die wir als die grofse
Forderung der Zeit erkannten, ist Antisthenes durch seine Staatslehre
nicht geworden. Sie gehört zu derselben Art von Wissenschaft, wie
seine gleich zu besprechende Erkeuntnislehre, zu der Art, die ihre Auf-
gabe als erfüllt ansieht, sobald sie jeden weiteren Fortschritt des Er-
kennens unmöglich gemacht zu haben glaubt.
Die Erkenntnislehre des Antisthenes läuft im Grunde auf die Leug-
nung der Wissenschaft hinaus. Eine Logik, die die Möglichkeit des
Widerspruchs zwischen zwei Urteilen leugnet, hebt Beweis und Wider-
legung und damit jedes wissenschaftliche Verfahren auf. Eine Logik^
die nur identische Urteile anerkennt, macht jedes Erkennen unmögUch.
Mit einer solchen Logik iäfst sich eine positive Lehre, wie die kynische
Ethik, nicht ohne Widerspruch vereinigen. Es wird zwar durch sie jede
Widerlegung abgewehrt, jede Auseinandersetzung mit Andersdenkenden
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die JogendbildoDg. 35
ausgeschlossen, aber auch zugleich für die eigeoe Lehre der Charakter
der Wisseoschaftlichkeit unwiderruflich preisgegeben. Sie enthält eben
auch blofse Meinungen. Dafs diese Meinungen wahr sind, müssen die
Schüler der Autorität des Lehrers glauben und aus ihrer praktischen
Bewährung entnehmen. Auf blofsen Autoritätsglauben stützt sich ja auch
die Etymologie und die Homererklärung des Antisthenes. Es ist sehr
bezeichnend, dafs Antisthenes, nachdem er die wissenschaftlichen Beweis-
mittel zerstört hat, durch die Forderung blinden Autoritätsglaubens seine
Lehre zu stützen sucht. Er betrachtet die Sprache als das Werk eines
von tiefster Weisheit erfüllten Gesetzgebers. Aus der etymologischen
Zergliederung der Worte sucht er die Gedanken dieses Gesetzgebers zu
erraten und führt sie als Autoritätsbeweis für die Wahrheit seiner Lehre
ins Feld. Demselben Zweck dient seine Homererklärung. Durch eine
höchst willkürliche Interpretationsmethode, die von der Annahme ausgeht
oTi To fiiv öo^j], ja de aXrid^elijc eXQrjTai t^ Ttoirjt'^ und mittelst so-
genannter vnovoiai sich die Möglichkeit schafTt, jede unbequeme Äufserung
zu eliminiren und jeden erwünschten Gedanken in den Dichter hinein-
zudeuten, wird die Autorität Homers dem kynischen Dogma dienstbar
gemacht. Dieses Verfahren zeigt, dafs Antisthenes auf den Namen eines
wissenschaftlichen Forschers keinen Anspruch hat. Nur dann wird er
uns geschichtlich verständlich, wenn wir ihn nicht als solchen, sondern
in erster Linie als Sophisten d. h. als gewerbsmäfsigen Lehrer und
Erzieher der Jugend auffassen. Vom pädagogischen Gesichtspunkt aus
sind alle die Dinge leicht erklärlich, die uns anstöfsig waren^ solange
wir ihn als wissenschaftlichen Forscher betrachteten. Der Autoritäts-
glaube hat in der Wissenschaft keine Stätte; über seine Berechtigung
im höheren Jugendunterricht läfst sich wenigstens streiten. Die sophistische
Eristik, das Sprachstudium (i^ t(ov ovo/iiaTCifv i/vlay:€\pcg)y die moralische
Homererklärung sind als Unterrichtsgegenstände nicht ohne praktische
Zweckmäfsigkeit. Schulen haben zu allen Zeiten widersprechende ßildungs-
elemente in sich enthalten, indem die entgegengesetzten Richtungen
der Zeilbildung um ihre Beherrschung kämpfen und ihren Lehrplan
durch einen Compromifs zu Stande bringen. Die Eristik, die in der
Schule des Antisthenes eine so grofse Rolle spielt, dafs sie von Isokrates
als ol tcbqI rag 6(Jidag öiaTQißovTeg bezeichnet werden konnte, war
als formales Bildungsmittel in weiten Kreisen anerkannt. Die Homer-
lectüre hatte längst einen festen Platz im Jugendunterricht. An Dichter-
erklärung ethische Belehrung anzuknüpfen, hatte schon Protagoras ver-
sucht. Die Beschäftigung mit der Sprache bildete als Propädeutik des
86 Erstes Kapitel.
rhetorischen Unterrichts längst einen Hauptzweig sophistischer Lehr-
thfitigkeity an dessen Ausbildung alle grofsen Sophisten sich beteiligt
hatten. Alle diese Unterrichtszweige waren einer wissenschaftlichen
Ausbildung fähig und haben sie im Fortgang der Entwicklung erhalten.
Wie Aristoteles die Eristik durch die wissenschaftliche Logik verdrängt
hat und die sophistische Rhetorik durch die wissenschaftliche Rhetorik,
so ist im dritten Jahrhundert auch an die Sprach- und Litteraturstudien
die Reihe gekommen, wissenschaftlich zu werden. Aber vorläufig fehlte
es noch an der Unterscheidung der theoretischen, praktischen und poie-
tischen Disciplinen. Ungeschieden konnten sie sich nicht zu einem
geordneten Ganzen zusammeuschliefsen, in dem jede einzelne die ihrem
Wesen entsprechende Entfaltung fand, sondern sie hemmten sich gegen-
seitig, indem sie sich voreilig zu dem praktischen Zweck der natäela
verbündeten.
Dafs TtaiSsLa (resp. Tcaläevacg) das Schlagwort des Anlisthenes
war, zeigen die Bruchstücke. Es ist in der That die treffendste Ge-
samtbezeichnung seiner Wirksamkeit. Dafs Antisthenes von seinen
Schulern Bezahlung nahm und zwar drei bis vier Minen für einen voll-
ständigen Cursus, wissen wir aus der Sophistenrede des Isokrates.
Dafs in diesem Cursus auch Rhetorik getrieben wurde, ist höchst wahr-
scheinlich. Als Schüler des Gorgias hatte Antisthenes zunächst die
Rhetorik zum Mittelpunkt seiner Bestrebungen gemacht. Dafs ihn sein
Verhältnis zu Sokrates veranlafste, sich ganz von der Rhetorik loszu-
sagen, haben wir keinen Grund anzunehmen. Denn auch andere von
Sokrates verworfene Bestrebungen, wie die moralische Dichtererklärung,
hat er als Sokratiker ruhig beibehalten. Dafs sein Stil selbst in philo-
sophischen Schriften oft ein rhetorischer war und den Schüler des
Gorgias verriet, bezeugt Diog. VI, 1. Vor allem enthält das Schriften-
verzeichnis bei Diog. 15 f. eine Reihe rhetorischer Schriften, die nicht
auf grundsätzliche Verwerfung der Rhetorik, sondern auf eigene ein-
gehende Beschäftigung mit dieser Disciplin deuten. Er hat z. B. 7t€Qi
ki^ewg 7] 7C€qI xa^crxTiy^oiv geschrieben. Dafs seine Beschäftigung
mit der Rhetorik nicht etwa auf seine vorsokratische Zeit beschränkt
blieb, sondern auch später fortdauerte, dürfen wir aus seiner Fehde
mit Isokrates schliefsen. Da bekanntlich die Schlufsworle des Pane-
gyrikos eine Erwiderung des Isokrates auf Angriffe des Antisthenes
gegen seinen l^fiaQTVQog enthalten, ist der Schlufs erlaubt, dafs Antis-
thenes nicht lange vor 380 in einer gegen Isokrates gerichteten Streit-
schrift auf jenen Prozefs des Jahres 402 zurückgekommen war. Da
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jagendbildang. 87
es sich in diesem Streit um rhetorische Fragen handelt, darf die fort-
gesetzte Beschäftigung des Antisthenes mit dieser Disciplin als erwiesen
gelten. Ist aber seine Wandlung zum Sokratiker für ihn kein* Grund
gewesen, sich von der rhetorischen Kunstlehre als einem nunmehr
seiner unwürdigen Gegenstand abzuwenden, so ist garnicht abzusehen,
warum er sein Können auf diesem Gebiete nicht auch als Lehrer ver-
wertet haben sollte. Sein IntTridevfia war ja nicht Philosophie im
herkömmlichen Sinne, sondern naldevaig; und zur naidüa gehörte
nach den Anschauungen der Zeit in erster Linie die rednerische Aus^
bildung.
Wir kennen nur einen Schüler des Antisthenes, der selbst wieder
als Lehrer auftrat, Diogenes von Sinope; und dieser eine war ein sehr
selbständiger Schüler, der auf die weitere Entwicklung der kynischen
Secte ebenso stark oder noch stärker als Antisthenes selbst eingewirkt
bat. Zwar an den Grundgedanken hat er nichts geändert, aber die
Art, wie er sie vertrat, mufs eine wesentlich verschiedene gewesen sein.
Indem er auf die praktische Verwirklichung des kynischen Tugendideals,
der Bedürfnislosigkeit, der Abhärtung, der Unabhängigkeit, weit gröfseres
Gewicht als sein Vorgänger legte, wurde er Vorbild und Schöpfer jener
Zunft der Bettelphilosophen, die später so zahlreiche Adepten fand. Ich
brauche auf diese Seite seiner Persönlichkeit, die allbekannt ist, nicht
näher einzugehen. Es genügt darauf hinzuweisen, dafs die Erteilung
von Unterricht gegen Bezahlung mit den Grundsätzen, die er in seiner
Lebensweise durchführte, unvereinbar ist. In dieser Hinsicht tritt der
Typus des kynischen Bettelphilosophen zu dem herkön^mlicheo Sophisten-
typus in schärfsten Gegensatz. Freilich konnte auch der Bettel als ge-
winnbringendes Gewerbe betrieben werden, so dafs er nicht nur seinen
Mann nährte, sondern zur Ansammlung eines bedeutenden Vermögens
führte, wie Diog. VI 99 über Menippos den Gadarener berichtet. Aber
das ist ein Symptom der Entartung des Kynismus, nach dem man die
Secte selbst nicht beurteilen darf. Von dem Bilde eines Diogenes, Mo-
nimos, Krates, Metrokies mufs man diesen Zug fernhalten. Sie waren
aufrichtige Anhänger des Evangeliums der Armut und Enthaltsamkeit.
Sie haben den Lehrberuf nicht als gewinnbringendes Gewerbe, sondern
um Gottes willen betrieben. Es konnte daher auch der Ausdruck ao-
q)i,aTr]Q auf sie nicht angewendet werden. W^enn auch in verzerrter
Gestalt, spiegelten sie das in Sokrates verkörperte Ideal einer philo-
sophischen Persönlichkeit in mancher Hinsicht am treuesten wider.
Die Überlieferung über Diogenes bewegt sich, von Berichten über
88 Erstes Kapitel.
seine Lebensweise abgesehen, vorwiegend in der Form der Chne. Kurze
Witzworte über das was er beobachtet und erfahrt, kurze witzige Ant-
worten* auf an ihn gerichtete Fragen bilden den Hauptbestandteil
nicht allein seiner Vita bei Diogenes La^rtius, sondern auch der ander-
weitigen Überlieferung. Ganz abgesehen davon, dafs ein grofser Teil
dieser Chrien erst durch die Thätigkeit der folgenden Generationen
an den alten und ächten Kern sich aukrystallisirt hat, giebt diese ganze
Art von Oberlieferung das Bild des Diogenes einseitig und unvollständig
wieder. Wenn auch seine zündenden Witzworte an) stärksten gewirkt
und die Nachfahren gereizt haben, sich auch in dieser Gattung zu ver-
suchen — er ist nicht blofs ein Witzbold und Chrienheld gewesen.
Die Überlieferung hat es fast ganz vergessen und nur noch schwache
Spuren davon bewahrt, dafs auch Diogenes ein Lehrer und Erziehet*
der Jugend gewesen ist, der sich die Aufgabe gestellt hat, durch einen
regelmäfsigen, zusammenhängenden Unterricht seine Zöglinge fürs Leben
fertig zu machen.
Bezeichnend hierfür ist vor allem die bei Diog. VI 77 erhaltene Er-
zählung des Antisthenes iv diadoxaig über den Tod des Philosophen,
die durch ihre schlichte Natürlichkeit den glaubwürdigsten Eindruck
macht. Da werden yvwQL(JiOL des Diogenes erwähnt, die sich regel-
mäfsig zu einer bestimmten Stunde im Gymnasion einfinden, um
seinen Unterricht zu geniefsen: xcrra dl t6 €&og 17x0V ol yvcSgif^oi
u. s. w. Weiter wird dann erzählt, wie diese yvcigt^ioi unter einander
in heftigen Streit geraten, wer von ihnen für die Bestattung des Dio-
genes sorgen soll. Diese Stelle genügt, um die ganze Persönlichkeit
des Diogenes in ein anderes Licht zu rücken, als das, in dem sie
nach der landläufigen Vorstellung erscheint. Die ernste pädagogische
Thätigkeit, die ohne Zweifel dem Diogenes selbst die Hauptsache war,
leiht ihm eine höhere Würde als alle gelegentlichen Witzworte über die
Thorheiten der Menschen. Auch bei Diog. VI 75 werden von Kleo-
menes (iv tcj7 iTtiygacpOfiivip naLÖayo)yix(if) yvwQifiOi des Diogenes
erwähnt, die ihren in Sclaverei geratenen Lehrer loszukaufen beabsich-
tigen. Ebenda wird die Überredungskraft, die den Worten des Dio-
genes innewohnte, durch das Beispiel des Onesikritos von Aigina und
seiner Söhne Androsthenes und Philiskos veranschaulicht. Es geht aus
der Geschichte zweifellos hervor, dafs alle drei einen ausführlichen,
längere Zeit hindurch fortgesetzten Unterricht bei Diogenes genossen.
Der Vater ist unzufrieden, dafs sein jüngerer Sohn, den er nach Athen
geschickt hatte, nicht wiederkehrt. Er schickt den älteren aus, um ihn
Sophistik, Rhetorik/ Philosophie iQ ihrem Kampf am die Jug^endbildaDg. 89
heim zu holen. Aber auch Philiskos schUelst sich der Schule des
Diogenes an. Endlich macht sich der Vater selbst auf. Es geht ihm
nicht anders als seinen Söhnen. Auf einen Unterricht von mindestens
ein- bis zweijähriger Dauer wird man aus dieser Erzählung schliefsen
dürfen. Sie geht gewifs auf die nächst beteiligten zurück. Der Ton
warmer Verehrung, von dem sie erfüllt ist, sticht merkwürdig ab gegen
die sonstige Oberlieferung, die ihn nur als interessanten, witzigen
Sonderling schildert. Es ist eine der wenigen Stellen, in denen uns
ein gleichzeitiger Zeuge über Diogenes berichtet« Die Männer, die
Diogenes so nachhaltig an sich zu fesseln "wufste, geborten der bessern
Geseilschaft an. Sie liefsen sich gewifs nicht durch einige Witze und
schlagfertige Antworten imponiren. Sowohl Onesikritos als Philiskos
haben sich als Schriftsteller einen Namen gemacht, der Vater durch
sein Geschichtswerk über Alexandres, der Sohn als Verfasser von Dia-
logen (Suid. %yQaq>B ätakoyovg wv iati KoÖQog). Von dem Vater sagt
Plutarch Alexand. 65 6 di 'OvrjalzQiTog rjv q)iX6ao(pog rdSv ^loyivet
z(p Kvvix(p avveaxokaxoTwv. In dem Bericht bei Diogenes La^rt
a. a. 0. wird der Ausdruck q>ikoaoq>ovvTa noch ganz im isokratischen
Sinne für den Studirenden gebraucht.
Es ist nun die Hauptfrage, welchen Inhalt und Umfang die Unter-
weisung des Diogenes hatte. Bezog sie sich lediglich auf die Sätze der
kynischen Ethik oder wurden, wie bei Antisthenes, auch andere Gegen-
stände behandelt? Nach der herkömmlichen Auffassung von der Per-
sönlichkeit des Diogenes würde man das erstere annehmen, wenn nicht
einige Thatsachen dagegen sprächen. Diogenes hat aufser Onesikritos
und PhiUskos noch andere namhafte Schüler gehabt, die nicht philo-
sophische Lehrer geworden sind, sondern zu allgemeinen Bildungs-
zwecken seinen Unterricht besucht haben. Diog. VI 84 nennt Hegesias
aus Sinope 6 KXoiog InUXriv, von dem wir leider nicht wissen, auf
welchem Gebiete er sich ausgezeichnet hat, und Menandros 6 knv^a-
Xovfievog Jqv^og, ^av^aaTrjg ^OfÄ'qQov. Dals dieser Menandros als
Bewunderer Homers bezeichnet wird, kann nur so verstanden werden,
dafs er den Homer litterarisch verherrlicht hatte. Dies legt die Ver-
mutung nah, dafs Diogenes in ähnUcher Weise wie Antisthenes mit
seinen Schülern Homerstudien trieb. Auch Anaximenes von Lampsakos,
nächst Isokrates der berühmteste rhetorische Sophist des vierten Jahr-
hunderts, wird Schüler des Diogenes und des Amphipoliten Zoilos ge-
nannt (Suid. s. V. ^va^ifiivrjg ^dqiatoyiUovg). Er hat sich ebenfalls
mit Homerstudien ^efafst (avvza^eig neql tov 7to0]tov Dion. HaL de
40 Erstes Kapitel.
Isaeo 19), desgleichen sein Schüler Timolaos von Larisa (Suid. s. v«
Tifiolaog). Dafs auch Zoilos, den Anaximenes neben Diogenes zum
Lehrer hatte, für seine neun Bücher Ttata rf^g ^Ojut^qov Ttotrjcewg von
kynischer Seite die Anregung empfangen hatte, ist sehr wahrscheinlich,
da er bei Suid. ^^twq xal q>il6ao(pog genannt wird. Zoilos hat
gegen Isokrates geschrieben, Anaximenes mit den Isokrateern Theo»
pompös und Theokritos in Streit gelegen. Es liegt nahe diese Gegen-
sätze mit der alten Feindschaft zwischen Antisthenes und Isokrates in
Verbindung zu bringen und als einen fortdauernden Schulstreit zwischen
isokrateischer und kynischer Rhetorik aufzufassen. Durch diese Erwä-
gungen (vgl. Useners quaest. Anaximeneae p. 6 f. Dümmler Antisthenica
p. 74) wird es wahrscheinlich , dafs Diogenes nicht blofs Ethik lehrte«
sondern auch Homerstudien trieb und wenn nicht geradezu Unterricht
in der Rhetorik erteilte, so doch jedenfalls auch nach dieser Seite hin
seinen Schülern Wege und Ziele wies. Warum sollte auch ein Mann
wie Anaximenes, der gewifs kein tieferes philosophisches Interesse hatte
und dessen sophistischem Geist die kynische Weltentsagung bestenfalls
ein Gefühl scheuer Hochachtung einflöfsen konnte, gerade den Diogenes
zu seinem hauptsächlichsten Lehrer erkoren haben, wenn bei ihm nichts
anderes zu holen gewesen wäre, als eine paradoxe, dem bürgerlichen
Leben entfremdende Ethik. Hebt doch auch Diogenes Laärtius (VI 76 in
unmittelbarem Anschlufs an die Geschichte von Onesikritos und seinen
Söhnen und vielleicht aus derselben Quelle) hervor, dafs der Staatsmann
Phokion und der Megariker Stilpon xai akloc TtXeLovg avöqeg noXiTcxot
Schüler des Diogenes gewesen sind. Der Ausdruck avdgeg nohriKol
ist in diesem auf einen Verehrer des Diogenes zurückgehenden Abschnitt
geflissentlich gewählt, um dem Vorwurf zu begegnen, dafs er seine
Schüler dem bürgerlichen Leben entfremdete.
Die weitere Entwicklung der kynischen Secte scheint sich zu-
nächst in der von Diogenes gewiesenen Bahn weiterbewegt zu
haben. Von den Schülern des Diogenes, wie Monimos und Krates,
und von des letzteren Schüler Metrokies ist mit Bestimmtheit anzu-
nehmen, dafs sie sich ihren Unterricht nicht bezahlen liefsen, sondern
streng festhaltend an dem Ideal des bedürfnislosen Lebens nur die not-
wendigsten Lebensbedürfnisse annahmen und im Notfall durch Bettel
sich verschaflten. Dies gehl unter anderem daraus hervor, dafs selbst
Zenon, der Schüler des Krates und Begründer der Stoa, im wesent-
lichen noch an diesem Princip festhielt, wenn er auch dem von seinen
Vorgängern verworfenen Weingenufs nicht völlig entsagte. Diog. VI 104
Sophislik, Rhetorik, Philosophie ia ihrem Kampf am die Jogendbildang. 41
xai ovTwg ißlui xal Ztjvwv 6 Kitievg (aus Diokles), VII 26
i]v öh 7iQQT€QcxutTaxog xal hroTazog, anoQq) TQoqrf xQci^ievog %a\
TQißwvi k€7CT(fi, 13 ija&ie dh agrldia xal (likt xal oXlyov evaiäovg
olvaglov ijuve, 14 iviote äi xal xaAxov ilainqaTtB %ovg Ttegilaza-
fiivovg (nach Kleantbes h Tift Ttegl xaAxot;). Ungewirs bleibt es hin-
gegeo, ob Monimos, Krates, Metrokies die vollständige Ausbildung ihrer
Schuler übernahmeD, oder sich auf die Vertretung der kynischen
Ethik beschränkten. Im letzteren Falle würde schon für sie die Bevor*
zugung der Diatribenform anzunehmen sein, die bei Bion und Teles
vorherrscht. Es ist bemerkenswert, dafs avÖQeg noXiTixol, die aus
der Schule dieser Männer hervorgingen, nicht genannt werden. Von
Krates werden zwar ^adnfi%aL VI 93 erwähnt, aber aufser Metrokies
(und Zenon) keiner namhaft gemacht. Die ebdas. 95 aufgezählten
unmittelbaren und mittelbaren Schüler des Metrokies, die uns sonst
ganz unbekannt sind, waren alle selbst Lehrer. Es war eine not-
wendige Folge der Fortschritte des Unterrichtswesens und der Klärung
der üfTentlichen Meinung auf diesem Gebiete, dafs sich Väter aus den
Kreisen der besseren Gesellschaft immer seltener entschlossen, ihre
Sühne einem Lehrer dieser Art anzuvertrauen. Stilpon namentlich
scheint dem Krates den Rang abgelaufen zu haben, indem er mit der
geistigen Gymnastik der megarischen Sophismen die Strenge kynischer
Ethik zu verbinden wufste, ohne durch kynische Schamlosigkeiten
die besseren Kreise abzustofsen. Eine notwendige Folge dieser Ent-
wicklung war es, dafs die Kyniker immer mehr genötigt wurden, sich
mit ihrer Predigt an die unteren Volksschichten zu wenden und, da
der gemeine Mann für langwierige Lehrcurse keine Zeit hat, die popu-
larphilosophische Gelegenheitsrede an die Stelle des schulmäfsigen
Unterrichts zu setzen. Hier bot sich ihnen ein weites Feld frucht-
bringender Thätigkeit, ein Feld, dessen Bestellung naturgemäfs ihnen
zufiel, nicht allein wegen der Einfachheil und Verständlichkeit ihrer
Lehre, sondern auch weil die kynische Predigt von der Wertlosigkeit
der äufseren Güter, von dem Segen der Armut und der körperlichen
Arbeit und von der Gleichheit aller Menschen vor Gott dem innersten
Bedürfnis der nichtbesitzenden Masse entgegenkam. Indem die kynische
Seele aus dem Wettbewerb um die höhere Jugendbildung hinausgedrängt
wurde, fiel ihr statt dessen bei der Volkserziehung durch Popularisirung
sokratischer Gedanken der Löwenanteil zu. Es ist aber bekanntlich
eine im innersten W'esen der Popularphilosophie begründete Eigentüm-
lichkeil, dafs sie die Unterscheidungslehren des schulmäfsigen Dogmas
42 Erstes Kapitel.
zurücktreten läfst und an Stelle des wissenschaftlichen Scharfsinns den
gesunden Menschenverstand zum Leitstern nimmt. Hiermit hängt es
zusammen, dafs in den Vorträgen und lilterarischen Productionen der
jüngeren Kyniker die Verspottung der menschlichen Thorheiten alünäh-
lich zur Hauptsache wurde und das satirische Element das dogmatische
verdrängte. Für die paradoxen Sätze ihres Dogmas , z. B. für ihren
famosen Menschheitsherdenstaat, konnten die Kyniker nicht auf den
Beifall des gesunden Menschenverstandes rechnen; bei ihrer Kritik der
Schwächen des bestehenden Zustandes waren sie seiner Zustimmung
gewifs. So erklärt sich die satirische Schriftstellerei des Menippos, die
weniger dogmatisches als die Parodieen und nalyvia seiner Vorgänger
enthalten zu haben scheint.
Die Verwischung der Schulgegensätze veranschaulicht uns am besten
Bion der Borysthenite, von dem man nicht sagen kann, ob er mehr
Theodoreer oder mehr Kyniker war. Die kyrenaische Schule hatte ein
ganz ähnliches Schicksal gehabt wie die kynische. Auch sie war, als
eine von der allgemeinen Entwicklung überholte Richtung, in die tiefere
Schicht des Unterrichtswesens hinabgesunken. Schon Theodoros, xorra
Tcav elöog Xoyov aocpia%evwv^ (Diog. IV 52) scheint sich als wandernder
Sophist mit seinen Vorträgen hauptsächUch an ein gröfseres Publicum
gewendet zu haben. Sein Schüler Bion vereinigt als ächter Popular-
philosoph die kyrenaische mit der kynischen Lehre. Insofern er Bezahlung
für seinen Unterricht fordert, folgt er arislippischen Grundsätzen und
verstöfst gegen das in der kynischen Secte seit Diogenes herrschende Her-
kommen. Wir sehen hier die Philosophie von neuem ein Bündnis mit
der Rhetorik eingehen. Nicht als ob Bion auch Rhetorik gelehrt hätte.
Aus der Verbindung mit der rhetorischen Technik hatte sich die Philo-
sophie inzwischen gelöst und Bion hatte nicht nötig die ganze naidda
zu vertreten, da er keine Schule hielt. Aber die Form, in der Bion
seine Philosophie vortrug, war mit allen Kunstmitteln und Effecten
der Rhetorik geschmückt {tcqcStoq av&iva Iviövoe Trjv (piXoaocpLav)*
Was sich darüber sagen läfst, ist so oft und so gut gesagt worden,
dafs es unnötig ist, hier eine Schilderung des bionischen Diatriben-
Stils und seiner Kuustmittel zu geben. Aber zu vorläufiger Orientirung
mag hier der Wink Platz finden, dafs die Vorträge Dios von Prusa,
dessen Stellung zu den drei iniTr^Ö€Vf.iaia uns diese einleitende Be-
trachtung verstehen helfen soll, gröfstentcils der Form nach dieser
Gattung angehören, dafs aber Dio von dem Borystheniten sich unter-
scheidet durch strenges Festhalten an dem sokratiscli-kynischen Prin-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die JogendbildaDg. 43
cip der Unentgeltlichkeit des Uaterrichts uod dafs er hinsichtlich des
Lehrgebalts our Kynismus und Stoa als die ächten Erben sokfatischen
Geistes gelten läfst. Diese Form der Lehrthätigkeit^ die zwar die rheto-
rische Darstellungsweise und, im Gegensatz zum ordentlichen schul-
mäfsigen Unterricht, die rhapsodische, auf ein zufälliges immer wechseln-
des Publicum berechnete Lehrweise als acht sophistische Züge an sich
trägt, andererseits aber weil sie unentgeltlich und uneigennützig ist
und nur auf die moralische Besserung der Hörer abzielt, für philo-
sophisch zu gelten beansprucht, diese dionische Form volkspädagogischer
Thätigkeit kann, wenn irgendwo in der älteren Zeit, nur bei den
jüngeren Kynikern, wie Monimos, Krates, Metrokies, ihr genau ent-
sprechendes Vorbild gehabt haben.
IL
Indem wir die sokratischen Schulen bis zu ihrer Auflösung ver-
folgten, haben wir die Fortdauer des sogenannten sophistischen Unter-
richts während des ganzen vierten Jahrhunderts und seinen Verfall
durch Hinabsinken in die Sphäre der Volksaufklärung geschildert. Die
Kehrseite dieses Verfalls ist der vollständige Sieg des platonischen Prin-
cips, die höhere Jugendbildung auf Wissenschaft zu begründen. Das
gemeinsame aller bisher besprochenen Lehrer ist es, dafs sie die eigent-
liche Wissenschaft von dem Erziehungswerke fern halten. Weil sie
alle in pädagogischer Engherzigkeit für den ngcmriycdg ßlog arbeiten
nnd in der Geisteswissenschaft nichts sehen und suchen, als ein mehr
oder weniger brauchbares Werkzeug der naidela, hemmen sie ihren
Flügelschlag. Es ist keiner unter ihnen, der nicht die Wissenschaft
schon an der Schwelle abwiese. Ehe wir im einzelnen verfolgen, wie
sich gegen diese Sophistik das platonische Princip der Erziehung durch
Wissenschaft durchsetzte, müssen wir noch einen sehr interessanten
Vertreter der Sophistik dem Leser vorführen, dcnr uns erst neuerdings
näher bekannt geworden ist und dessen merkwürdige pädagogische Theorie
ein helles Schlaglicht auf die pädagogischen Zustände des vierten Jahr-
hunderts wirft, Nausiphanes von Tcos, den Demokriteer.
Wir würden von diesem Manne wenig wissen , wenn er nicht in
der Bildungsgeschichte Epikurs eine bedeutende Rolle spielte. Epikur
hat als fÄeiQoxLOv (Usener Epic. frg. 114) den Unterricht dieses Mannes
genossen, vermutlich nach seiner Rückkehr aus Athen, um 320. Ob-
gleich Epikur diesem Lehrer für alle Teile seines eigenen Systems die
mafsgebenden Grundgedanken verdankte, hat er sich doch später da-
44 Erstes Kapitel.
gegen verwahrt, sein SchQler zu sein, und sich in der abfälligsten
Weise über ihn ausgesprochen. Dafs dabei nicht nur der Grundsatz
„pereant qui nostra ante nos dixerunt^' im Spiele war, zeigen Äufse-
rungen wie fr. 114: xal yag novrjQbgavd^QWTCogrjvxaliTtLTeTrjöeviiuitg
joictvra 1^ cuy ov dvvardv elg aoq>lav Ik&eiv. Dafs Epikur seinen
Lehrer als einen sittlich schlechten Menschen bezeichnet, dafs er ihn
sogar mit Schimpfworten belegt, deutet auf persönliche Zerwürfnisse,
die aus dem Gegensatz der Naturen entspringen mochten. Doch lagen
dem Conflict auch sachliche Gegensätze zugrunde. Epikur war nicht
einverstanden mit dem Bildungsideal, das Nausiphanes vertrat und in dem
Lehrplan seiner Schule in Teos verkörperte. Nausiphanes war nicht
blofs wissenschaftlicher Forscher, sondern auch Pädagoge im sophisti-
schen Sinne. Er stellte sich die Aufgabe, seine Schüler zur TtokiTiTifj
ägsTT] zu erziehen und vermafs sich, eine abgeschlossene, keiner Er-
gänzung durch anderweitigen Unterricht bedürftige naiäela den Schülern
ins Leben mitzugeben. Dies geht klar aus der durch Seitus adv.
math. I, 2 bezeugten Thatsache hervor, dafs er nicht nur die im
engeren Sinne philosophischen Disciplinen und die Mathematik, sondern
vor allem auch Rhetorik lehrte: noXXovg yag twv vicjv ovvelxe xal
Twv fiad-rifidrojv anovöalvjg InefieXelfo^ f^dkiara dh ^rjTOQcxijg.
Dafs er diesen Gegenstand in den Lehrplan seiner Schule aufnahm, er-
klärt sich nur aus Gründen der praktischen Pädagogik, aus dem sehr
begreifUchen Streben nach Autarkie seiner Schule. Diese Autarkie
nahm während des gröfsten Teils des vierten Jahrhunderts jeder Lehrer
für seinen Unterricht in Anspruch. Darin sind Piaton, Antisthenes,
Isokrates, Eubulides, Aristippos, Diogenes, Anaximenes nicht von ein-
ander verschieden. Keiner von ihnen ist grundsätzlich gewillt, sich in
die Aufgabe der naidela mit andersartigen Lehrern zu teilen. Nirgends
vielleicht kommt diese grundlegende Eigentümlichkeit des Unterrichts-
wesens im vierten Jahrhundert in einer für uns so aufTallenden Weise
zur Geltung, wie in der merkwürdigen Thatsache, dafs selbst ein Ver-
treter der jonischen Naturphilosophie wie Nausiphanes Rhetorik docirt
und behauptet, für die wahre Rhetorik und Staatskunst gebe es keine
bessere Vorbildung, als eben die jonische Naturphilosophie. Bei den-
jenigen Lehrern, deren Studien sich auf dem Gebiet der Geisteswissen-
schaft ausschliefslich oder vorwiegend bewegen, ist der pädagogische
Anspruch aus dem inneren Wesen ihrer Wissenschaft versländlich, da
ja die Geisteswissenschaft bei den Griechen aus dem Erziehungsproblem
entspringt und erst allmählich und nicht ohne Widerstand zu finden,
Sophislik, Rhetorik, Philosophie ia ihrem Kampf um die Jugendbildung. 45
über diesen engen Zweck hinauswuchst. Die Behauptung dagegen, daß
Naturwissenschall für den Redner und Staatsmann die beste Vorbildung
gebe, ist nicht im Wesen der Naturwissenschaft begründet. Sie erklärt
sich lediglich aus dem praktischen Bedürfnis des Lehrers, der nicht
mehr zufrieden die künftigen Ärzte und Mechaniker auszubilden, auch
die künftigen TCohrtTLol SvÖQeg an sich locken will und in den allge-
meinen Wettbewerb um die höhere Jugendbildung miteintritt« Diese
immerhin etwas oberflächliche Anpassung des Bildungsideals an die Be-
dürfnisse des bürgerlichen Lebens ist dem Epikur schon in seiner
Jugend unsympathisch gewesen. Er hat sie auch später als Schulhaupt
verworfen, indem er die nur im Schoofse des Privatlebens, fern von
allen politischen Kämpfen, erreichbare Gemütsruhe als Lebensideal auf-
stellte, für dessen Verwirklichung er die fia&i^idaTa eher schädlich als
förderlich fand; und sein Busenfreund Metrodoros hat eine besondere
Schrift verfafst: Ttgog vovg imb q>vaiokoylaQ kiyovtag aya&ovg elvai
^T^TOQag, die, wie wir aus Philodem ersehen, ihre Spitze wenn nicht
ausschliefslich, so doch in erster Linie gegen Nausiphanes richtete. Es
ist klar, dafs Philodem in dem Abschnitt seiner Schrift negl Qr]%OQcxijg,
der die Widerlegung der nausiphaneischen Pädagogik enthält, im wesent-
lichen die Polemik Metrodors wiedergiebt. Denn wenn auch actuelle
Verhältnisse seiner Zeit, von denen noch die Rede sein wird, ihm die
Veranlassung zu eingehender Beschäftigung -mit der Ansicht des Nausi-
phanes boten, so ist es doch bei seiner bekannten sclavischen Ab-
hängigkeit von den Triumvirn selbstverständlich, dafs er Metrodors Be-
weisführung nur formell, nicht sachlich abänderte.
Durch die schöne Entdeckung von Sudhaus, dafs die herculanensischen
Papyri 1015 und 832 Teile einer und derselben SchrifLroUe sind (Rhein.
Mus. 48, 321 ff. 532 ff. Philodemi Volumina Rhetorica ed. Siegfried Sudhaus
Vol. II Teubn. 1896), ist es möglich geworden, diese epikureische Pole-
mik gegen Nausiphanes ihren Hauptgedanken nach zu reconstruiren und
dadurch auch für Nausiphanes selbst neues Material zu gewinnen. Der
Text, wie er in Sudhaus' Ausgabe gedruckt ist, bedarf noch mancher
Nachbesserung, bis er alles Lehrreiche, was in ihm enthalten ist, her-
giebt. Namentlich sind mir Zweifel gekommen, ob die Reihenfolge der
Columnen durchweg die richtige ist Erörterungen über einen und
denselben Gegenstand stehen durch anderweitiges getrennt an verschie-
denen Stellen des Textes, was zu Philodems Weise, eine genaue Dis-
position aufzustellen und Punkt für Punkt abzuhandeln, nicht pafst.
Es ist indessen für den vorliegenden Zweck nicht erforderlich, auf die
46 Erstes Kapitel.
Frage der Anordnung einzugehen, die ich ohne Kenntnis des Originals
nicht lösen könnte. Es genügt, die überhaupt noch kenntlichen Ge-
danken des Nausiphanes und seines Gegners sachlich zu ordnen, gleich-
viel ob dabei der Inhalt getrennter Textpartien verbunden und ver-
bundener getrennt wird. Ich gehe von der Voraussetzung aus, dafs
die ganze Erörterung Vol. II p. 1 — 50 gegen Nausiphanes gerichtet ist.
Denn sie ist einheitlich disponirt, richtet sich durchweg gegen die be-
kannte Behauptung des Nausiphanes und ist, abgesehen von wenigen
Stellen, wo die ganze untere Hälfte fehlt, so gut erhalten, dafs wir
sicher erkennen würden, wenn noch andere, von Nausiphanes ver-
schiedene Vertreter jener Ansicht berücksichtigt würden.
Nausiphanes ist im Gegensatz zu Epikur der Ansicht 6%i Ttolnev-
aezai 6 aoq)6g. Das steht, mit Nennung seines Namens, nach der
zweifellos richtigen Ergänzung von Sudbaus II p. 5. 4, lO^Od^ev xal
Navoiqxivr^g ovx ärcidga' Xiyei yag itgoaiQ'qaead'ai rov ao(pbv
^r^tOQCveiv rj TtoXiTsvea&ai und p. 24 col. XXX 16 rccog ovv /.likket
Trjv dvvafÄiv exiov rov nokiTeveod-at nakwg ol'xl xai ßovkrjaea&ai;
Mit dieser Ansicht des Nausiphanes beschäftigt sich Philodem sehr aus-
führlich p. 30. 20 — p. 35 col. XXXVllI, 12. Galt es doch hier einen der
grundlegendsten Punkte des epikureischen Dogma zu verteidigen. Nausi-
phanes hatte es für undenkbar erklärt, dafs der Weise sich von der
politischen Thätigkeit fernhalten sollte, die zu seinem und des Volkes
besten auszuüben er wie kein anderer befähigt sei. Ich setze den Text
von Philodems Erwiderung her, indem ich den von Sudhaus ergänzten
Text in revidirter Fassung vorlege.
Wenn der Weise auf politische Thätigkeit verzichtet und sein Glück
in der Stille des Privatlebens sucht ovd' ano rivog xayUag yivezat
TOiovrog ov%e "Katii Ovotaaiv Trjv tcqw%i]v ouie xad- aigeaiv' oiäk
yag otov rig iveyM aTQcnrjylav rj 7Co)uTixi]v dvva(.iLv, %Ioit^ av o
ao(p6g iKeivtjv' e 6 f.uv ßgaöiiegog oiöefii(e naTaay.evfj Tjkko-
TQiwd^rj TCQog TLvct öivafÄLv' 6 ö\^) ix, av)J^oytGfiov xai fjivr:f,ni^g toi
ofioLov Y,ai avof.iolov 'äoi TäxoXov&a avvewQaxwg aal axixpewg fiä/.kov
o^vtrjTi 'A€XQrjfiivog twv firjdiv tzw 7tQog eldatfiovlav iieQaivovxiov^
CLTtiaxri navtuv oaa ^fj rov naqa TOiav%ag xaxag öo^ag d-cQvßov
iaTQ€V€, xal fiireix^v avTwv ooov xal iwy Ttqog Tavayxalov rtj^vctJv
'/MTa ra yiyv6f.i€va drjfiiovQyrjfiaTa' iTtei %6y* aTceoregeoiG^ai jcqog
TO Tolg xaTci yeio^etgiav o . , .ov el/cslv r^ Gxgaxr^yLav rj 7toUTrAriv
1) Nämlich 6 aotpös.
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jagendbildang. 47
TtagaxoXovd'eiv fio%d^Q6v xai ovOT'qftaTog ovdafAwg övvatov koyl-
aaad^ai Y,al xarsQyaoaad^ai. ra Tcgog evdaifioviav 6 dh ao(pbg ov
TOiovTog ano \ an rij o^itrjtt Ttjg ipvxijg, oq> rjg
TO di.r}g4aQrrjfiivov Ttjg %wv avd-Qwnwv anovd^g xori ^a&v(,iiag xal
%6 firi TLad-ewQOTO, navtojv rjfiilr]G€ riov firjölv XQTJoif^tav vtv^ avtov
yivwGxead^ai nqbg evöaifxovlav ovrcov inel rdiv xara ttiv avaxaaiv
oideig eicpviareQog tvSv ovXXoyiOfxolg xa2 fivi^fiaig (folgen mehrere
unleserliche Zeilen) tvSv öi Ttaga rqv aigeaiv ovdelg alkorQLvireQog
Ttqbg ia roiaiza' xal xata rov-d^ 6 ^rjd^eigy (og aq)vhg xQVf^^
a7tod€iy,vv(üv aQeTTjv, el vofiod^ealag rj GTQaTrjylag j] TColiTixfjg
olxovofiiag 6 aoq)bg akkoxQiogy ovdhv eldi nw iwv GO(plag ayad-äv
ovd^ avekoylaaTO tIvojv aXxiog xaxvlv 6 nkr^alov xal rlvotv avtbg
exaGTog avTip. JJqooixi 6 ovde Ttwg aXkoTQiog twv toiovtwv 6
aoq>bg rj nwg ovx ali.6xQiog diiXaßev ovde dulXe piixQi tlvog wqp«-
Xeia^ai tu nli^di] divazat xai TLOvcpi^eod^at ficcXkov dtvarai xäv
aXlu)v ^f/5(jv, alka näv tjyr^adfievog elvac rb rlfiiov xai a^iokoyov
iv Talg Ttaqa TcJy noXXwv do^aig xai fivr^fiaig ircl TtoXiTixalg
deivorrjaiv rj Talg xeycJg xofAnovfiivaig agezalg xal xaXoxaya-d^iaLg,
inl xavra ayeiv rbv Sqiotov ytQO€iXr^q>€ ovXXoyiOfioV nai afxa
fiiv (eXeyev wg ngbg fiaxagioTt^Ta ovöelg aXXog ig) av^QWTtovg twv
TioXiTixcSv Xeyofiivwv avveßaXXero ri fici^ov, afxa S* kjil vofio^e-
aiag xareffigero , naXai ov i^ otov naaiVy dg eineiVy iitr] . . o-
fiovaixaiüja . ..|. v Imd'Vfxlag dfj hocad-ägat diov, negl wv
ov'/, ifiqxiaeig oidh 7CQ0xv7t(jifiara ovd^ dytjyal noXiTixoig ed^eaiv
xai vofioig yivofievat 7t€(fvxaaiv negalveiv äXk* b negl twv oXwv
eyXoyiafibg aicb Trjg TCQWTr^g IvaQyeiag xuTOQXOf^^vog, ov Ovx olov
TB öidax^ijvac nXrjd^og, ovx olov. eig navTiXeiav ctXX^ ovö^ dg
TVTtwaiv oTtoarivoiv xal TtaguOTaaiv. Bleibt auch im einzelnen
manche Ergänzung unsicher und manche Stelle schwerverständlich, so
kann doch hinsichtlich der Ansicht des Nausiphanes, gegen die Philo-
dem polemisirt, kein Zweifel bestehen. Nausiphanes hatte behauptet,
dafs eine Weisheit, die auf staatsmännische Thätigkeit von vornherein
verzichtete, diesen Namen garnicht verdienen würde. Denn diese Thätig-
keit hielt er offenbar für die höchste und für den Thätigen selbst wie
für die Gesellschaft fruchtbringendste. Einerseits hielt er Ruhm und
Anerkennung, die dem erfolgreichen Staatsmann von selten des Volkes
zuteil werden 9 wie Philodem ausdrücklich hervorhebt, für ein höchst
erstrebenswertes Ziel, andererseits glaubte er, dafs der Staatsmann mehr
als irgendein anderer Sterblicher für das Wohl der Gesamtheit leisten
48 Erstes Kapitel.
könnte. Hieraus folgerte er, dafs der Weise gewifs nicht auf staals-
männische Thätigkeit verzichten würde, wenn sie im Bereich seines
Könnens läge. Besonders hatte er die Gesetzgebung als eine des
Weisen würdige Thätigkeit gerühmt. Unter der Weisheit verstand
er aber, wie aus andern Stellen hervorgeht, die q>vaioloyla, d. h.
die ionische Naturphilosophie, zu deren Vertretern er selbst als Demo-
kriteer gehörte. Er suchte den Nachweis zu führen, dafs die demo-
kriteische Naturphilosophie die beste Vorbereitung für den politischen
Redner gewähre.
Sich selbst schrieb er die Macht zu, durch seine Rede die Menge wohin
er wolle zu leiten, Col. XI, l akV awixQvg eq>rjaev •• ..iv dvinroead-ai
nel^eiv tovq axovovrag tov q>vaiifu>v %al aoq>6y' xal tov aoq)bv ovx
iv af4q>iaßr]Tr]a€i xarikiTiev aXX^ kavxov €g)r] roig Xoyoig a^eiv k(p o
av ßovkrjTac rovg axovovrag. Es versteht sich von selbst, dafs er diese
unbedingte Oberredungskraft auch seinen Schülern mitzuteilen versprach.
Wenigstens bestreitet Philodem Col. XX, 1 auch die Möglichkeit dieser
Mitteilung: toiovxu)v fikv avrov ovre Tteqtnoiriouv ov%b öi^ead^al
riva TKüTtore dvvafiiv Xoyuiv und p. 19. 15, 4 ist, wenn nicht alles
trügt, von der Dauer des Lehrcurses die Rede, durch die der Schüler
die Oberredungskraft sich aneignen soll: aoq>bv\ yaq nav ev \ etog
avÖQa Tig %xri owt/üvTa xai ^i} ßgaxelg XQOvovg ofiilovvxa, Kai
%oi%o 7tXeovaC,6v%wg dvvaox^ai av aal TcagaxoXov&eiv otk fiiv rag
ßovXijaetg . . . oA vof^evov, ork öh e7CiTc&i[fi€vov
etc. Dafs unter dem avrjQ, mit dem man ein ganzes Jahr in bestän-
diger Lebensgemeinschaft zubringen soll, der Lehrer gemeint ist, zeigt
die folgende Begründung: rfjv] yag ahlav rijg neiarixijg dvvdfieaig
ovx l§ latoQlag akX^ and rrjg TciJy jcQayfiatwv Ttaga-
ylveox^al g>r^otv etc. Welches Wort vor rdv Tcgayfiaruiv ausgefallen
ist, wissen wir nicht, aber sicher ist, dafs den Gegensatz zu der empi-
rischen Kenntnis {larogla) nur der Begriff des allgemeingültigen Wis-
sens bilden konnte; und Sudhaus hat daher ganz passend eldi^aeug
ergänzt. Auch imazrjfirjg wäre möglich. Weil die Überredungskraft
nach Nausiphanes nicht durch Erfahrung, sondern durch theoretisches
Wissen erworben wird, ist verhältnismäfsig kurze Zeit für ihre Aneig-
nung erforderlich. Es kann also mit dem avi^Q nicht ein Mann ge-
meint sein, der den Gegenstand der Überredung bilden soll und zu
diesem Zweck ein Jahr lang studirt wird, sondern ein Mann, der die
Wissenschaft der Überredung mitteilt. Es genügt nicht, dafs man ein
Jahr lang täglich eine Stunde Vorlesung bei diesem Manne hört {ßqaxelg
Sophistik, Rhetorik, Philosophie Id ihrem Kampf um die Jugendbiidung. 49
XQOvovg)^ sondern man mUfste in beständigem Verkehr mit ihm leben,
um in so kurzer Zeit die dvvafiig sich anzueignen.
Die Behauptung des Nausiphanes, dafs der q>vaix6g im Stande sein
werde, die Menge' wohin er wolle durch seine Rede zu leiten, wird von
P&ilodem ausführlich bestritten. Seine Erörterungen gehen uns hier nur
an, soweit sie über die Äufserungen des Nausiphanes weiteres Licht ver-
breiten. Es scheint nach einigen Stellen, dafs Nausiphanes seiner Be-
hauptung die einschränkende Bedingung hinzugefügt hatte: nur auf
intelligente und willige ZuhOrer könne die Rede des Weisen ihre volle
Wirkung ausüben. Philodem findet, dafs durch diesen Zusatz der wesent-
liche Inhalt jenes Versprechens aufgehoben werde. Denn nur, wenn
der Redner von der Mitwirkung des Hörers ganz unabhängig ist, darf er
sich mit Recht einer unbedingten Überredungskunst rühmen. Andern-
falls hat er nicht die Macht, wohin er will, sondern nur wohin jener
zu folgen vermag, den Hörer zu leiten. Dies ungefähr mufs in der
stark verstümmelten Col. XU (p. 3) gestanden haben: tovtov ^oirjTixrj
Tig dvvaficg wg 'i alrjd'iig nqog to Ttel^etv 6ca loyov rb xvQog
^ovaa xal fifj fiixQ'' '^^^ natercayyelkaa^ai.' et ök avXXaßoc o
axovwv €vq)V€l(jc re Ixavfj xai nqodv^lff tov hciora^evov ccvrov
Xoyov ^ ßovkev^ ayayeiv, eaviv ifcianfjfitj xal övvafiig, ovk eq>' a
ßovkerai d' avTog akX' i<p^ a 6 axQOvifievog %a%aq>^avot, av Tijy
oAxijy oder ähnlich. Von der evcpvta und TtQO^^la des Hörers ist
auch p. 5 Col. XIV die Rede. Auf die oben schon angeführten Worte
des Nausiphanes: TCQoaigrjaea&at tov aoq>6v ^rjxoQeveiv rj TtoXiTev"
ea&ai folgen, nach einer Lücke von zwei un ausfüllbaren Zeilen, die
Worte: dg negl eva tov €vq>vrj xai Ttqodv^ov oix €vq>v€ig yovv
ol fcolkol TtQog ndaag fic&oöovg neid'ovg ovöi nQodvfioc etc. Es
ist so gut wie sicher, dafs der letzte Teil des nausiphaneischen Satzes
durch jene Lücke verschlungen ist Er mufs in seiner vollständigen
Fassung besagt haben: der Weise wird den Vorsatz fassen, sich auf
rednerische oder politische Thätigkeit einzulassen, wenn die Zuhörer
intelligent und willig sind, die Stimme der Weisheit zu hören. Diese
Bedingung, erwidert Philodem, kann niemals erfüllt werden, da die
Menge diese Eigenschaften nicht besitzt. Vor allem fehlt es der Menge
an der nötigen Geduld, um die Erfolge einer richtigen l^oUtik abzu-
warten; sie wiU sogleich greifbare Erfolge sehen: ovd^ IWiv OTCwg]
rtp ao(p(^ xayo'd'fß TiQOOfieival tc 7C0u]aat to noggw'd'ev ovx oaov
a/ivögä avvaiad'rjoei TCQoadoxrjaal ti (jieyaXelov, aXX^ ijdrj tc ßovXovr^
%XBLV etc. Wo die Erfolge lange auf sich warten lassen, schwindet die
V. Arnim, Dio. 4
50 Ersles Kapitel.
TtQod'vfila. Dafs in der Lücke vor xaya&(^ irgeodwo eine Negation
gestanden hat, zeigt nicht nur das aXXd^ sondern auch der Gedanke
selbst. Wie soUle die blofse unsichere Erwartung eines grofsarligen
Erfolges, von dem sie bisher nicht einmal eine dunkle Wahrnehmung
liat, die Menge zum Ausharren bei der richtigen Politik bewegen? —
Nausiphanes hatte oiTenbar auch die MügUchkeit politischer Mifsertolge
in Betracht gezogen und die wahre, auf Naturerkenntnis begründete
Redekunst als das beste Mittel gepriesen, über sie hinweg zu kommen.
Die wissenschaftliche Einsicht giebt dem Redner die Festigkeit, unter
allen Umständen an seinen richtigen Vorsätzen festzuhalten, und die
Redekunst, die er sich auf Grund dieser Einsicht angeeignet hat, erlaubt
ihm sich aus den schwierigsten Lagen herauszuhelfen und wieder Luft
zu schöpfen. Dieser Gedaoke steckt wohl p. 4. 3, 7 Beßatovrac fih,
q>rj\alv, iv Tolg xara Ttgoalgeoiv fieivai 6Q&r^v, iv öh %oig fieylazoig
'Koxoig 7covq)i^e%ac xai avarcveiTai, Qt^Togixijg av tl TtQoanoridij
dvvocfiewg. Mag auch die Ergäozung unsicher sein, jedenfalls steckt
hier ein Lob der Rhetorik, das nicht dem Philodem gehören kann.
Es müssen also Worte des Nausiphanes sein. Die Widerleguog Philo-
dems, deren Anfaog sich leider nicht ergänzen läfst, pafst auf den Ge-
danken, den meine Ergänzung in diese Worte des Nausiphanes legt:
ovd-^ 07t€Q TtQog avTov ^exoGTog Ttaox^t, tb fifj fiiaelv orav eavzcjj
Tcaxöjv aiziog ylvr^zai, tovto nqog rbv TtXrjalov, ov^^ ofioiwg avxbv
ahiärai y,a^d7t€Q xoi tov Ttkrjolov wotb Ttdig nokXoig rceqmLnxoV'
xeg xaxoig öid ttjv axolovd-iav , wöneq rjdri Ttqoelnafxev , exelvq)
jcQoafi€vovaiv T(p %xovtl Tfjv övvafitv; Es wird hier bewiesen, dafs
dem Redner seioe övvafiLg in Zeilen des MiCserfolges keinen genügenden
Schutz gegen den Zorn des Volkes gewährt.
Wir haben bisher die Beschaffenheit der dvva^ig festzustellen ge-
sucht, die Nausiphanes sich selbst zuschrieb und seinen Schülern mit-
zuteilen versprach. Wir wollen weiter sehen, wie er die These zu
stützen sucht, dafs gerade die Physiologie für diese unbedingte Über-
redungskraft die beste Vorbildung gewähre.
Nur wer die Natur überhaupt wissenschaftlich versteht, der versteht
auch die Natur des Menschen, die ein Stück der grofsen Natur ist
Da nun ohne Kenntnis der Menschenoatur keine Überredung möglich
ist, so ist der q>vaix6g für die Aoeigoung der neiarcxi] dvvafiig am
besten vorbereitet. Dafs dies die Lehre des Nausiphanes war, entnehmen
wir aus Philodems höhnischer Bemerkung p. 7 Col. XV, 9 ^Eti nolav
cldr^aiv e^wv 6 q>varÄdg rijg twv av&Qa,7C0)v q>va€(og ajco tavtr^g
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jagendbildung. 51
övvaLTO TieLd^eiv airoig; ^gd ye tijv Ix vivwv rj rtolwv ozoix^iwy
avveaTTjxaai; xal tIq av dia tovtI neLd^eiv rcegl fiv av die^lj] dvvacvo
Tovg av^QtJTtovg fiäkXov ij roig etc. Id diesen Worten ist der Ein-
wand enthalten, dafs die Kenntnis der körperlichen Elemente (Atome),
aus denen der Mensch besteht d. h. die physische Kenntnis der Menschen-
natur für den Zweck der Überredung ganz wertlos ist. Durch diesen
Einwand ist die Ansicht des Nausiphanes nicht abgethan. Denn auch
er hatte natürlich nicht diese Art von Kenntnis der Menschennatur für
das Fundament politischer Überredung gehalten. Es ist nur eine spöttische
Seitenbemerkung Philodems, die er hinwirft, ehe er dem Kern der
nausiphan eischen Ansicht zu Leibe geht.
Dies geschieht p. 8 Col. XVI. Die Kenntnis des natürlichen Zieles
alles menschlichen Strebens, des avyyevixov TiXog, ist es, die dem
Physiker seine Überlegenheit verleiht. Der Ausdruck avyyevtxov rilog
(vgl. Epicur. epist. ad Menoeceum §129 p. 63,lUs.), der das vom
Augenblick der Geburt an dem Menschen vorgesteckte, erste und ur-
sprünglichste Ziel seines Strebens bezeichnet, steht wohlerhalten p. 17
Col. XXIII, 14 ovre öi ytvdaxeiv dvvazdv, olg xaLqovoiv ol nolXol
xora Tag do^ag Y,al fifj t6 avyyevixov rikog etc., wo auch der Zu-
sammenhang deutlich lehrt, warum hier so ausführhch vom riXog ge-
handelt wird. Man braucht nur die unmittelbar folgenden Worte zu
lesen : ott^ ei tovto vig vTtored'elri yivuiaKeiy, xav Tield-eiv dvvairo,
um sofort zu erkennen, dafs Nausiphanes in der Kenntnis des avyye-
vLTLov rilog, die den (pvaixog auszeichnet, eine Qualiflcation des-
selben zum staatsmännischen Beruf erblickt hatte. Auch p. 10 ist von
dem tikog die Rede, nur dafs hier statt avyyevixov der gleichbedeu-
tende Ausdruck avfiq)VTOv tiXog gebraucht wird. Denn dafs Col. XIX, 19
TCEQi Tov ovficpvTOv tiXovg zu schreiben ist, ergiebt; wie wir gleich
sehen werden, der Zusammenhang. Wir erfahren hier auch, dafs Nau-
siphanes als avyyeviY.bv lilog betrachtete t6 i^öea^at aal firjdkv fiijre
akyelv fÄrire Ivrceiod^ai. Denn wenn auch hier Philodem redet, so
würde doch die ganze Beweisführung fehlgehen, wenn nicht auch der
Gegner mit dieser Bestimmung des finis bonorum einverstanden
wäre. Die Erörterung über das tiXog beginnt mit Col. XVI, 1. Nach
dem bisher beigebrachten darf es als höchst wahrscheinlich gelten,
dafs Zeile 2 ff. zu schreiben ist: tö avyyevi'/.6v rilog, orceq latlv
fjöea^ai xai fif] alyeiVy akla ei ^iv 'eari. zig av&QioTtog ngog
TOVTO (pegeTac' y.al x^Q^^S ^^i^' tovtwv ngoodoxlag e%T aXoywg ei%e
XeXoyiOLiiviag ovTe diaixeiv Tolg okoig ovdhv ovTe g>€vyeiVy fxäXXov
4*
52 Erstes Kapitel.
d' ovöi ra t/dSia aXXov Inidix&taL tqotiov. Wie leicht ersichtlich,
wird meine Ergänzung dadurch empfohlen, dafs der Plural in den
Worten rijg tovtwv nQoaöoxlag und die Erwähnung des q)evy€tv
neben dem diaixeiv die Torherige Erwähnung des akyelv neben dem
ijÖBod^ai, des finis malorum neben dem finis bonorum, vor-
aussetzt. Die auf die Bestimmung des riXog folgenden Worte können,
da sie nur eine Erläuterung des Begriffs vilog enthalten, ebensogut
dem Philodem wie dem Nausiphanes gehören. Dagegen glaube ich den
Inhalt der Col. 7 auf Seite 9 als eigene Worte des Nausiphanes in
Anspruch nehmen zu dürfen: xol yaQ ovvcjg ra fiiyiaza Xiywv av
TteLd'OL, TCoXiijv ngod^vfilav xal twv TtoXXwv nqog tovto Ttagex^^
fiivwv, öioTL Ttecavixov iart %b yiv(6ax€i.v no^ev ^'xci to av^(piQov.
Zdvev ycLQ Ti}g Tcegl tovtov Ttet^ovg a%aqia%ot ycvof^evot rolg tcqo-
dtöa^aai twv aXXwg jteid^ovxwv oix av neia&elev. Denn erstens
wird hier in directer Rede die Ton Philodem bekämpfte Ansicht des
Nausiphanes vorgetragen; zweitens wird auch hier die Ttqod-vfjila der
Menge erwähnt, die uns schon einmal bei Nausiphanes begegnete;
drittens erinnern die Worte: noXXriv nqo&vfxLav u. s. w. an eine
Stelle in Col. XXIII neql wv avrol nQOTteTteiafiivoi de* airuiv eioi,
die sich ebenfalls als nausiphaneisch erweisen läfst. Ganz verständlich
sind die aus dem Zusammenhang gerissenen Worte nicht. Welches ist
die Art der Überredung, durch die der q>vacx6g die gröfsten Dinge
durchsetzen kann, bei der ihm die Menge bereitwillig entgegenkommt?
Es kann sich nur handeln um eine praktische Anwendung seiner allge-
meinen Kenntnis von dem Grundtriebe der menschlichen Natur auf die
concrete Aufgabe der Überredung. Die Überredung, die der politische
Redner braucht, bezieht sich immer auf das im gegebeneu Falle nütz-
liche {öv(iq>iQOv). Um dies den Hörern plausibel zu machen, wird er
es auf das ursprünglich und evident wertvolle d. h. auf das xiXog be-
ziehen und ihnen zeigen, dafs sein Vorschlag mit ihrem innersten
Wünschen und Wollen zusammenfallt. Wenn ihm dies gehngt, so
wird er die gröfsten Aufgaben der Überredung lösen und stets der Zu-
stimmung der Menge gewifs sein. Der an sich unklare Ausdruck
nod'Bv T[KeL %o avfiq)iQov, der gut erhalten in der Handschrift steht,
scheint im Zusammenhang zu bedeuten: woher die als nützlich vorge-
schlagene Maisregel sich als solche darstellt, ^xeiv würde dabei ähn-
liche Bedeutung haben, wie die Composita xa&rjxeiv und TtQoarjxetv.
Was sich uns als nützlich darstellt, tritt gewissermafsen an uns heran,
mit dem Anspruch, unser Wollen und Handeln zu bestimmen. Die Er-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jagendbildang. 53
kennlDis, woher es an uns herantritt, d. h. wo es seinen Anspruch,
als nützlich zu gelten, herleitet, dient der Überredung. Ganz ähnlich
ist der Gedankengang bei Aristoteles Rhet. I cp. 5 und 6. Auch er
zergliedert in cp. 5 zunächst den BegrilT der evdaifiovla als des
höchsten Zieles alles menschlichen Strebens und leitet daraus in cp. 6
die atocxela rov avfxq>iQov%og ab.
Die vorgetragene Interpretation hat namentlich das für sich, dafs
sie die folgende Polemik Philodems verständlich macht. Philodem redet
gleich am Anfang der Col. XVII von den Ttegl xm VTtoxeifievcjv
ßovhqaeiQj die er von dem allgemeinen, auf das avYyevvKov xiXog
gerichteten Streben unterscheidet Es sind die speciellen Wünsche ge-
meint, die sich unter gegebenen Umständen auf das im einzelnen Falle
wünschenswerte beziehen. In demselben Sinne und in ähnlichem Zu-
sammenhange spricht auch Aristoteles von vnoxelfieva ngayfiara.
Rhet. I 4 p. 1359 b lehnt er es ab, die Gegenstände, auf die sich die
Beratungen der Menschen und die Reden der beratenden Redner be-
ziehen können (negl fiv ßovkevovtai Tcavreg xo2 TceQi a ayoQevovaiv
ol avfißovkevovreg) im Zusammenhang des rhetorischen Lehrcursus
vollständig und mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu behandeln. Es
würde der Charakter der Rhetorik als einer der Dialektik ähnlichen,
rein formalen Disciplin aufgehoben werden, wenn man, statt sich die
Erzeugung einer blofsen dvvafxig zum Ziele zu setzen, elg iTCiaxri^ag
Ifcoyceifiivwv rivaiv nQayfidrwv übergriffe. In demselben Sinne spricht
auch Philodem von woxelfieva; und während Nausiphanes für möglich
hielt, durch Zurückführung des einzelnen auf das allgemeine^ den
Hörern das jedesmal nützliche als ihren Wünschen entsprechend darzu-
stellen, leugnet Philodem diese Möglichkeit: Col. XVII, 11 akV el
nvvd^avoixo tig avzixQvg avTwv (nämlich twv nokkdjv)' „rj ßovi,eo&^
ijöead-ai xal fitjdkv fitste akyeiv firjte Xvnelöd^ai ;*'^ Tivkg ov q>'i^aov'
oiv. ^tloxe nwg ov x«^€/rov a tvcqI twv vTioxeifiivwv e'Aaarot ßov-
Xovxat yivcioTceiv, oxe ovdk Ttegl lov av(,iq>vTOv rikovg u. s. w.
Wenn selbst hinsichtlich des allgemeinsten und ursprünglichsten Gutes
so wenig Klarheit und Übereinstimmung unter den Menschen herrscht,
wie sollte es möglich sein, hinsichtlich der einzelnen und abgeleiteten
ihre Wünsche zu erkennen und an diese die Überredung anzuknüpfen?
Eigene Worte des Nausiphanes scheinen auch p. 10. 8, 2 vorzu-
liegen; tov (pvoubv fiovov, TOVTO ze&eioQri'Kora , titi yivaiaxeiv o
ßovXexai ri (pvatg xoi liyeiv xal Xiyovta %6 uQog Ttjv ßovhjatv
a^codtdovaij dvvr;a€ad^ai neld'eiv. Das zeigt die unmittelbar fol-
54 Cmct bpild.
fcsde Widerlegmig, die mil deo Woiteo anhebt: xai rrug oi j^ÜLoiar
Toiro xak fUfiaxr^uipaw t^ xartaxfa . . . o. s. w. Deno toC%o kann
nnr aof die BeiaopUing des Gegners belogen werden« die ako nn-
nüttelbar Toranfgegangen sein muls. Von den Anfingsworten der
CoL XVIII T(^ narwaxo^cr avfifier^avrwg so aiQetiureQOv ia/iCfiip
Xgr0&iu aw^ffunot^j i^€idr^ nott ffgof^^iprtai qevyuv %i r^ aiqtia^ai
bleibt es zweifelhaft, ob sie etwas naosiphaneisches enthalten. Dagegen
gehurt das folgende scher su der Widerlegung Philodems: ordi yaq
Ttaw xatatnurao^a . ^ tolt' ta | ti aaq:'^ jrwiawaiy ngog o uaiiara
rir na^umpcaaiw ohuiwg. nolhZw xai . . . t • . cm^ ow%iaWy a ue-
rawi&r^ci tajiwg €ig rawartia rag %vh toiovwtar yvtiuag' efre de
7UU tairo9 aü rt^ ffvouaa xiiog do^eir^y iwQog o, si 09'od^raro
ä^fir^xBw, onm ix^u€90v totrov xQ^fi^^^ ^^ ^^V» ^'^ ^^ ^* ^^
TKoiiaxijg o. s. w. Anf der folgenden Seite glaube ich so erginzen
zo dflrfen p. 12. 19, 3: Irwm^a rtQog to r . . . . riijog adidaxMfjt
ovwano^fiu cwaittetai ij ntifi scJr vnojuifiirunt ßovlr^atg. Dals
diese Worte Philodem gehören, beweist das folgende: avdiv §Urwoi
fiiiMnt ti %oix* lideir^fuw f^dr^, tumI o x^9^^ riiovg tovtov noir^riaw
larly. diayi9woxoifi€v Sw, r^ tlow rovr* €idw§i€v ildr^, xa< mi^^tir
iiuunov ar ivraifit^a. Hiermit ist zu Tergleichen die ähnliche
Stelle p. 17 CoL HUI 11, die schon oben angeführt wurde.
Ich Obergehe die weitere Polemik Philodems.*) Die nächste Spur
eigner Worte des Nausiphanes finde ich CoL XXII: ifnx€iQoiaiw nei^tir,
aTviq av ildüoir ßovJLouirovg t€ xal ur^ fierautJir^aouiwovg dia so
avuifegortug ßoviiiia&ai. Das auf diese Worte als Nachsatz folgende
yiloiov iQ€iy zeigt, dals den ausgeschhebeDeo Worten ein hypothetischer
Satz, etwa aw iJyr^ oxl, Torausging. Dafs die Worte selbst dem Nau-
siphanes gehören, kann nicht bezweifelt werden. Aus der Polemik
Philodems: (yiJioior Iget' x^iU^roF yag TtQoyyiovaiy xav tiqw xara
tQOTtow ioxff TiiTtQox^ai Ti avToig, oti oi ueiaueJür^aorrau ^vyo^ir
yaQ oi dvrctrrai Jtoia Jiaq* f^uäg cti-roig auagravouev xal Ttoitav
diafiimofi€y TxaQa %6 tüv ngayfioTuv aviqixxov) geht henror, dafs
in den Worten des Nausiphaoes auf /ui; ueraueÄr.aouiyovg das Haupt-
gewicht zu legen ist. Wenn das Volk eine Malsregel bereut, die ihm
der Redner angeraten hat, so Terliert dieser für künftige Fälle das
1) Col. XIX ist wohl la schreiben: dp Si xai i:tu^Tai :ttiortxr, m Si-yautSy
o^xir« j} Ssd ra/r ^aixärr Xöyaty Stddoxovaa t6 aoifdr rikoi tii 6 i^,
mäJJLMnf 3i xaraaroxaarmti Tis o^ ßoilovx' iauU-ou
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die JogendbildaDg. 55
Vertrauen des Volkes und um seine unbedingte Oberredungskraft ist es
geschehen. Daher, sagt Nausiphanes, wird der Redner nur zu solchen
Dingen raten, von denen er weifs, dafs sie dem eigenen Wunsche des
Volkes entsprechen und dafs es sie nicht bereuen wird.
Auch die Vl^orte Col. XXIII, 1 die etwa so zu ergänzen sind : ndvTa
dvvafiivov rteld-eiv "Kai neql wv avTol TtQonenBiOfxivoi di avtdiv
eiac, Xrixpo^ivov zovg rcolXovg avvofioXoyrjaovrag gehören dem Nau-
siphanes; denn Philodem fährt fort: ov toiovxov d^laxl %6 iTidy-
yeXf4a, all* wg artXwg neql ov tcox* av Id-iXioötv avrol, Ttelaeiv
€q>r] TTJ tixyjl ^^^ neiö%ixi]g dwafieug. Es ist kein Kunststück,
wenn der Idealredner des Nausiphanes nur in den Dingen die Zustim-
mung der Hörer findet, von deren Richtigkeit sie ohnehin schon über-
zeugt sind. Von jener unbedingten Überredungskraft, die er sich zu-
geschrieben hatte, ist dieses bescheidene Können himmelweit verschieden.
Aber nicht einmal in diesem Sinne ist eine fteiaTcxrj dvva^ig^ die nie
versagt, denkbar: ov%e dl yivcianeiv övvaxdv olg %alQOvoiv ol noXXol
xata zag öo^ag xai f^r, xo avyyevixov riXog, ovt^ el tovxo rig
vTtoxed^eltj yivcioTcetv, xav rceid-eLV övvaiTO {noXXal ydq al fierafii"
Xeiai xal fi&raTtTviaeig elal TcJy vTcoXi^xpewv Iv jovrocg) ovx etalv
aXXwv ol Ttegl triv (pvoiv deivoTBQOi' ov yaq ovv aveLnaiiiev, fW
av aq)UrjTai, tlvi xalqovOL TcJy VTCOxeifiivuv rj ngog rlvog av
fidXiGta aw^ot.vro xo 7tXi]&og^ ixelvov dvyqaead^ai xa&vfcovoeiv
aXXa TtoXv ßiXriov idnitag avfißovXevofiivovg.
Auf diese Worte Philodems folgte gleich wider ein neuer
Satz des Nausiphanes, von dem leider nur das Ende erhalten
ist p. 18 Col. XXIV, 1 ^eiv . . . Ta/r . , • ^la xaTaq)iQOVTai twv
öixaltjv i] Twv avfKpCQovTwv kv Talg xoivalg ,
a TCQog To yLOivwg avf^cpiQov IvaQf^ooac dvvctzai fxdXiad'* olxog,
Dafs dies Worte des Nausiphanes sind, zeigt die Art, wie mit den fol-
genden Worten die Polemik Philodems einsetzt: nquitov td nqog ravra
ov avvoqav olog t* iarlv, äXXd rcoXXti) awaiad-rjaerai ßiXriov 6
TtQoaeXtjXvd'wg rolg noivolg %ai noXvv xqovov IrtiiAeXlg fceTtorjfiivog^
drcwg avrolg agiarj, xal diüixi^aerai rcaqaivuiv djtßQ elol dwarol
nouiv. KaLxoL Navac(pdvrjg etc. Der vollständige Satz des Nausiphanes
besagte wohl, dafs die Menschen {ol noXXoC) abweichende und oft
irrige Vorstellungen über das gerechte und nützliche hegen, die mit
dem wahrhaft gemeinnützigen wieder in Einklang zu bringen, niemand
besser versteht als der naturwissenschaftlich gebildete Redner.
Weiter folgt nun die schon oben behandelte Stelle p. 19. 15, 2 fr.,
56 Erstes KapiteL
auf dereD letzten, dort oocb Dicht erUiaterten Teil, Col. XSV Iff^ ich
hier zurflckkommeo mufs. Weno die CberreduDgsknnst durch empi-
rische KeDotnis (iatogla) des eiDzelneo Volkes, das überredet werden
soll, nod seiner besonderen Verbaltnisse, Sitten und Anschauungen be-
dingt wäre, so wflrde die dvrafiig nur durch sehr umfassendes und
zeitraubendes Studium der praktischen Verhältnisse gewonnen werden
können. Nausiphanes teilt diese Ansicht nicht. Er meint , wer den
Terhaltnismafsig kurzen theoretischen Lehrgang seiner Schule durch-
gemacht habe, werde allen Verhältnissen gewachsen sein und seine
Gberredungskraft, ungeachtet der nationalen Besonderheiten, an jedem
Volke bewahren : tt^v yag ah law rijg TtBiarixf^g dvva/necjg oix l§
loToglag aXV and rfjg eldr^aeiog twv nQay^azojv TtagayireaS'ai
(pr^atVy üja&^ o^oiwg crvrrJ neid^oi av 6 q^vGixog ojtoiovovv i^og.
Alle bisher aus dem Text herausge6schten Sätze des Nausiphanes
gehörten jener Erörterung an, in der die Kenntnis des avyyevixov
riXog als QualiGcation für den staatsmänniscben und rednerischen Beruf
erwiesen wurde. Sie bezieht sich auf den Inhalt der Rede, auf die
materiellen Beweismomente und Cberredungsmittel. Aber auch in for-
meller Hinsicht hatte Nausiphanes die vortreffliche QualiGcation des
ffiGiyJg zum Slaatsredner zu erweisen gesucht; und zwar hinsichtlich
der logischen sowohl als der sprachlichen Form.
Von der )J^ig {elocutio) ist zuerst p. 22 Col. XXVII, 9 in fol-
genden offenbar nausiphaneischen Worten die Rede: xai pirfih „ro
olda I fxvjg ötdaxtixf^g li^etog ccTtOQSiv, all' co^ hdixerai ßHnava
XQ^jO&ac, xal wg av ptaXiara negl ngayfidrojv adr^Xwv ol ßovXtvo-
/nevoc . . . Oivto y.al ^dO^oiBv'^ Nausiphanes hatte behauptet, dafs
der in der Darstellung schwieri^^er Probleme der Naturwissenschaft ge-
übte Physiker besonders gut den lehrhaften Stil beherrschen würde, der
auch da am Platze sei, wo in politischen Versammlungen die Hörer
über schwer zu erfassende Verhältnisse aufgeklärt werden sollen. Das
(xridh am Anfang gehört Philodem, der die durch den vorgesetzten
Artikel to substanlivirte Behauptung des Gegners bestreitet Von dieser
dfdoxT/xiJ Xi^ig scheint, wenn ich von unsicheren Spuren absehe, zu-
nächst wieder die Rede zu sein p. 26. 17, 3: all' onwgdr^nore %a
filv Ix avvr^d^elag rfjg e^io&ev iniotarjg, rd d U rr^g ev xpiyi] y.ivr^-
aewg lniq)iqer:aL Xakrjfiaaiv re avyyereaxiQav.
Es handelt sich hier offenbar um eine Spielart der Stegreifrede,
die im Gegensatz zu den Kunslreden der isokrateischen Richtung sich
eng an die Umgangssprache auschliefst und daher einem Geplauder
Sophistik, Rhetorik, Philosophie Id ihrem Kampf am die Jagendbildang. 57
ähDÜcher ist als einer KuQstrede. Ob aber hier Nausiphanes redet oder
Pbilodem, läfst sich nicht entscheiden. Dagegen hat Sudhaus gewifs das
richtige getroffen, wenn er die Worte p. 27. 18, 5ir. dem Nausiphanes
zuschreibt. Sie enthalten die Schilderung der an der früheren Stelle
gerühmten didaxTixri ki^ig: d^aviAuatiov (iiv ovv tpvaiokoyov xal
T1JV XaXiav wg avvearwaav axQtag xor' evodiav twv wfiikrjfxivwv
xal fi€taq)OQaig Inl %6 ayvovvfievov rcQäyfxa agiara fi€T€vr]V€yf4€Viüv
xal ov nldafiart xevifi xal vofitp yeyovvlav aXXa tij %(jiv Ttgayfiarwv
q)va€i xcii xara ttjv awi^d-etav. Als Vorzug dieser Xi^ig wird gerühmt,
dafs sie sich einerseits an die im Umgang gebräuchliche Ausdrucksweise
hält (ra wfiikrjfiiva, xava Trjv awr^^eiav) und nicht auf Conventionellen
Schulkunstgriffen beruht {nXcLa^axL Y.ev(^ xal vof^q))^ sondern aus der
Natur des Gegenstandes erwächst, und doch andererseits der Metaphern
nicht entbehrt. Diese Metaphern, die nicht zu müfsigem Schmuck,
sondern zur Verdeutlichung eines schwerfafslichen Gegenstandes dienen,
sind selbst dem Gebiet der wfAilr^fiiva entlehnt. Denn die einmalige
Setzung des Artikels twv zeigt, dafs es eben die cjfiiXrjfiiva selbst
sind, die zur metaphorischen Verdeutlichung dunkler Gegenstände be-
nutzt werden. Dadurch entsteht eine evodla, ein leichter, bequemer
Gang der Rede, die nicht mit fremdartigem Schmuck überladen ist;
und gleichwohl wird die höchste stilistische Wirkung erreicht (avve-
axwaav axQwg), Man glaubt hier nicht sowohl ein stilistisches Ideal
als den Stilcharakter eines bestimmten Autors schildern zu hören. Dafs
dem Nausiphanes dabei der vielgerühmte Stil seines Lehrers Demokritos
vorschwebte, ist eine naheliegende Vermutung. Soviel sich erkennen
läfst, war Philodem mit diesem stilistischen Ideal an sich einverstanden,
machte aber geltend, dafs es zu stark von der vor Gericht und in
politischen Versammlungen herkömmlichen Sprechweise abweiche. Col.
XXXII Anf. ist noch von dem Stil des Weisen die Rede (und vielleicht
liegen auch hier Worte des Nausiphanes vor), der sich aller gesuchten
Kunstmittel enthält: .... InLttvi^deviJiivaig ovd^ ärcrjQtr^fxivaig %ov
avvrid^ovg fi€Taq)OQaig oidi aXXoig IfiifÄrjoaTO iia%ai6%ri%^ avd^Qtinwv.
Dann folgt eine Schilderung des abweichenden Geschmacks des Publi-
cums, dem es vor allem darauf ankommt, dafs die Redner so reden,
wie es vor Gericht und in politischen Versammlungen nun einmal
üblich ist: ot ye (oder dk) fici^ov reXiiog ovdlv avfÄTcaQaq^^Qovai rrjg
a^iiüG€iog Tov axoveiv, wg eld-lod^r^oav axoveiv iv Talg aywvo . . .
. . . . I . . . a£ . . aXXov . . . Ae . | ... aig avvoäoig, negl wv
exaarog iv (pQovxldi fieydXtj '^a&laraTai' o&ev ovdinoxe tovzov
58 Erstes KapiteL
TtQog TOcavTrjv avvrjd'ecav kaktag arcotad'ivzog, ooov zi %l Inaqai
idvvtj&rj TOtovTOv ^rjkdfiaTog vLBx^QtOfxivov TtavTog, oid^ 6 Ttjg
gxjjvfjg OTtodo^aerai xaqaxvriQ elg rovg TtoÄ^kovg IniTridetog^
akka 7tok)koig do^ei fialvead'ai ^Ix Ttjgy Ttqbg ttjv tcSv nokkäv
öcaTtTciaewg. Es kommt auch hier weniger auf die Worte an als auf
den Grundgedanken von Philodems Widerlegung. Es ist klar, dafs er
die von Nausipbanes gerühmte Stilrichtung des Physikers wegen ihrer
Abweichung von dem herkömmlichen rhetorischen Stil als fUr die red-
nerische Praxis unzweckmäfsig zu erweisen suchte. Auch Col. XXXllI
15 ff. ist derselbe Gedanke kenntlich: Ovav ovv — ^i] kaßt] %dv
XaQoxriJQa Trjg qxovfjg zov eid'iafxivov, und zu demselben Gedanken-
gang gehurt es auch, wenn p. 29. 19, 1 die Blindheit der an anderen
Stil gewöhnten Menge gegen die Vorzüge des philosophischen Stils mit
den Worten geschildert wird: a7toTeTvg)ka)fiiv7]g dk rijg tov tvxov-
%og ifJvxf^g TtQog ttiv aXa&rioiv avTrjg, ovdiv iaxvet nqog zovg
Tcokkovg.
Nicht nur in der äufsern sprachUchen Form {ki^ig^ elocutio)^
sondern auch in der logischen Form der Beweisführung wird, nach
der Ansicht des Nausipbanes, der Physiker alle andern Redner über-
treffen. Diesen Punkt erörtert Philodem p. 36 — 47. Es ist mir in
diesem Teil noch nicht gelungen, den Zusammenhang des Ganzen zu
verstehen. Ich mufs mich daher begnügen, das wenige kurz hervor-
zuheben, was sich schon jetzt mit Sicherheit über die von Philodem
bekämpften Behauptungen des Nausipbanes sagen läfst. Gegen Ende
des Abschnitts p. 46. 33, 7 stofsen wir auf eine sehr bemerkenswerte
Äufserung, die sicherlich dem Nausipbanes gehört: i/cel xal Taxokov&ov
Kai %o 6(xokoyovfi€vov Iv TOig koyoig IvoQav xal zivtav kr]q)&iyTiov
tL avfißaivecj kr^nviov ouTwg vno Tfjv tojv okwv didyvwatv, ak-
kcjg d^ ov voficGTiov iyyelvea&ac. Es ist dies wohl als ein Beweis für
die Überlegenheit des Physikers aufzufassen. Die Beurteilung der Reden
hinsichtlich der logischen Übereinstimmung und Folgerichtigkeit und hin-
sichtlich der Gültigkeit der in ihnen verwendeten Schlüsse, kann sich
nur der aneignen, der, wie der Physiker, die Logik in den Zusammen-
hang der Erkenntnis des Weltalls (fj %wv okiov öiayvcoaig) hineinstellt.
Dem Philodem kann dieser Gedanke nicht gehören, da er offenbar darauf ab-
zielt, die Unentbehrlichkeit der Naturphilosophie für den Hedner zu er-
weisen. Von seiner Polemik ist am Anfang von Col. XLVi ein dürf-
tiger und nicht ganz verständlicher Rest erhalten. Die Z. 8 mit ndvTa
yäg beginnenden Worte bilden die Fortsetzung der eben ausgescbrie-
Sophisük, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung. 59
benen Worte des Nausiphanes; sie konnten sich unmittelbar an jene an-
schliefsen : jiavTa yaQ ra toiavva oltzo t'^q q>vai7iijg xai fiera Xoyov tc5v
T€ adijkwv ata^fij^aecjg xal %wv vrtaQxovxvjv kTCiXoytatixijg d'CWQlag
aklaxev, akkwg d* ovöafiiig, wate %al bdti) yLvea&ai xai ovy. idlaig
xivüv ifiTteiQiaig %a 7tQayfiax^\ ^g q^aacv^ ovx elöotwv. Ich beziehe
ra Toiavta auf die Col. 33 (p. 46) aufgezählten Dinge: to aTLolov&ovy
%o ofiokoyovfxevov, to tIvwv Xriq>&ivTU)v %l ovfißalvet. Mit aXXiag
d* ovdafiwg wird das äXlwg d' ov 33, 12 nachdrücklich wieder aufge-
nommen. In den Worten wäre xal odii) ylvea&at u. s. w. liegt das
Zugeständnis, dafs eine Behandlung der logischen Disciplin ohne
Naturphilosophie möglich ist, aber sie wird keinen streng methodischen
Charakter tragen, sondern ein subjectives, empirisch angeeignetes
Können gewisser Leute sein, die selbst zugeben, von der Natur der
Dinge nichts zu wissen. Dies scheint eine Anspielung auf die Lehre
der megarischen Eristiker zu sein; wenigstens trifft das gesagte auf sie
vollkommen zu.
In dem voraufgehenden Hauplteil dieses Abschnitts von p. 36 an
handelt es sich zunächst um die Behauptung des Nausiphanes, dafs das
Beweisverfahren in der politischen Rede von dem in der Naturphilo-
sophie zur Anwendung kommenden nicht wesentlich verschieden sei.
Nur trete in der Rede an Stelle der ausführlichen und wissenschaft-
lichen eine abgekürzte Beweisform, an Stelle der Induction {iTtaywyrj)
das Beispiel {naQadeLy^a\ an Stelle der Deduction {avXXoyi^afiog) das
£nthymem. Die Begriffe sind uns aus Aristoteles bekannt, den wir für
ihren Urheber hielten. Wir erfahren hier, dafs sie schon vor ihm
vorhanden gewesen sind. Denn eine Abhängigkeit des Nausiphanes
von seinem Zeitgenossen Aristoteles ist nicht wahrscheinlich. Da der
Unterschied zwischen Syllogismus und Induction einerseits und Enthy-
mem und Beispiel andererseits kein materieller, sondern nur ein for-
meller ist, so folgert Nausiphanes, dafs wer jene beherrscht, auch diese
handhaben kann. Nur die sprachliche Ausdrucksform (ax^jf^a Xoyov)
ist verschieden, das Schlufsverfahren selbst ist beidemal das gleiche.
Wer in der Naturphilosophie richtig schliefsen und beweisen gelernt
hat, der wird es auch in der Staatsrede können. Dafs dies die Ansicht
des Nausiphanes war, entnehmen wir aus der ausführlichen Polemik
Philodems, die leider nicht so gut erhallen ist, dafs sich der ganze
Gedankengang überblicken liefse. Ich führe nur ein paar Ilauptstellen
nach Sudhaus' Ergänzung an: p. 36. 24,9 xal /aovov delv oi6(xevog
t(^ oxti^axLaat diaq^iqeiv ox^iov zov JS xoi aocpov Xoyov xal jov
60 Erstes Kapitel.
rov 7coliTixov ^i]toQog, wonsQ dtj Talg diavorjaeoi fihv ov diaq)i~
govrag tovg ttjv aXi]%9€iav xarä g)vaiv iyvwxotag tojv tvoIitixcHv
^rjTOQWv, axijfiaTi dh fiovov Xoywvy xal Tavta nqbg ovdiva Ijoyov
xareaxevaa^ivwv* TL yccQ 6 avkkoycafiog xal 17 iTtayioyfj dvvar*,
bI tccvto IL arjfialvet T(p kv&vf^T^fiazi xai TtaqadelyfiazL; ij tI to
aotpov ovTiog XaXelv xal firj ovtwg, ^Xtieq of^oliog drjkovTai. za
7tQayfia&^ ixarigug; p. 37. 25, 5 lill\ wg toixev, tcqotsqov vno-
xeia&ai del t^v twv TtQayfiatwv eHdtjoiv, el fiillet rig Iv&viiriaead'al
TL TcSv noXitixwv oQd'vSg T] dcda^eiv %6 avfiy^igov ' wad' eregov ti
^tjtiov 7C€qI xov rtjv TColiTixfjv irtLOxrifiriv %x€iv rov (pvatxov.
Als gemeinsame Eigentümlichkeit der naturphilosophischen Dar-
stellung und der politischen Rede hatte Nausiphanes das Schliefsen aus
dem wahrgenommenen (empirisch gegebenen) auf das nicht wahrnehm-
bare (z.B. das zukünftige) bezeichnet: p. 38. 26, 1 ael xQV^^f^ov dia-
XoyiOfiov ovra ix, tc5v q)av€Qwv av xal vTtaqxovxcjv neQl twv fisi,-
XovTwv, xal TOvg nQayuaTixwxaxovg ael twv JtQoeaTWTWv eXte
drj^oxQorlag «irfi fiovoQxlag eid'^ f^g drjnote TtoXitelag %oiovv(^
TQOTvq) dialoyioftov XQ^f^^^^^'S» Philodems Widerlegung dieser An-
sicht steht Col. XL. Der Anfang des Satzes mufs ergänzt werden : ov
yccQ el T<^ av%(^ XQ^"^^^ diaXoyiOfKJ) h xolg eav\xov Ttgayfiaaiv, ^
0 TtokiTixog kv xolg TtoXixixolg, dia xovxo xal x6 xov fCoXixixov
dvvaxat noielv egyov xal yaQ xolg xov yewfiixQOv ftoir^aecxo ava-
Xoyov, aXX^ ov äia xovx^ anb q)vaioXoyiag yecjfiexQijaeL' kxofievov
yaQ Ttavxl xdxa axoXovd-el x(p xwv aöijXwv xc xalg aladrjaeai ^ecj-
QovvxL xo 6iä xov q>aveQov xo aq>aveg avXXoyltead-ai. Kai noXt-
XLxog yovv xoiovxrp avXXoyiafK^ X^i^rat xal laxQog xal yewfiexQixog,
aXX^ ov dia xovxo xovxwv exaaxog xo exdaxov dw^aexat d-eutgelv,
oxL xavxo xaxa xiiv avaXoylav Iv xolg VTtoxeifievoig eavx(p noul.
Durch diese Sätze der Polemik Philodems glaube ich das über die An-
sicht des Nausiphanes bemerkte genügend begründet zu haben.
Ein weiteres Argument des Nausiphanes treffen wir Col. XLIII an.
Der Naturphilosoph, sagte er, sei in der Kunst der Gesprächführung
erfahren. Nun bestehe aber zwischen der Gesprächführung und der
zusammenhängenden Rede ein solches Verhältnis, dafs wer in der einen
Meister sei, es notwendig auch in der andern sein müsse. Auch dieser
Unterschied sei ein blofs formaler. Wer es verstehe, im Gespräch jede
einzelne Frage so zu formuliren, dafs er die Zustimmung des anoxQi-
T^ofievog erzwinge, und dabei kein Wort zu viel und keines zu wenig
zu gebrauchen, der werde auch in zusammenhängender Rede im Stande
Sophistik, Rhetorik, Philosophie ia ihrem Kampf um die Jugendbilduo;. 61
seiu, in der BehandluDg jedes eiozeloen Punktes das zur Oberzeugung
des Hörers erforderliche Mafs einzuhalten: 6 yag ^axQt^ Xoyiii xai
avveiQOfiivifi xalcig x^cjjU£vo^ agtOTa x^i^aerat xal t(Jj dia igcarrj-
aeujg %aXovfiiv(^ , %al 6 rovTtp Kaxelvip, Ott xai %b Inl tov avveir
QOfiivov yivciaxeiv fii%Qt oaov tolg axovaaai yvwQi/xov deZ nouiv
TO TthiTOv vno filav dtavoiav ravto tl iari t(jJ dvvaad^at d-etJQBlVy
fiiXQL ooov TtQozeivwv ovt' av IXXelnoL tig ov&* v7C€Qßalvoi tov
TtQoa^ovtog tov anoxQivofievov inl ofioXoylav ayvoovfiivov nqay-
ficcTog. Ein wichtiger Begriff in dieser hinlänglich klaren Erörterung
ist to Ttlmov vfco filav diavotav. Er wird in seiner Bedeutung für
die Lehre des Nausiphanes klargestellt durch das, was in der vorauf-
gehenden und folgenden Columne über die Kunst der Einteilung gesagt
wird. Sowohl in der Gesprächführung als in der Bede kommt es da-
rauf an, den Gegenstand, dessen Erkenntnis man dem Horer vermitteln
will, auf die richtige Art in xecpiXata zu zerlegen. Nur der oQ&wg
(pvoioXoyciv versteht, nach Nausiphanes, diese Kunst. Vgl. p. 43. 31, 3
xaTav€vor]K(bg fiovog av dvvaiTO xatd TrjXtxavra dtatQtiv fcgotelvai,
%a^^ oaa %b g)fjaai xal an:oq)^aaL fifj 7ce{^l twv q>avBQ(jiv oniß eiaLv,
aXXa 71€qI tiov adriXuiv %aX ddiaXrjTCTWv , volg (lavd-avovot TCQota"
%iov und p. 42. 30, 2 ovxovv taxtv advvarovj iaxvoeiv iv ixelvtp riß
TtaXaiafiaxL diaXiyead'ai tov ogd^wg q)vaioXoyovvTa, ort ovrw Ttavv
XQrjtai, xoTct TtrjXUa tivcc diaiQwv %a tov Xoyov xad"' exaata iiixQ^
TOV Ttotelv x€q)aXaiwfiaTa Ttva xara zotg rovzwv ivagy^ iTCiOTT^fitjv
arteiQyaOfiivovg. Also nur der oQ&wg (pvatoXoywv ist beiden Arten
der Rede, der zusammenhängenden wie der erotema tischen, gewachsen
Abzutrennen von dem bisher besprochenen ist die Erörterung auf
p. 48 — 50. Nausiphanes hatte behauptet, dafs die Physiologie nicht
blofs eine gute Vorbereitung für das rhetorische Studium sei und die
spätere Aneignung der rednerischen dvvafiig erleichtere, sondern diese
selbst unmittelbar erzeuge. Vgl. p. 35. XXXVJII, 12 d^Xov tolvvv
i]dr] Kai diOTi f^uQla TtoXXri rlg ioTiv to qxxaxetv evx^vg e^cv riv^
iyylvead^ai tcoXctctujüv Xoywv otco q)vaioXoylag und p. 20 Col. XXV,
11 ff., wo Philodem der Ansicht, dafs der Physiker der beste Redner
sei xa&oaov anb q^vatoXoylag eatc ttjv TtoXitix^v IfxrteiQLav %al
TYjv decvorma Ttagaylvea^at, vermittelst einer Alternative zuleibe geht:
TtOTBQOV ovv sl TtQOoXdßoi j XiyBt ^ TT^V TWV 7CoXlTlXWV TCQay/XaTVJV
IfiTteiQlav %al tov 7tXi]d^ovg natafxa&ot toifg l^iofiovg . . %al trjv
q>vacoXoylav o vrjf4a | ^aito tijv twv TtoXi-
tixwv Xoyiov dvvafitv, dvva(^ivr] tag ifineiQl^g avXXa^ßdveiv , di*
62 Erstes Kapitel.
l^ovaiv el&ig hegya^eod^at Tijg övyafiewg TavTrjg, wots (iridiv ?Tt
fj,€XiTr]g aklfjg TtQoadela&aL tov q^vaixov firjd^ laroglag nlelovog,
7CQ6g fjg fj,€Talafißdv€t Ttag ifi TtoXiti'AOlg Ttgayinaoiv avaatQ€q>6-
fievog. Ei fikv yag tu TtQoregov u. s. w. Die Alternative wird dann
der foIgendeD ErOrlerung zugrunde gelegt und zunächst die erste, dann
die zweite Möglichkeit ausführlich widerlegt. Da die zweite Behauptung
viel weiter geht als die erste, so hätte Philodem sie nicht zu wider-
legen brauchen, wenn sie nicht thatsächlich von Nausiphanes aufgestellt
worden wäre. Was er über die Beurteilung der Folgerichtigkeit und
logischen Übereinstimmung, über das Schlufs- und Beweisverfahren,
über die Kunst der Einteilung, über die Xi^ig vorbrachte, diente dem
Beweis dieser zweiten Behauptung. Es sollte zeigen, dafs man durch
Aneignung der q>vaioloyla unmittelbar auch die rhetorische ^^ig er-
lange. Dem gegenüber macht Philodem hauptsächlich geltend, dafs
für den politischen Redner praktische Erfahrung in politischen Dingen
unentbehrUch sei und dafs er nur durch diese ein politischer Redner
werde. Nausiphanes dagegen meinte, der naturphilosophisch gebildete
brauche nur die erworbene s^ig auf das politische Gebiet anzuwenden,
um ohne weiteres ein tüchtiger Staatsmann zn werden. Die Fähigkeit
dazu besitze er, auch wenn er keinen Gebrauch von ihr mache: p. 48.
34, 1 wüTe Toirov rfjv ^rjTOQix,rjv €^tv exciv xaia to €iQr^]fiivov
(pijaei zig, xav i.irjdi7cor€ Qr^roQevajj dia to fifj ngooiivai rolg
'/.oivolg. Kai yag rextovixrjv (pafiev €^iv ex^iv ov rov IvsQyomTa
fiovov oid^ €ig Ivigyeiav avTrjv anoßXiTcovxeg aXX' eig to divaad-ai
kaßoyd- vkriv xaJ ra TCQoarjy.ovi; ogyava drjfiiovQyelv to anb Trjg t€x-
Tovixrjg egyov, wg in iargix^g aal rwv äXXwv hciOTruAWv, *^'Sla%B
Ttüig ol'Xi xai Trjv ^rjTogixfjv %(j} (pvöiyL(i) q)r^aatf4€v axokovd'elv, iXtieq
äga nagaxed^ivrwv ngayfidrojv, Iv olg 6 7coXiTixdg xal grjrwg aya-
d'og oiovel drifiiovgyelv Trjv ogd-rjv örjftr^yoglav , dvvair^ av xütu
TgoTcov (iael xal rig akXog (J^orAe/^va^ 7C€gl avtwv. Da hier nicht
in Form eines Berichts, sondern in directer Rede die Ansicht des
Nausiphanes ausgesprochen wird und da im folgenden der Vergleich
mit dem Textovixog als unzutrefTend dargcthan wird, so sind wir be-
rechtigt, die ausgeschriebenen Worte als wörtliches Citat aus der Pro-
grammrede des Nausiphanes aufzufassen.
Der durch die nachgewiesenen Reste hinlänglich charakterisirte
Standpunkt des Nausiphanes ist im höchsten Grade bezeichnend für
die Entwicklungsstufe des höheren Unternchtswesens bis tief in die
Sopbistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die JogendbUdun;. 63
zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts hinein. Er zeigt uns das un-
veränderte Fortdauern des sophistischen Bildungsideals bis in diese Zeit.
Nausiphanes teilt zwar nicht den Subjectivismus und Skeptizismus der
meisten Sophisten, aber darin gleicht er ihnen, dafs er die nokttcxri öv~
va^ig, als deren Lehrer er auftritt, nicht auf ethisch-politische Wissen-
schaft begründet, sondern auf das formale Können in Rede und Ge-
sprächsfUhrung, das sich als Nebenproduct aus den naturphilosophischen
Studien ergeben soll. Auch ist er noch von jenem ungeklärten Begriff
der Ttaiöela beherscht, der Philosophie und Rhetorik in einer dem
inneren VVesen dieser Disciplinen widersprechenden Weise mit einander
verkoppelt. Die Wissenschaft wird in den Dienst der formalen Geistes-
bildung gestellt und dadurch in ihrer freien Entfaltung gehemmt. Nicht
minder wird das eigentliche Wiesen jenes rhetorischen und dialektischen
Könnens, dessen der praktische Staatsmann bedarf, von Kausiphanes
verkannt und dadurch an vollkommener Ausbildung gehindert. Die
aoq>La und Ttaidela^ die Nausiphanes vertritt, ist in ihren Wurzeln
q)vacoXoyia, in ihren Früchten qtjtoqixi] und nokizcxfj övvafiig.
Eine politische Wissenschaft scheint es für ihn nicht zu geben.
Solange bei den Lehrern der Weisheit solche Anschauungen möglich
waren, kann sich auch im Volksbewufstsein nicht die klare Scheidung
der Begriffe Philosophie und Rhetorik vollzogen haben und im Sprach-
gebrauch zum Ausdruck gekommen sein. Für die allgemeine Anschauung
war immer noch die ^r^roQixrj und Ttohrixi] dvva^tg das wesentlichste
Stück der ooq)la. Eine aoq)ia, der dieser Bestandteil fehlte, würde
der Mehrzahl der Menschen vielleicht achtungswert, aber nicht begehrens-
wert erschienen sein. Wer es in erster Linie auf die Ausbildung zum
praktischen Staatsmann und Redner abgesehen hatte, konnte sein Streben
immer noch als q)cloGoq)la^ sich selbst als yiXoaoywv bezeichnen.
Dafs Philosophie und Rhetorik vom ßewufstsein des Volkes als zwei
ihrem Wesen nach grundverschiedene Disciplinen erfafst wurden und
diese Einsicht auch den Sprachgebrauch so umgestaltete, dafs das Wort
q>ii.0G0(pLa den Sinn erhielt, den wir damit verbinden, hat erst Aris-
toteles bewirkt. Hand in Hand damit geht die Abgrenzung des Begriffs
der Philosophie gegen die Begriffe Sophistik und Eristik. Erst nach-
dem dici^e doppelte Scheidung sich vollzogen hatte und in das allge-
meine Bewufstsein übergegangen war, konnte der Ausdruck (pMooq^OL
die gangbare Bezeichnung dieser bestimmten Klasse von Lehrern und
ihres Berufs werden.
Natürlich war Aristoteles, indem er diese Scheidung der Begriffe
64 Erstes Kapitel.
vollzog, den Spuren Plalons gefolgt. Platon ist, wie wir sahen, der
erste gewesen, der die in anderem Sinne längst gebräuchlichen Aus-
drücke q)cXoooq)la, q>c3L6aoyiog, (piXoao<p€iv für die wissenschatUiche
Forschung gebraucht hat, die zu keinem anderen Zweck als um der
Erkenntnis der Wahrheit willen unternommen wird und bis zu den
letzten Gründen alles Seins vorzudringen sucht Gewifs war ihm So-
krates darin vorangegangen, dafs er für sich selbst an Stelle der so-
phistischen Weisheit nur die Weisheitsliebe, das Streben nach Weisheit
in Anspruch nahm; ihm gebührt auch der Ruhm, die wissenschaftliche
Ethik begründet und dadurch ein neues Bildungsideal aufgestellt zu
haben. Aber die volle Tragweite des Begriffs Philosophie hat er schwer-
lich geahnt. Platon hat zuerst aus der Philosophie^ wie es seine Auf-
fassung derselben erforderte, die Rhetorik reinlich ausgeschieden, die bis
dahin, um mit Aristoteles zu reden, vTteövero vno to oxijf^a to rijg
Ttohtix^g. Er hat auch gegen die sophistische Eristik durch Ausbil-
dung einer wissenschafthchen Dialektik das Gebiet der Philosophie ab-
zugrenzen gesucht. Andererseits hat er das Gebiet des philosophischen
Denkens mächtig erweitert, indem er die Einheit und Unendlichkeit der
Wissenschaft erkannte. Die wahre Wissenschaft läfst sich nicht durch
künstlich gezogene Schranken auf ein einzelnes Gebiet beschränken. Sie
mufs alle Gebiete der Natur und des Menschenlebens in ihr Bereich ziehen,
um zu einer einheitlichen, allseitig wohlbegründeten Weltanschauung zu
gelangen. Sie kennt kein vTchg fjfiag und kein oiökv rtQog fifiag. Dies ist
die positive Kehrseite zu der Ausschliefsung der sophistischen Rhetorik und
Eristik. Die Philosophie wächst über die Aufgabe der Jugenderziehung
hinaus, an der sie sich zuerst versucht hatte. Den Anspruch auf diese
giebt sie nicht auf. Aber ihr Wesen erschöpft sich nicht mehr in der
nalSevaig. Die Wissenschaft ist zwar das beste Mittel, die jungen Leute
zu einer hohen Auffassung ihrer Lebensaufgabe zu erziehen, aber diese
können ja nur von ihr kosten. Denn die Wissenschaft ist unendUch.
Nur wer ihr das ganze Leben widmet, kann es in ihr zu etwas bringen.
Ja, das einzelne Menschenleben reicht nicht, sie zu erfassen. Sie ist
auch nicht blofs erstrebenswert, weil sie zur richtigen Gestaltung des
praktischen Lebens^ des Einzellebens wie des Lebens der Gesellschaft,
anleitet, sondern um ihrer selbst willen. Durch Weisheit wird der
Mensch Gott ähnlich, wird der Wert seines Daseins unberechenbar ge-
steigert. Neben den TtQaxTixdg ßlog stellt sich der &€üJQr]Tixdg ßlog
als eine gleichberechtigte Form des höchsten Menschentumes. Darum
ist die Schule, die diese Auffassung der Philosophie verwirkUchen soll.
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung. 65
keine Abrichtungsanslalt fürs praktische Leben, sondern in erster Linie
ein den Zwecken wissenschaftlicher Forschung geweihtes Institut. Nur
accidentiell dient sie auch der Jugenderziehung und erhebt den An-
spruch, dies besser als jedes andere Institut zu thun. Von der Jugend,
die an dem Unterricht der Schule teilninmmt, begnügt sich weitaus
der gröfste Teil mit dem paucis philosophari kurzer Studienjahre^ um
den Gewinn derselben ins praktische Leben mitzunehmen; wer den
Beruf zur Wissenschaft fühlt^ bleibt in der Gemeinschaft der Schule,
bis er selbst zum Lehrer herangereift ist. So ist die Organisation der
Schule, die zu dauerndem Bestand gegründet ist, dem Bedürfnis
der unendlichen fortschreitenden Wissenschaft angepafst. Es wird ihr nie
an Nachwuchs fehlen. Denn es ist ein fester Mittelpunkt geschaffen,
um den sich alle sammeln können, die in dem gleichen Sinne weiter
lehren und lernen wollen.
Eine notwendige Folge der geschilderten Auffassung der Wissen-
schaft war es, dafs die mathematischen Disciplinen und die Naturwissen-
schaft mit der Geisteswissenschaft vereinigt wurden. Die attische (pi-
Xoaoq)ia^ wie sie in dem sophistischen Unterrichtswesen sich darstellte,
hatte diese Disciplinen vernachlässigt. Auch Sokrates war ihnen abgeneigt.
Zu dem Ideal der ftoXirixr] agenj Hessen sie sich nur durch gekünstelte
Deductionen in Beziehung setzen, wie sie uns bei dem Jonier Nausi-
phanes begegnet sind. Aber vom Standpunkt der einheitlichen und
unendlichen Wissenschaft liefs sich die Trennung nicht aufrecht er-
halten. Es mufste der Versuch gemacht werden, alles wissenschaftliche
Erkennen zu einem System zusammen zu fassen.
Es ist also zweifellos, dafs schon Piaton die Abgrenzung und die
Ausdehnung der Philosophie vollzogen hat, die ihr in der weiteren
Entwicklung geblieben ist; besonders auch die Abgrenzung gegen Bhe-
torik und Sophistik, die auf Zerstörung des sophistischen Bildungsideals
abzielte und die uns für unser Thema hauptsächlich interessirt. Aber
erst lange nach seinem Tode, erst durch die Wirkung der aristotelischen
Lehre, sind die Früchte seiner Arbeit allgemeiner Culturbesitz geworden
und hat sich das höhere Unterrichtswesen nach seiner Idee umgestaltet.
Solange er lebte, stand er mit seiner Auffassung der q)Uoao(pia allein.
Nur seine Schüler teilten sie mit ihm. Das glaube ich durch meine
Betrachtung der andern sokratischen Schulen und des Nausiphanes er-
wiesen zu haben. Ich lege dabei nicht auf den Sprachgebrauch der
Ausdrücke q>iXoaoq}elv und q)iX6aoq)og das ^Hauptgewicht. Es ist
möglich, dafs Antisthenes und Aristippos sich q>iX6(Jog)oi, ihre Be-
V. Arnim, Dio. 5
66 Erstes Kapitel.
strebungen (piXoaotfLa nannten. Aber in dem tieferen Sinne, den
Plato ihnen beigelegt hat, waren diese Ausdrtlcke keine zutreffende
Bezeichnung ihres Bildungsideals. Die Abgrenzung und die Ausdehnung
der Philosophie, die ich geschildert habe, ist bei Lebzeiten Piatons von
keinem von ihm unabhängigen Lehrer anerkannt worden. Es ist daher
die Darstellung Ciceros de orat. 11159—73, welche die Trennung des
philosophischen vom rhetorischen Unterricht (ut aln nos sapere^ afü
dicere docerent) als eine seit Sokrates fertige Thatsache und als gemein-
sames Erbe der ganzen Philosopie seit Sokrates betrachtet, ungeschicht-
lich. Getrennt von der Philosophie war schon ihrem Ursprung nach
die vulgäre Rhetorenschule, die sich begnügte ihren Zöglingen die Tech-
nologie der Gerichtsrede äufserlich und mechanisch einzupauken. Da-
gegen sind Antisthenes, Isokrates, Aristippos, Nausiphanes und nicht
minder die Eristiker ganz einig darin, dafs sie ihre Zöglinge nicht nur
sapere sondern auch dicere lehren wollen. Auf die geschichtliche Be-
deutung des ciceronischen Berichts werde ich später zurückkommen.
Die Thatsache, dafs Piaton den Begriff der Philosophie umgestaltet
und das Wort in einem neuen, ihm eigentümhchen Sinne gebraucht^,
verrät sich z. B. darin , dafs er so häufig den Substantiven q)iXoaoq)la
Attribute wie og&og, aktjd-ivog beifügt und entsprechende Adverbia dem
Verbum (piXoaocpelv. Diese Zusätze waren nötig, auch in Piatons
späteren Jahren, weil der Begriff immer noch ein fliefsender war und
weil seine Verwendung der Ausdrücke von dem allgemeinen Sprachge-
brauch abwich. Ich entnehme ein paar Beispiele aus Ast*s Lexikon:
(p i}.oöO(pi{o Phaedr. 249^ n).riv fi rov q}iXoao(priaavrog adoliog
(seil, xpvxri)» Lysis 203 D (piXoaocpwv dia navTog rov ßlov. Phaed.
67 E Tfj} ovTt aga - ol og&wg (pikoaorpovvreg oTtod'vriaxeiv fieletcjai,
Rep. V 473 D (iav inrj) dwaazai (piXoao(prjatüaL yvtjaiwg %e y.al /xa-
vwg. X 619 D e% rig ael vyuog q)ikoao(poi. Soph. 253 E r(f) Y.(t&a-
Qwg T€ xa} ömaicog (fikoao(fovvri. Phil. 57 D Tfjv twv ovrwg fpi-
loaoffovvTiov oQ/iii^v. — q)il6ao(pog. Phaed. 64B ol wg alr}&wg
cpiXoaoq^oi. 64 E 6 ye wg akrj&wg (piloaoq^og. Rep. II 376 B wg
alrj&dig (pikoaocpov. V 475 E roig ök aXrj&ivoig [(piXoaoq^ovg) ....
Tivag XiyBig; Toig rrjg aXrj&eiag .... q)iko&€a/^iovag. VI 48(5 D Irci-
hqafxova aga ipvxfjv h ralg r/Mvcig (pikoaöq^oig fnjnoTe lyngCvcof^ev.
— (piloaoq^la, Phaedr. 239 B ij ^ela q^doaocpla, Rep. VI! 521 B
tov (ßlov) tfjg alrj&ivrjg cpiloaocpLag. 521 C xpvxrig nsQiaycoyf] . . . etg
alrj^ivriv tov ovtog ovüav knavodov, tjv dfj g^ikoaofpiav aXrjdij
(pfjaofiev elvai. Sehr häufig begegnet die Verbindung cpUoaorpog (fvaig
Sopbistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf am die Jugendbildung. 67
(resp. tpvxrj). Das Adjectiv (piX6ao(fog kann wohl gelegentlich subslan-
tivirt werden, aber ein eigenüiches Substanliv ist es noch nicht geworden.
Die etymologische Bedeutung wird noch lebhaft empfunden. Auch be-
zeichnet es immer nur ein von Piaton aufgestelltes Ideal wissenschaft-
lichen Strebens, nie eine in der Wirklichkeit vorhandene, nach ihrem
Beruf 80 zu benennende Menschenklasse. Erst viel später ist das Wort
(piXoaoq^og so erstarrt, dafs es zu einer äufseren Berufsbezeichnung
werden konnte.
Es ist nicht meine Absicht, den Sprachgebrauch in alle Nuancen zu
verfolgen. Das beigebrachte genügt, um zu zeigen, dafs bis in Piatos
späteste Jahre seine Verwendungsweise dieser Ausdrücke von dem allge-
meinen Sprachgebrauch abwich. Wie hätte auch sonst Isokrates, ohne
sich lächerlich zu machen, bis in seine spätesten Jahre die Ausdrücke
in einem ganz anderen Sinne verwenden können. Uns berührt es ja
freilich seltsam, wenn dieser Mann sich Philosophie zuschreibt, weil wir
unwillkürlich die spätere Vorstellung mit dem Worte verbinden. Für
die Zeitgenossen , soweit sie nicht grundsätzlich einen andern Stand-
punkt in der Erziehungsfrage einnahmen, lag darin nichts aufTallendes
oder anstöfsiges. Eine Gberhebung konnte doch nur darin gefunden
werden , wenn er nicht dieselben Ausdrücke auf jeden beliebigen Stu-
denten der Rhetorik anwendete. Sehr bezeichnend für den späteren
Bedeutungswandel ist die Äufserung des Menedemos bei Plut. de prof.
in virt. 10 p. 81 F: xatOTtkeiv yaQ €(pr] tovq nokkovg inl axoXrjv
'uä&f]va^€ aoffoig tb 7cguii;ov, elxa ylyveo&ac (piXoo6q)ovQ, xov xq6~
vov de Ttgo'iovTog Idnorag, oöuj /iiakkov amovrai tov koyov, fiäX-
kov to oir^/xa xai tov tv(fov xaTaziS-efiivovg. Nun konnte schon der
(pikoaorpog zum idiWTrjg in Gegensatz gestellt werden und sich selbst
so zu nennen, war bei einem Studenten ein Zeichen von Aufgeblasenheit.
Jn der Zeit, wo in Athen Aristoteles und Xenokrates lehrten, hatte
sich dieser Bedeutungswandel vollzogen. Indem die Sache sich durch-
gesetzt und soweit verbreitet hatte, dafs sie vom Volksbewufstsein
in ihrem Wesen erfafst werden konnte, war auch der entsprechende
Sprachgebrauch fest und weiterhin starr und äufserlich geworden.
Wenn im drittjen Jahrhundert Timon sämtliche Philosophen, die er zur
Zielscheibe seines Spottes macht, als Sophisten bezeichnete, so wurde
das von ihren Erben und Nachfolgern als bittere Verunglimpfung em-
pfunden. Andererseits konnte sich im dritten Jahrhundert kein Rhetor
mehr herausnehmen, sein iTVLTrjöevfia Philosophie zu nennen, während
der Ausdruck oocpioxal für die Rhetoren stets in Gebrauch blieb.
68 Erstes Kapitel.
Die Ursache des veränderten Sprachgebrauchs lag in den that-
sächlich veränderten Verhältnissen des gesamten Unterrichtswesens. Die
platonische Auffassung der Philosophie und die durch sie bedingte Ge-
staltung der Philosophenschule war nicht auf die Akademie beschränkt
geblieben. Sie hatte zuerst in der peripatetischen Schule, dann auch
in den beiden grofsen nacharistotelischen Schulen, Stoa und Garten,
Nachahmung gefunden. Dafs die vier grofsen Schulen, die seit dem
Ende des vierten Jahrhunderts in Athen bestanden und das wissen-
schaftliche Leben beherrschten, alle neben der Ethik auch Logik und
Physik lehrten und alle die sophistische Rhetorik und Eristik aus dem
Gebiet der Philosophie ausschlössen, darf als vollständiger Sieg der pla-
tonischen Auffassung angesehen werden. Das sophistische Bildungs-
ideal war überwunden und ist erst viel später unter ganz anderen
Culturbedingungen in modificirter Gestalt wieder aufgelebt. Da die
Eristik, durch die aristotelische und stoische Logik überwunden, im
Lauf des dritten Jahrhunderts ganz versiegte, da auch ein Mittelding
zwischen philosophischer und rhetorischer Ausbildung, wie es die alle
Sophistik geboten hatto, von der aufgeklärten Zeit nicht mehr geduldet
wurde, so bbeb von der Sophistik nichts anderes übrig, als die vulgäre
Rhetorenschule. An ihr blieb denn auch der Name der Sophistik
haften, wie man sich aus Philodem leicht überzeugen kann. Aus ihr
ging in der Kaiserzeit eine neue Sophistik hervor.
Das Verhältnis der einzelnen Philosophenschulen zur Rhetorik ist
zwar ein mannichfach verschiedenes, sowohl hinsichtlich der Wert-
schätzung als hinsichtlich des eigenen Lehrbetriebes. Aber darin sind
sie alle einig, dafs sie die Sophistik und rhetorische Philosophie ver-
werfen, der Philosophie selbständige, über die blofse praktische Aus-
bildung zur nolttiTCTj agenj hinausreichende Aufgaben stellen und die
rhetorische Ausbildung, soweit sie ihr überhaupt einen Wert beimessen,
als ein niedrigeres Bildungsziel neben das höhere der Philosophie stellen.
Die praktische Folge war, dafs die Rhetorenschule nicht mehr mit der
Philosophenschule als solcher, die ein Wesen anderer Ordnung geworden
war, sondern höchstens noch mit dem Rhetorikunterricht, den einige
Philosophen erteilten, rivalisiren konnte, im allgemeinen aber eine
selbständige und von der öffentlichen Meinung anerkannte Stellung
neben der Philosophenschule einnahm.
Vor allem ist es wichtig für unseren Zweck, das Verhältnis des
Aristoteles zur Rhetorik richtig aufzufassen. Da gerade er auch die
Rhetorik als Unterrichtsgegenstand in den Lehrplan seiner Schule auf-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildong. 69
genommen hat, so kann es zunächst parodox scheinen, wenn ich ihm
das Verdienst zuschreibe, die Philosophie für immer aus der drückenden
Umarmung der Rhetorik befreit zu haben. Aber eben dadurch, dafs er
diese Disciplin selbst bearbeitete, hat er ihr Verhältnis zur Philosophie
endgültig geklärt und für die Zukunft der für beide Teile schädlichen
Vermischung vorgebeugt.
Über den Begriff der ooq>la ist Aristoteles mit Piaton ganz einig.
In dem ersten Kapitel des ersten Buches der Metaphysik entwickelt er,
dafs nur die auf Ursachen und Principien bezügliche Wissenschaft auf
den Namen aocpLa Anspruch hat: o%l ftkv ovv 17 ooq>La TteqL Tivag ahlag
xaiaQxds eoriv ematrjfir], öijlov. Das beste Recht auf diesen Namen
hat diejenige Principienwissenschaft, die von den ersten und allgemein-
sten Principien handelt, 17 TcJy TtgciTcov clqxwv xa^ altcwv &€WQi^ttiirj,
Diese Wissenschaft in ihrer objectiven Vollendung gedacht ist die aoq>la
%ttt iSoxrjv oder TtQOJTr] aoq)ia; die Forschung, die nach diesem Wissen
strebt, die Wissenschaft im subjectiven Sinne von den obersten Principien
ist die TCQtjvri q>iXoGoq>La. Hierin liegt, dafs Aristoteles auch eine weitere
Anwendung des Begriffs ooq>la zuläfst. Er kennt eine Gradation ver-
schiedener aoq)lai, in denen je nach der Würde des Gegenstandes und
der Exactheit des Erkennens das Wesen der ooq>la mehr oder weniger
vollkommen verwirklicht wird. Je allgemeiner der Gegenstand ist, je
weiter er von den Gegenständen der Erfahrung (den nQwta TtQog fjfiag)
abliegt, um so höher ist seine Würde; um so gröfser ist auch die
Exactheit der Erkenntnis. Daher sagt Aristoteles Metaph. III, 3 p. 1005b 1
eOTi dh ooq>La rtg xal t] (pvaixrj , akX* ov TtQüJTt], Untrennbar ist
der Begriff der aocpla (also auch der q)iXoaoq>la) mit dem des Wissens
verbunden: Metaph. 1, 1 p. 981 a 26 (!)g xara %6 eidivat fiakXov mokov-
d-ovaav T^v aoq)lav Ttaoiv Elh. Nicom. VI, 7 p. 1141a 16 wate dijkov
OTi fi axQißeGTdtrj av rwv kTCcorrjfiwv eXrj f] aoq>la. Dasselbe gilt
von der q}iXoaoq>la, Es können daher Rhetorik und Dialektik, die
nicht kTtiOTrjfiai, sondern övvd^eig sind, nicht zu den xard (piXo-
ooq>Lav Xoyoi gerechnet werden. Wenn wir dies für die Dialektik
durch eigene Äufserungen des Aristoteles erweisen, so gilt dieser Nach-
weis zugleich auch für die Rhetorik, deren Stellung zur Wissenschaft
nach aristotelischer Auffassung die gleiche ist. Denn 1^ ^rjTogtxrj Iotiv
avTloTQoqfog xfj öiakexTiKrj. Dafs die Dialektik nicht zur Philosophie
gehört, lehren folgende Stellen: Metaph. III 2 p. 1004b 22 TtSQi fiiv
ycLQ To avTO yivog avQiq)ej:ai rj aoq)iaTi7irj xal tj dialexrixi] %fj
(fikoao(pl(jf, aXkd dcacpigei rrjg (ilv T(p tQom^ r^g dvvdfiewg, xrjg
70 Erstes Kapitel.
öi tov ßlov Tfj TtQoaiqiaei? eatt dk ij öiaXeyLTixfj neiQaGTixrj, tccqI
wv ij q>LXoaocpLa yvwQiaTixrj, Top. I 2 p. 101a 26 xQV^^f^^S V ^Q^T'
fiatela TtQog rgla (Dämlich die Dialektik), ftQog yv/xvaalav, ngog rag
irrev^eig, TtQog rag xara q^iXoaofflav iniovrnxag. nqog dk
rag xata (fiXoooq^Lav kniOTtmagy ort dvvafievot TtQog afxq>6TeQa
ÖLaTrogrjaai ^^ov iv ixaOTOig %aT0\p6fxe&a Taltj&ig ve aal %6 tpevdog.
Top. I 14 p. 105 b 30 ngog fiev ovv fpiXoaoq^lav %cn aki^&eiav negi
avTwv TtgayfiatevtioVy diakexTixiSg äk TtQog Öo^av. Die der Rhetorik
mit der Dialektik gemeinsamen Eigentümlichkeiten, durch die beide von
den eigentlich philosophischen Disciplinen sich unterscheiden, sind
folgende. Beide haben nicht ihren besonderen, ihnen eigentümlichen
Gegenstand , sondern die dialektische wie die rhetorische diva^ivg ist
auf die verschiedensten Gegenstände anwendbar. Beide sind also rein
formale Disciplinen, die gewisse Arten der Beweisführung lehren. Von
der wissenschaftlichen Beweisführung unterscheiden sich sowohl die
dialektische als die rhetorische Beweismethode dadurch, dafs sie nicht
von Principien oder erwiesenen Prämissen ausgehen, sondern ihre Prä-
missen der gewöhnlichen Meinung der Menschen entlehnen. Sie lehren
daher nicht, ein Wissen von den jedesmal behandelten Gegenständen zu
erzeugen, sondern bewegen sich ausschliefslich auf dem Gebiet der 66^a.
Vgl. Rhetor. I 4 p. 1359 b 12 oa(^ d' av ttg rj Trjv öiak€KTixr]v rj
ravTtjv firj xad^arteg av dvvafieig aXV iTtcanji-iag Ttetgarai xara-
ox€vd^€iv, Xrioezai Trjv (pvatv avTwv aq>avLaag t(p fieraßalvetv Itci-
aneva^wv eig i/ciOTi^fiag v7C0K€ifiivwv nvwv ngayfiaTioVj akkä fifj
fiovov koywv. Beide haben daher auch im Gegensalz zu allen anderen
rixvat die gemeinsame Eigentümlichkeit, dafs sie entgegengesetzte Be-
hauptungen zu beweisen lehren. Rhet. I 1 p. 1354 a 33 twv fihv ovv
akkiov zexviüv ovösfÄia ravavrla avXkoyiCeTai, rj äi ötaXeKtixrj xal
Tj ^rjTOQixfj fAovac TOVTO Tcotovaiv, ofAoiüjg yoLQ elaiv cc^q^oTcgat tcSv
ivavtiwv. Beide stehen in einer gewissen AbhäDgigkeit von der Analytik,
der Lehre vom wissenschaftlichen Beweis; und zwar steht der öiak&iTixog
avXXoyiOfxog dem wissenschaftlichen Beweis näher als die rhetorischen
Beweisformen, Beispiel und Enthymem,' welche Abbreviaturen der In-
duction und des Syllogismus sind.
Das gesagte wird ausreichen, um zu beweisen, dafs Aristoteles auch
die Rhetorik nicht als einen Bestandteil der Philosophie angesehen hat;
sie steht entschieden in einem noch loseren Zusammenbang mit der
Philosophie als die Dialektik. Die Dialektik ist wenigstens XQYioiiAog
fcgög Tag xorra (pih)Ooq>lav eTtiarr^^ag^ während der Nutzen der
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jogendbildun;. 71
Rhetorik auf dem praktischen Gebiete liegt. So vernichtet Aristoteles
den Anspruch der Rhetorik, als Hauptbestandteil und vollkommenste
Äufserung der aoq)la zu gelten und giebt ihr die Stellung einer aufser-
balb der eigentlichen Philosophie stehenden Nebendisciplin. Besonders
zieht er eine scharfe Grenzlinie zv?ischen ihr und der ethisch-politischen
Wissenschaft, indem er sagt p. 1356a 27 dio xal vnoövBxat vno %b
oxfjfia %b TTJQ Tcohtixrjg 17 ^tjtoqixtj xal ol avtmoLOVfievoi TavTrjg
ta fiev Öl' aTtaiöevalav ta ök di aXa^ovelav ra di xal di akkag
ahlag av&QWJtixdg, Über die Gegenstände der politischen Beratung
die Wahrheit zu ermitteln ist, nach p. 1359 b 2, nicht Sache der Rhetorik,
alk" l^(pQOvea%iQag xal fiäXXov ah]d'cvrjg (scW.Tixvrjg). Das sophistische
Bildungsideal ist es, dem Aristoteles hier den Krieg erklärt, dem er
anaidevaia und aka^ovHa zum Vorwurf macht; jene einheitliche
aoq)la, die ihre Zöglinge nur denken lehrt, damit sie sprechen lernen.
Bis hierhin befindet sich Aristoteles in Übereinstimmung mit Piatons
Gorgias und Phaidros: und auch das erinnert an Piaton, dafs er eine
schmale Brücke zwischen der Wissenschaft und der Rhetorik stehen
läfst, indem er ihre Abhängigkeit von der Analytik betont. Aber eine
starke Abwcichuug von seinem Lehrer ist es, wenn er so stark die Nütz-
lichkeit der Rhetorik betont und, was damit zusammenhängt, sie in den
Lehrplan seiner Schule aufnimmt. Es zeigt sich hierin seine realis-
tischere Denkuugsweise und zugleich die Universalität seines Geistes.
Was nützen uns wissenschaftliche Beweise, wenn es gilt, die Richter
zu einem gerechten Richterspruch, Volk oder Rat zu einem nützlichen
Entschlufs zu bewegen? Von einem Redner wissenschafthche Beweise
zu fordern, ist ebenso thöricht, wie in der Mathematik Wahrschein-
lichkeitsbeweise zu dulden. Dafs die Rhetorik nützlich ist, ist klar.
Die menschliche Gesellschaft hat doch ein starkes Interesse daran, wie
die Entscheidungen der Gerichte und politischen Körperschaften aus-
fallen. Wir halten es für schimpflich, wenn Jemand nicht im Stande
ist, sich mit seinen Gliedmafsen zu verteidigen; wie sollte es minder
schimpflich sein, sich mit Worten nicht verteidigen zu können! Die
Möglichkeit des Mifsbrauchs darf uns nicht von dem Studium dieser
Kunst abschrecken, denn sie teilt sie mit allen Gütern, mit Ausuahme
der Tugend. In der Hand des wackeren, sittlich durchgebildeten Mannes
wird diese Waffe kein Unheil anrichten.
Aristoteles hat sich durch den bedeutsamen Schritt, im Widerspruch
mit der platonischen Tradition, neben dem philosophischen auch rheto-
rischen Unterricht zu erteilen, zahlreiche Anfeindungen zugezogen, von
72 Erstes Kapitel.
Seiten der Isokrateer sowohl wie seiner philosophischen Collegen. Aber
diese von Neid und Eifersucht eingegebenen AngrifTe waren unberech-
tigt. In dem ersten Kapitel seiner Rhetorik hat Aristoteles eine stich-
haltige Rechtfertigung seines Verhaltens gegeben. Aus dem Verhältnis
in dem die Rhetorik nach aristotelischer Auffassung zur Philosophie
steht^ ergiebt sich zwar keine Nötigung, dafs ein und derselbe Lehrer
beide vertreten roufs, aber auch ebenso wenig ein Bedenken dagegen.
Nicht auf die Personenfrage kam es an, ob derselbe Lehrer beide
Fächer lehrte, sondern auf die klare Scheidung der Fächer selbst; und
gerade diese hat Aristoteles durch seine eigne Behandlung der Rhetorik
gefordert. Während die Vereinigung der beiden Unterrichtszweige in
einer Hand bei den übrigen Philosophenschulen keine Nachahmung
fand,') sondern auf den Peripatos beschränkt blieb, hat ihre Scheidung
die folgende Periode der Unterrichtsgeschichte beherrscht. Es konnte
nun kein Isokrateer mehr seinen Unterricht als Philosophie an den
Mann bringen oder behaupten, dafs die Schüler bei ihm eine aus-
reichende Einsicht in die menschhchen Dinge gewönnen. Denn das
Vorhandensein einer hochentwickelten ethischen resp. ethisch-politischen
Wissenschaft war zu offenkundig, um sich auch ferner ignoriren zu
lassen. Es konnte auch kein Nausiphanes mehr auftreten, der seinen
Schülern politische und rednerische dvvafiig als Frucht naturphilo-
sophischer und mathematischer Studien in Aussicht stellte. Auch die
von den Eristikern vertretene pädagogische Theorie, dafs die Fertigkeit
in der Gesprächführung die beste Ausbildung zur TtokiTix'^ äger^ sei,
war nicht mehr haltbar. Es mufste vielmehr allen Einsichtigen jetzt
klar werden, dafs der rhetorische und der philosophische Unterricht,
als getrennte Unterrichlsßlcher neben einander bestehend, am besten zu
dem gemeinsamen Ziele der Erziehung zusammenwirken könnten. Die
alte Pädagogik hatte nur das eine Ziel gekannt, ihre Zöglinge für die
Anforderungen des Lebens, wie es nun einmal ist, zu erziehen. Die
neue Pädagogik glaubt nur dann ihre Aufgabe zu erfüllen und ihre
Zöglinge zu Menschen zu machen, wenn sie sie aufserdem mit einer
weit über das unmittelbare praktische Bedürfnis hinausgehenden Er-
kenntnis ausstattet und sie dadurch befähigt, an der Vervollkommnung
des Lebens mitzuarbeiten. Diese von Sokrates und Piaton geschaffene
neue Pädagogik hat erst in der aristotelischen Zeit gesiegt und während
der folgenden Periode geherrscht.
1) Dafs die stoische Rhetorik etwas ganz anderes ist, wird spater gezeigt werden.
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf uro die Jugendbildang. 73
Ganz ähnlich wie das der Rhetorik bat sich das Verhältnis der
Grammatik und Litteraturgeschichte zur Philosophie entwickelt. In der
Sophistik des fünften und vierten Jahrhunderts waren die vorhandenen
Keime dieser Wissenschaft nicht zu selbständiger Entfaltung ihres
Wesens gelangt, weil sie von dem pädagogischen Ideal geknechtet
wurden. In der peripatetischen Schule sind sie neben der Philosophie
und in losem Zusammenhang mit ihr so gepflegt worden, dafs ihre
Entfaltung zu einer selbständigen Wissenschaft in Kos und Alexandreia
möghch wurde. Die Folge dieser Entwicklung für die Pädagogik ist
auch hier gewesen, dafs die Grammatik als ein selbständiger, durch be-
sondere Fachlehrer vertretener Unterrichtsgegenstand in die höhere
Jugendbildung eingeführt wurde. Doch es gehört nicht zu meinem
Thema, diese Entwicklung im einzelnen zu verfolgen. Es soll nunmehr
aus der Stellung, die in nacharistotelischer Zeit die einzelnen Philo-
sophenschulen zur Rhetorik einnehmen, die Richtigkeit der vorgetragenen
Grundanschauung erwiesen werden.
Epikur steht hinsichtlich des Verhältnisses der Rhetorik zur Philo-
sophie insoweit auf demselben Standpunkt wie Aristoteles, als auch er
die Rhetorik von der Philosophie ausschliefst. Aber er geht über ihn
hinaus, indem er sie auch neben der Philosophie nicht als Unterrichts-
gegenstand duldet, sondern die Reschäftigung mit ihr für schädlich er-
klärt und seinen Schülern aufs entschiedenste widerrät. Ebenso ab-
lehnend verhält er sich gegen die übrigen ^adri^iara. Schon als ganz
junger Mann, als er in Teos die Schule des Nausiphanes besuchte,
nahm er Anstofs daran, dafs sein Lehrer rhetorischen und mathema-
tischen Unterricht mit dem philosophischen verband. Er fafste die
Philosophie von vornherein auf als die Rildung des Menschen zur indi-
viduellen Glückseligkeit. Den Trieb nach Erkenntnis um ihrer selbst
willen fühlte er nicht in sich. Nur als Mittel, die Gemütsruhe zu ge-
winnen und vor jeder Störung durch mafslose Regierden, Aberglaube
und Todesfurcht zu sichern, schätzte er die Wissenschaft. Alle wissen-
schaftlichen Untersuchungen, die nicht direct oder indirect diesem
Ziele dienten, verwarf er. Jenes Ideal der Schmerzlosigkeit und unge-
störten Gemütsruhe läfst sich, seiner Meinung nach, nur in der Stille
des Privatlebens verwirklichen. Wer sich an dem pohtischen Leben
beteihgt^ giebt seine Gemütsruhe tausend Gefahren und den Launen der
unverbesserlichen Menge preis. Der Weise wird diese Gefahren meiden :
oi TtoXixevOBxai b oocfog. Warum sollte er also Rhetorik treiben?
Auch für die Verteidigung vor Gericht hält Epikur die rhetorische
74 Erstes Kapitel.
Ausbildung für tlberflttssig. Denn abgesehen davon, dafs der Weise im
allgemeinen den Sykophanten wenig AngrilTspunkte darbietet, wird er
sich schlimmsten Falles auch ohne Rhetorik eben so gut zu verteidigen
wissen, wie der Zögling der Rhetorschule , die ja auch keinen zuver-
lässigen Schutz gegen ungerechte Verurteilung verleiht.
Diese Stellungnahme Epikurs zur Rhetorik und ihre Begründung
ist etwas ganz neues. In der unbedingten Verwerfung des rhetorischen
Unterrichts kommt dem Epikur kein anderer älterer Philosoph so nahe,
wie Piaton. Der tiefgreifende Unterschied liegt darin, dafs Epikur zu-
gleich mit der Rhetorik auch die politische Wissenschaft verwirft, der
Piaton den besten Teil seiner Lebensarbeit gewidmet halte. Es ist
nicht ausgeschlossen, dafs Epikur zu seiner die Rhetorik ausschliefsen-
den Auffassung des Begriffs Philosophie durch seinen ersten philoso-
phischen Lehrer, den Platoniker Pamphilos, mitbestimmt worden ist.
Wenn er später diesen Mann mirifice contemnit, so beweist das natür-
lich nicht, dafs er von ihm ganz uubeeinflufst blieb. Man roufs doch
fragen, wo Epikur seinen Begriff von der Aufgabe der Philosophie her-
genommen hat, den er in die Schule des Nausiphanes bereits mit-
brachte. Wenn er dann noch einen Schritt weiter ging und auch die
Politik von der Philosophie ausschlofs, so war dies ein Ergebnis seiner
persünhchen, aus den Zeitumständen geschupften Lebenserfahrung.
Dafs ein bedeutender Mann in der Abkehr von den Olfenthchen Dingen
den einzig gangbaren Weg zur individuellen Glücksehgkeit suchen
konnte, war in den allgemeinen Culturverhältnissen begründet.
Philodem ist bekanntlich in seiner Schrift negl ^rjroQixrjg eifrig
bemüht nachzuweisen, dafs Epikur zwar die Nützhchkeit der Rhetorik
für das Auftreten vor Gericht und für die staatsmännische Thätigkeit
bestreite^ nicht aber der sophistischen Rhetorik als solcher den Charakter
einer r^/viy abspreche. Diese mit spitzfindigster Rechthaberei in wort-
reicher Breite durchgeführte Erörterung Philodems ist mehr für seine
eigene Zeit, als für die Epikurs von Bedeutung. Es handelt sich da-
bei um einen Punkt, über den sich Epikur offenbar nicht data opera
ausgesprochen hatte. Philodem mufs daher ziemUch halsbrecherische
Interpretationskunststücke ausführen, um seine These aus dem Wort-
laut Epikurs zu beweisen. Aber soviel können wir doch aus Philoderas
Erörterungen für Epikur selbst entnehmen^ dafs sich die Spitze seiner
Schrift ^c€qI ^tjtoQixijs nicht gegen die Rhetorschule als solche, sondern
nur gegen ihre angebUche Nützlichkeit für den avt]Q 7cokLTix6g lichtete.
Dafs Epikur in der Schrift tcsqI Qt^toQixf^g, wie Philodem sagt (Vol. I
Sophistik, Rhetorik, Philosophie ia ihrem Kampf um die JugendbilduDg. 76
p. 78): öiaTekei Xiyojv „ra öidaaxakeia rtiv QrjroQLyLwv'^ aal „rovg
Ix TLüv öidaaxaXelwv^^ xal ,,Ta(; dvvafxeig rag ex rwv öiöaoKakelwv'*,
TtQog 6k TOVToig „Tag ix twv didaoxaXelcjv evfiOQq)Lag^\ xai —
yfTtQoyfxarelav^^ avrwv real rag „rtagadooeig xai naQayyekLag 7C€qI
%e Xoyov xal Ivd-vfxrifxaxiov xai twv akXwv'^ xa* %avakoya navra
Tovroig, können wir wirklich nicht als einen stichhaltigen Beweis für
Philodems Behauptung gelten lassen, dafs Epikur der sophistischen
Rhetorik den Charakter einer rixyrj zugestand. Er hatte sich auf
diese Doctorfrage garnicht eingelassen, sondern sprach von dem rheto-
rischen Unterricht nur, um zu beweisen, dafs er für das Auftreten vor
Gericht und für die Thätigkeit des politischen Redners keine ausreichende
öuvafxig verleihe, da hierbei alles auf ovvrj&eiay rgißn] und IotoqIo
%iüv TtoXemg TtQayf^aTOJv ankomme. Andererseits läfst sich aus der
Stelle des Symposion, die Vol. I p. 10211. so ausführlich behandelt wird,
wie Philodem mit Recht hervorhebt, auch nichts anderes schliefsen,
als dafs Epikur für die Erlangung der rhetorischen dvvafxig viele prak-
tische Routine {rtokk^ ''^Q^ßjl ^^ri avvr^&eia) für erforderlich hielL
Eine Entscheidung über jene Doctorfrage enthält die Stelle nicht.
Aber gerade dieser Umstand, dafs weder Philodem noch sein Gegner
in dem schriftstellerischen Nachlafs Epikurs eine Stelle aufzufinden ver-
mochten, in der der rhetorische Unterricht hinsichtlich seiner Methode
charakterisirt wurde, zeigt uns, dafs die Schrift ticqI ^rjtoQixfjg nicht
den Unterricht der Rhetorenschulen überhaupt verwarf, sondern nur
vor übertriebenen Hoffnungen bezüglich der praktischen Tragweite des
erlernten warnte. Vol. i p. 121 hören wir, dafs Epikur erklärte, die
sophistische Rhetorik und die praktische Beredsamkeit hätten garkeine
Berührung mit einander und der Besuch der sophistischen Rhetoren-
schule nütze nichts für die Aneignung der TtokiTLxr) e^ig {teXelug
av€7tifX€lKT0vg dtdaaxwv rag dvvafxetg xal avveQyovaag ovdkv eXg
ye rrjv e^tv ti)v TtoXinxfjv tag dtaTQißdg) und Vol. I p. 32 ff. steht
ein langes Epikurfragment (Usener Frg. 53)^ in dem ausgeführt wird,
wie die Leute zu der falschen Auffassung von der Nützlichkeit des so-
phistischen Unterrichts für den Gerichts- und Staatsredner kommen
und dann nachher die Erfahrung machen, dafs sie ihr Geld weggeworfen
haben. Aber nirgends kann in Epikurs Schriften eine Stelle vorge-
kommen sein, wo die NützUchkeit der Rhetorenschule für den Schrift-
steller und epideiktischen Redner geleugnet wurde. Denn sonst wäre die
Stellungnahme Philodems zu dieser Frage und seine ganze Argumen-
tation undenkbar. Es ergiebt sich also die Wahrscheinhchkeit, dafs
76 Erstes Kapitel.
Epikur der Rhetorenschule eine gewisse Berechtigung zugestand. Nur
ihre Verbindung mit der Philosophie war ihm anstofsig und ihre Nütz-
lichkeit für die gerichtliche und politische Thätigkeit bestritt er. Zur
Aneignung einer rein künstlerischen und schriftstellerischen Fertigkeit
mochte er sie geeignet finden.
In derselben Richtung bewegen sich die von Philodem erwähnten
Äufserungen des Metrodoros und Herroarchos über die Rhetorik. Metro-
doros hatte in einer besonderen Schrift, wie schon erwähnt, die Ansicht
des Nausiphanes bestritten. Die Stelle aus dem ersten Buch neQi
TtoirjfxaTCJv , auf die sich Philodem Vol. I p. 85 IT. hauptsächlich benifr,
ist leider zu schlecht erhalten, um ein klares Verständnis des Inhalts
zu erlauben. Aber erstens ist klar, dafs auch hier die Ansprüche der
Schulrhetorik auf Nützliclikeit für gerichtliche und politische Wirksam-
keit abgewiesen wurden. Vgl. p. 87 tovvavrlov öh\ .a . , TcaQaöet'KVVwv
QQaoviAoxov xai akkovg ovx oXlyovg tlZv doxovvrwv rag Toiairccg
exsiv Xoywv nokirixwv rj ^rjroQiiiiuv xixvag ovdkv wv (paoiv exeiv
%ag vixvag avvteXovvrag erat, (ig av akkov filv oV,
Xoyov 'ex^iv xal naig av xal Ix tIvujv yivoiro xakllart]
^riTOQela, akkov dk t6 nakwg ^rjTOQevetv. Zweitens ist klar, dafs
Metrodor die sophistische Rhetorik eine dvva^uig genannt hatte. Denn
p. 89 Col. LH, 3 ist zu ergänzen: xai ^17 rix^ ^^^ dvvafiig 6fX(x)vvfx(ag
Xiyovtai u. s. w. Von Ilermarchos wird ein Brief an Theopheides aus
dem Archontat des Menekles Vol. I p. 780*. citirt, der (in einer Polemik
gegen eine Äufserung des Alexinos) dieselbe Ansicht angebhch enthalten
soll. Auch diese Stelle ist sehr schlecht erhallen. In den verständ-
lichen Sätzen ist es mir nicht gelungen, eine Bestätigung der Auffassung
Philodems zu entdecken.
Fassen wir kurz zusammen, was sich aus dem gesagten über die
Stellung des älteren Epikureismus zur Rhetorik ergiebt. In Übereinstim-
mung mit Piaton und Aristoteles verwirft die epikureische Schule das
sophistische Bildungsideal, das durch den Mangel strenger begrifflicher
Scheidung der Philosophie und Rhetorik charakterisirt ist. Dagegen
läfst sie die Rhetorik als einen von der Philosophie grundverschiedenen,
ganz andere Ziele verfolgenden, in keiner inneren Beziehung mit ihr
stehenden Unterrichtsgegenstand gelten. Dies ist der Punkt, auf den
es für unseren Gedankenzusammenhang ankommt. Es soll gezeigt
werden, dafs in dieser Zeit die Unterscheidung der Philosophie von der
Rhetorik und die Anerkennung der Rhetorik als eines selbständigen
Unterrichtsgegenstandes neben der Philosophie allgemein wurde. Nicht
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbiidung. 77
darauf kommt es an, ob Epikur dem WeisheitsjüDger das Studium der
Rhetorik neben dem der Philosophie empfiehlt, auch nicht darauf, ob
er den Unterricht der Rhetorenschule für eine brauchbare Anleitung
zur Gerichts- und Staatsberedsamkeit hält, was er beides bekanntlich
nicht thut, sondern darauf, dafs er die Rhetorenschule als eine andern
Zwecken dienende Anstalt neben der Philosophenschule gelten läfst. Er
bekämpft die Rhetorik nicht mehr, wie Piaton, als die Rivalin der Philo-
sophie, die selbst auf den Namen (piXoooq)La Anspruch erhebt, sondern
als eines der kyniuXia ^a&ri^a%ay und verwirft sie als solches, wie er
alle IpLvxXia fia&rjfxata verwirft. Insofern ist die Stellungnahme
Epikurs zur Rhetorik ein wichtiges geschichtUches Zeugnis für die in
dieser Zeit erfolgte Auflösung des sophistischen Rildungsideals in eine
Reihe selbständiger, neben einander berechtigter und durch verschiedene
Lehrer zu vertretender Unterrichtsgegenstände.
Die Stoa weicht insofern von Plato, Aristoteles, Epikuros ab, als
sie die Rhetorik in den Zusammenhang der Philosophie einbezieht. Wir
wissen nicht, wer die evioi sind, die nach Diog. La6rt. Vil 41 to loyi-
xov ixiQog (paalv eig ovo diaiQsiad'ai iTttotijfiag, elg QrjTOQix^v xal
elg dtaleycTixT^v. Dafs aber die Auffassung der Rhetorik als Unter-
abteilung des koyixov f^iQog der Philosophie zum ältesten Restande der
stoischen Lehre gehört, schliefsen wir aus der Sechsteilung des xavä
q>iXoaoq>lav Xoyog, die bei Diog. Laärt. Vi! 41 für Kleanthes bezeugt ist:
y§ fii^rj q>rjalVf diaXenxiKov, qtjtoqixov, rid-iKov, TtoXiriKov, q)vaiii6v,
^eoXoyiTcov. Denn die Sechsleilung ist mit der Dreiteilung in koyixov,
rj&ixovy q>vaiM6v im Grunde identisch. Wie Aristoteles stellen die
Stoiker die Rhetorik mit der Dialektik zusammen. Nach Sopatros V
p. 15 W. nannten sie sie geradezu mit dem aristotelischen Ausdruck
avTla%goq>ov rfj diaX€x,Tiiiij, Die Entlehnung des Ausdrucks mag jün-
geren Stoikern gehören: die Anschauung selbst ist für die älteste Stoa
nachweisbar. Denn sie liegt dem bekannten Apophthegma Zenons zu-
grunde, der nach Sext. adv. rhet. 7 kQCJTtj&eig OTcp diaq)iQ€L öiaXen-
tix^ ^rjTOQtxFjg, avoxqixpag Trjv xeiqa xori TtdXiv k^auXiiaag eqnj
„TOv%(p^^f xata ixev rriv ovatQoq)^v ro OTQoyyvXov xal ßQoxv rrjg
diaXexrixfig Tattwv Idlwfxa, dia dk T^g i^a7cX(jio€a)g xai iKzaaecjg
Tc5y daxTvXwv x6 TtXatv t^g ^rjtoQix^g dvvafxeuig aivcxToixevog. Die
Rhetorik wird Diog. a. a. 0. 42 definirt als iTtiOTT^firj tov ev Xiyeiv
Ttegl Twv kv 3i€^6d(p Xoycjv, die Dialektik als kniorrjfxri %ov oQ^cig
diaXiyea^ai Ttegl vwv kv kgoni^aei xori aTCOXQlaei Xoyiav. Aus Sextus
adv. rhet. 6 ergiebt sich, dafs die Worte neQl twv u. s. w. in beiden
78 Erstes Kapitel.
Definitionen spätere Zusätze sind. Die Ausdrücke Xiyeiv und diaki-
yea&ai drückten den Gegensatz mit genügender Klarheit aus. Es ist
also nur ein formaler Unterschied zwischen der Rhetorik und Dialektik.
Die eine bezieht sich auf die zusammenhängende Darstellung, die andere
auf die Gesprächführung. Wichtig ist, was Sextus a. a. 0. über den
Sinn des Ausdruckes ifrtati^f,ir] in dieser Definition bemerkt: zciv atwi-
xü5v (z^v kjtiOTYifxriv la^ßavovriov) avTi rov ßeßalag ^eiv xara-
Xi^ipeig, h ooqx^ fiovq) (pvo/iiivrjv. Der Ausdruck soll also vollkom-
mene wissenschaftliche Erkenntnis bedeuten, die nur dem Weisen
zukommt. Noch klarer enthüllt sich uns die stoische Auffassung der
Rhetorik, wenn wir erfahren, dafs ev kiyBiv bedeuten soll aXr^&wg
kiyeiv. Da die wahre Rhetorik eine iTciarrj/nt] ist, die nur der Weise
besitzen kann, so ist sie auch eine agerrj, die von den übrigen Tugen-
den unabtrennbar ist.
Die Stoiker heben die von Aristoteles vollzogene begriffliche Schei-
dung der Rhetorik und Dialektik von der Philosophie auf und machen
das rhetorische Können zu einem integrirenden Restandteil der aoq>la.
Sie kehren also scheinbar zu dem sophistischen Ideal zurück. Man darf
vermuten, dafs das Paradoxon o%i ^ovog 6 aoq>dg QrjTW() wenn nicht
dem Wortlaut, so doch der Ansicht nach antistlienisch ist. Diese Rück-
kehr zu der sophistischen Vermischung der Philosophie mit der Rhetorik
würde unserer Grundanschauung von den Unterrichtszuständen dieser
Epoche widersprechen, wenn sie nicht eine blofs scheinbare wäre und
wenn nicht die Rolle, die die Rhetorik thatsächlich im stoischen Unter-
richtssystem spielte, in einem fast komischen Gegensatz zu jenen grolsen
W^orten stünde. Wenn Antisthenes seinen Schülern versprach, sie durch
seinen philosophischen Unterricht auch zu Rednern zu machen, so war
das ernst gemeint und wurde ernst genommen. Denn damals konnte
ein verständiger Mensch es noch für möglich halten. Rei den Stoikern
ist dasselbe lediglich eine hohle Phrase, die kein Mensch ernst nahm.
Niemand hoffte wirklich, durch den Resuch der stoischen Schule sich
jene angebhch allein wahre und den Forderungen der Weisheit ent-
sprechende Rhetorik aneignen und im Leben praktisch verwerten tu
können, sondern man nahm solche Versprechungen als rein theore-
tische Folgerungen aus dem abstracten Regriff des Weisen hin, dem
nie und nirgends ein lebendiger Mensch entsprochen hätte noch je ent-
sprechen würde. Die stoische Rhetorik setzt also gerade die praktische
Rhetorenschule als etwas selbstverständlich existirendes voraus und ist
weder fähig noch gewillt, sie zu ersetzen. Wir hören deshalb auch
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jogendbildaog. 79
wahrend iles ganzen dritten Jahrhunderts nichts von einer Rivahtät
zwischen den Stoikern und den Rlietoren. Sie konnten ganz friedlich
nehen einander lehen, ohne sich ins Gehege zu kommen. Diogenes
▼OD Babylon ist der erste Stoiker, von dem wir eine heftige Polemik
gegen die Rhetoren kennen lernen. Der aber lebte in einer Zeit, wo
der Kampf zwischen Philosophie und Rhetorik wieder auf der ganzen
Linie entbrannte.
Ware es wirklich die Absicht der Stoiker gewesen, der Rhetorik
einen Hauptplatz in ihrem Unterrichtssystem einzuräumen und mit den
Rhetorenschulen in Rivalität zu treten , so hätte ' es nahe gelegen die
Rhetorik wieder zur Politik in Beziehung zu bringen. Aber dazu
standen sie zu sehr unter dem Eindruck des aristotelischen Buches, das
den formalen Charakter der Rhetorik erwiesen hatte. Auch war die
Politik der ältesten Stoa ebenso utopisch, wie ihre Rhetorik. Sie war
also nicht geeignet, mit einer Anleitung zur praktischen Beredsam-
keit in Verbindung zu treten. Fragen wir nun, was die Stoiker für
die Rhetorik geleistet haben, so ist allerdings von Striller (De Stoico-
rum studiis rhetoricis Breslauer philol. Abhdigen 1, 2) nachgewiesen, dafs
die durch Hermagoras begründete scholastische Bhetorik in zahlreichen
Punkten stoischen Eindufs zeigt. Aber es handelt sich in allen mit
Sicherheit nachweisbaren Fällen nicht um neue, praktisch brauchbare
Vorschriften, sondern um Einteilungen und Detinitionen, in denen be-
kanntlich die Stoiker ihre Stärke suchten. Sie scheinen sich vor allem
um die logische Durchbildung des bereits vorhandenen Lehrsystems
bemüht, nicht aber, wie Aristoteles, die ganze Disciplin materiell auf
neuen Grundlagen errichtet zu haben. Vor allem haben sie den wich-
tigsten Teil der rhetorischen Kunstlehre, die Lehre von der Inventio
und von der Beweisführung, wie wir durch Cicero de fin. IV 10 top. 6
de orat. 11 157 wissen, überhaupt nicht behandelt. Dies wäre unbegreif-
lich, wenn sie die Absicht gehabt hätten, ihren Schülern eine in sich
selbst genügende rhetorische Ausbildung ins Leben mitzugeben. Prak-
tische Übungen in der Behandlung von d^ioitg und vTco&ioeig haben
Zeno und seine Nachfolger, nach Cic. de (in. IV, 7, mit ihren Schülern
nicht veranstaltet: totum hoc genus aut non potuenint tueri aut noiuerunt,
cerie reliqtierunt. Sehr bezeichnend für den stoischen Standpunkt ist
auch die Äufserung Chrysipps bei Plut. de Stoic. repugn. cp. 28 bezüg-
lich der Zulassung des Hiats und anderer Stilmäugel: ov (äovov, q^rjal,
tfxvza TtaQBtiov %ov ßeXxLovog lxof.iivovg^ aXXa %a\ noiag daa(p€lag
xcri iXXelxpeig xai vri Jta oolotxiofioig, irp^ olg alXoi av aiaxvv-
80 Erstes Kapilel.
d^eltjoav ovx oXLyoi. Diese Gleichgttlligkeit gegen die Form kam be-
kaontlich auch io den eigenen Schriften der stoischen Schulhäupter,
namentlich des Chrysippos, zum Ausdruck. Praktische Lehrer der Rhe-
torik konnten sie bei soviel Gleichgültigkeit gegen die Forderungen des
gulen Geschmacks schwerlich abgeben. Dazu stimmt, was Cicero an
jener oR citirten Stelle de fin. IV 7 sagt: quamquam scripsit artem
rhetoricam Cleanthes, Chrysippus eliam^ $ed sie ut siquis obmutescere con-
cupierit, nihil aliud legere debeat. Man wird also anzunehmen haben,
dafs die Stoiker mit ihren Schriften und Vorlesungen über Rhetorik
garnicht beabsichtigten, zur praktischen Ausbildung ihrer Schüler bei-
zutragen, sondern sich begnügten wissenschaftliche Anregungen für die
logische Durchbildung der Techne zu geben, deren praktische Ver-
wertung sie den Rhetoren überliefsen. Die stoische Schule ist darin
ganz einig mit Piaton und Aristoteles, dafs sie ihre Schüler nicht nur
fürs praktische Leben abrichten, sondern zu Bürgern einer idealen Welt
machen will.
Die Untersuchung über die Stellungnahme der beiden neuen
Schulen zur Rhetorik hat uns gelehrt, dafs ihnen nicht minder als der
Akademie und dem Peripalos der gereinigte BegriiT der Philosophie zu-
grunde liegt. Wir dürfen daher schliefsen, dafs er jetzt Gemeingut
aller Gebildeten geworden war. Es hatte sich ein Erziehungssystem
gebildet, das die iyxvxkia fÄa&rjfxara, zu denen jetzt auch die Rhetorik
gerechnet wurde, von dem philosophischen Unterricht unterschied und
in letzterem gipfelte. Vielleicht hat nie wieder in der Weltgeschichte
die Philosophie eine ähnliche beherrschende Stellung im Jugendunter-
richte eingenommen, wie im letzten Viertel des vierten und im dritten
Jahrhundert. Natürlich bheb der individuellen Freiheit bezüglich des
einzuschlagenden Bildungsganges ein weiter Spielraum. Aber jeder
Hoherstrebende, der sich die Bildung seiner Zeit anzueignen suchte,
widmete zum Abschlufs seiner Lehrzeit einige Jahre dem philosophischen
Studium. Lehrer der vier Philosophieen gab es nalürhch auch in vielen
anderen Städten. Herakleides z. B. hat in seiner Vaterstadt Herakleia
gelehrt, einen Platoniker Pamphilos hat Epikur auf Samos gehört, Fili-
alen der epikureischen Schulen müssen auch nach Epikurs Übersiedelung
nach Athen in Lampsakos und Mitylene bestanden haben. Aber wer
es irgend möglich machen konnte, der ging nach Athen, wo der Quell
der Philosophie am reinsten und reichsten flofs. Wie bescheiden da-
gegen in dieser Zeit die Stellung der Rhetorik und wie gering ihr An-
sehen war, geht schon daraus hervor, dafs uns aus ihr so wenige
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung. 81
namhafte Rhetoren uod so wenige berühmle Redner genannt werden.
Es lag das natürlich an den politischen Verhältnissen, die wie oft aus-
geführt worden ist, der Beredsamkeit keine grofsen Aufgaben mehr
stellten. Das dritte Jahrhundert schätzt die Gelehrsamkeit auch da, wo
sie nicht unmittelbar praktischen Nutzen bringt, aufserordentlich hoch.
Es giebt einen Stand der Gebildeten, der sich etwas darauf zugute thut,
den dem Volke unverständlichen Studien der Gelehrten mit Interesse
und Verständnis zu folgen, und der selbst an den Haarspaltereien des
philosophischen Schulgezänks Geschmack findet. Die Könige, die die
grofse Politik machen, bedienen sich für ihre Zwecke der Gebildeten.
lo ihrem Dienste finden sie mehr als im Gemeindeleben der Städte
Befriedigung ihres Ehrgeizes. Die Bildung aber, die hier verlangt wird,
ist nicht die rhetorische, die sich die unmittelbare Wirkung auf die
Masse des Volks zum Ziele setzt, sondern die philosophisch - politische,
die hoch über dem Volke stehend, es mit überlegener Staatsklugheit
regieren hilft.
Den besten Beweis für die Unbedeutendheit und das geringe An-
sehen der Rhetoren im dritten Jahrhundert hefert uns die schon bei
Gelegenheit der stoischen Schule hervorgehobene Thatsache, dafs aus
dieser Zeit keine Fehden der Philosophen mit den Rhetoren berichtet
werden. Der Streit der Isokrateer mit der peripatetischen Schule, der
gegen tnde des vierten Jahrhunderts noch so heftig getobt hatte, war
Yerstummt. Alexinos erkennt ausdrücklich die Nützlichkeit der Rhetoren-
schule an. Diese Thatsache ist um so bemerkenswerter, weil sowohl
die peripatetische, als, seit Arkesilaos, die akademische Schule nicht nur
$apere, sondern auch dicere lehren.
Dafs die aristotelische Schule sich mit der Theorie der Redekunst
befafst, würde an sich, wie das Beispiel der stoischen zeigt, noch gar-
nicht beweisen, dafs sie sich auch die rednerische Ausbildung ihrer
ZOgHnge angelegen sein liefs. Dafs dies der Fall war, kann der auf-
merksame Leser der aristotelischen Topik und Rhetorik nicht be-
zweifeln. Aristoteles selbst bezeichnet die yvfivaaia als einen der
Zwecke der in der Topik vorgetragenen Lehre vom dialektischen Beweis.
Aulserdem ist sie Siuch xQrjoi^og tiqoq tag Ivrev^eig, 101a 27. Auch
sonst wird in den Topika häufig yvfivd^ead^at und yvfivaala empfohlen,
z. B. 108 a 12. 159 a 29. u. s. w. Die ganze Anlage der Topika zeigt,
dafs es eine Anleitung für praktische Disputationsübungen sein soU.
AVenn Aristoteles hervorhebt, dafs Dialektik und Rhetorik die gemein-
same Eigentümlicheit des ra ivavvla ovXXoylt,ea&at haben (Rhet. I,
. T. Arnim, Dlo. 6 '
83 Erstes KapiteL
p. 1355 a 33), so ist das kein blofs theoretischer Satz, soDdern charak-
terisirt die Unterrichtsmethode, die in der aristotelischen Schule zur
Anwendung kam. Es ist uns ausdrücklich und von einwandfreien
Zeugen überliefert, dafs der rhetorische Unterricht des Aristoteles mit
Redeübungen verbunden war: Ttgog d'iaiv avveyvfiva^e rovg ua^7]%dg,
afia xal ^rjTOQixdig inaOTtwv (Diog. La^rt V 3). Den Begriff des
avyyvfiva^eiv fcqog &iaiv erläutert z. B. Cic. Orat. 46 haec igitur
quaestio a propriis personis et temporibus ad universi generis crationem
traducta appeUatur &iGig. In hoc Aristoteles adulescentis non ad pküo-
sophorum morum tenuüer disserendiy sed ad copiam rhetarum in utram-
que partem, ut omatius et uberius dici possit exereuit; idemque loeos
— Sic enim appellat — quasi argwnentorum notas tradidit, unde amnis in
Mtramque partem traheretur oratio. — de orat. ili 80 sin aUquis extiterit
aUquando, qui Äristotelio more de omnibus rebus in utramque partem possit
dicere et in omni causa duas contrarias orationes praeceptis iUius coqnitis
explicare is sit verus, is perfeclus, is solus orator. In der ersten
der beiden Stellen ist ganz richtig der Zusammenhang des TtQog a(iq)6-
T€Qa iftixeiQelv mit der Lehre von den tonoi, der Gegensatz dieser
Gbung zu den eigentlich philosophischen Disputationen und ihre Be-
deutung für die Rhetorik hervorgehoben. Es ist ausdrücklich darin
bezeugt, dafs auch A\t adulescentes selbst sich darin versuchen mufsten.
Es ist die Obung, die Chrysippos in der Schrift neQi koyov x^i^aeoig
(Plut. de Stoic. rep. 10) mit deutlichem Hinblick auf seine peripateti*
sehen Rivalen bespricht und zwar nicht ganz verwerfen will, aber doch
sehr gefährlich findet. Eigentlich pafst sie nur für den Skeptiker (rolg
€7toxfjV ayovai tcbqI Ttavrog kftißdlX€i\ der Dogmatiker wird sie mit
Vorsicht anwenden, indem er bei jedem Punkt des Dogma den ivav'
tlog Xoyog zwar erwähnt, aber dann auch seiner trügerischen Wahr-
scheinlichkeit zu entkleiden sucht (fxvrja^^^vai xal rüv ivavrlwv
Xoyiüv, diaXvovrag airdv to nid^avov). Es ist nicht meine Absicht,
weitere Belege für eine bekannte Sache zu häufen. Diese Gbung ist
in der peripatetischen Schule stets gepflegt worden und unzweifelhaft
hatte sie ihre äufseren Erfolge grofsenteils diesem Umstände zu verdanken.
Von den 2000 Schülern, die nach Diog. Laürt. V 37 Theophrasts Schule
(gleichzeitig) besuchten, werden gewifs mehr durch diesen als durch
irgend einen andern der zahlreichen Unterrichlszweige angelockt worden
sein. Hier schlug der Peripatos die Rhetorik auf ihrem eigenen Felde.
Das praktisch brauchbare an der Eristik wurde hier conservirt und
zugleich weit überboten. Der Philosophie selbst konnte diese Wahr-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung. 83
scheiolichkeitsdialektik Dicht mehr gefährlich werdeo, Dachdem ihre
grandlicbe Verschiedenheit vom wisseDschafllichen Verfahren erkannt
war; und vor dem Mifsbrauch der zweischneidigen Waffe sollte den
Schüler die ächte Philosophie bewahren, die er gleichzeitig in sich
aufnahm. Aber allerdings lag die Gefahr nahe, dafs dieser niedrigste
Teil des Unterrichts in der weiteren Entwicklung der Schule durch
seine praktische Brauchbarkeit eine gröfsere Lebenskraft als die höheren
bewährte. Wenn diese Übungen zum Hauptstück der Schule wurden,
80 war das zwar noch kein völliger Rückfall in die Sophistik, aber
doch eine starke Annäherung an sie.
Dafs dies thatsächUch geschehen ist, deutet Strabo an, wenn er
XIII p. 609 sagt: avvißrj ök toig ex tcJv TtegiTtd^wv rolg fxkv rtalai
tolg (ie%a QeoipQaoTov oix exovoiv oXiag ta ßißkla 7cXrjv oklycov,
jcal fiaXiaxa tcJv i^uneQixcüv, fArjdkv bxecv ipiXoaocpBiv TtQayfxatvKwg^
akka ^eaeig kr^xv^l^siv. Dieses ^ioetg krjxv&l^eiv ist nichts anderes
als die in Rede stehende Übung, wie sich aus der oben angeführten
Stelle des Orator ergiebt. Wenn nun auch die von Gehässigkeit gegen
den Peripatos erfüllte Äufserung des Stoikers Strabo über den Grund
dieser Entwicklung (das Fehlen der aristotelischen Hauptschriften) be-
gründeten Bedenken unterliegt, so pflegt doch die Thatsache, zu deren
Erklärung ein solcher Mythos herangezogen wird, eine allbekannte und
festsiebende zu sein. Wir haben Grund anzunehmen, dafs nach dem
Tode Stratons, unter dem Scholarchat des Lykoi), diese Wendung ein-
trat« Denn die Schilderung Lykons als eines cpQaarixdg avriQ und h
%(fi Uyeiv ykvTcvtajog, naq* o Y,aL riveg xb yafifia avrov zifi ovo-
funi TtQoaerl&eaav zeigt den Schonredner. Von philosophischen Ver-
diensten Lykons hören wir nichts, dagegen wird seine pädagogische
Begabung gerühmt. Die Grammatik und Litterarhistorie und nicht
minder die Naturwissenschaft war in Alexandreia concentrirt Der selb-
ständigen Arbeit in den eigentlich philosophischen Disciplinen war man
nicht gewachsen. So zog man sich denn auf die Rhetorik als das
Palladium der peripatetischen Schule zurück. Von jeher hatten die
peripatetischen wie die akademischen Schriftsteller auf Schönheit der
Darstellung gröfseres Gewicht gelegt als Epikureer und Stoiker. Jetzt
wurde sie zur Hauptsache und Lykons Schüler Ariston von Keos nähert
sich bereits der popularphilosophischen Schreibweise.
Aber auch die Akademie machte eine ganz ähnliche Entwicklung
durch. Von Xenokrates sind ein paar unter sich widersprechende
De6nitionen der Rhetorik bei Sextus adv. rhet 6 und 61 überliefert.
6*
84 Erstes Kapitel.
Die DeGnitioD dvvafiig neid^ovg drjf^iovQyog entspricht dem platooiscbeD
Standpunkt, während iTCiaTfjfiT} %ov ev liyeiy auf ein freundhcberes
Verhältnis zur Rhetorik zu deuten scheint. Dafs die erstere mehr
dem wahren Standpunkt des Xenokrates entspricht, geht aus der That-
Sache hervor, dafs in seinem Schriftenverzeichnis nichts auf Rhetorik
bezügliches vorkommt Auch Polemon, Krates, Krantor haben gewifs
nicht Rhetorik gelehrt Die alte Akademie hält an dem Standpunkt
Piatons fest, indem sie die Rhetorik aus ihrem Unterricht ausschliefst
und neben der eigentlichen Philosophie nur die mathematischen Disci-
plinen pflegt
Aber seit Arkesilaos tritt die Akademie in ein Entwicklungsstadium, •
das dem des Peripatos seit Lykon in gewissem Sinne entspricht. Wir
können hier davon absehen, dafs wir bei Lykon von einem Verfall,
bei Arkesilaos von einem Aufschwung der Schule reden. Es bleibt
darum doch eine parallele Entwicklung, dafs in beiden Schulen ziem-
heb genau gleichzeitig die praktische Pädagogik über die wissenschaft-
liche Forschung das Obergewicht gewinnt, dafs beide gleichzeitig sich
in den Vorhof der eigentUchen Philosophie zurückziehen. Gewifs hegt
dieser Erscheinung eine allgemeine ZeitstrOmung zu gründe. Mit spe-
culativ gerichteten Zeiten pflegen solche abzuwechseln, in denen die
empirische Forschung auf dem Gebiet der Natur und der Geschichte
höheres Ansehen geniefst Solcher Wechsel ist notwendig, solange
weder eine rationelle Weltanschauung, die der Fülle der immer neu
zuströmenden Thatsachen . nicht gerecht wird, noch die durch kein
geistiges Band zur Einheit der Erkenntnis verknüpfte Fülle der That-
sachen dem Erkennlnistrieb genügt. Um die Mitte des dritten Jahr-
hunderts sind die empirischen VVissenschaften in Alexandreia auf dem
Höhepunkt ihrer Entwicklung angelangt Dadurch sinkt notwendig das
Interesse an der philosophischen Speculation. An Stelle der Er-
kenntnis wird die Gelehrsamkeit auf den Schild erhoben. In der müh-
seligen Detailforschung, die sich immer weiter zerspaltet, erlahmt die
Kraft zu grofsartiger Synthese. Es entsteht der Glaube, dafs das ein-
zelne Wissen Selbstzweck sei, und es bildet sich eine Feindseligkeit
gegen die Philosophie um so eher heraus, weil die Masse der Menschen
dem Streben nach der höchsten Erkenntnis nur folgt, wenn sie durch
die herrschende Meinung dazu genötigt wird. Diese Reaction gegen die
speculative Philosophie sehen wir um die Mitte des dritten Jahrhunderts
in vollem Gange. Sie beeinflufst auch das Verhalten der Philosophen
selbst und macht Männer wie Ariston von Chios^ Timon^ Arkesilaos zu
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jogendbildung. 85
den LiebÜDgspbilosophen dieser Generalion. Alle drei treffen io der
AblehDUDg der herrschendeQ dogmatischen Systeme zusammen. Man
kann von einer Reaction der Sophistik gegen die Philosophie sprechen.
Ariston beschränkt die Philosophie auf die Ethik und kehrt damit zu
dem rein pädagogischen, der Wissenschaft feindlichen Standpunkt des
forzenonischen Kynismus zurück. Timon beweist die Unmöglichkeit
wissenschaftlicher Erkenntnis, Arkesilaos macht die Bekämpfung der
einzelnen Lehren der dogmatischen Schulen zu seiner Lebensaufgabe.
Wahrend bei Timon seine der allgemeinen Litteratur angehörige
Schriftstellerei die Hauptsache ist, sind Ariston und Arkesilaos in erster
Linie als Lehrer zu betrachten. Beide haben sich der Schriftstellerei
ganz oder fast ganz enthalten. Die ausschliefsliche Schätzung des
lebendigen, gesprochenen Wortes, die sich bei Ariston zu sirenenhafter
Beredsamkeit steigert, ist ein sophistischer Zug. Sie beweist immer das
Oberwiegen des pädagogischen über den wissenschaftlichen Zweck. Wer
in erster Linie die Wissenschaft fordern will, wird stets das Bedürfnis
fohlen, sich auch bei der Nachwelt Gehör zu verschaffen.
Die pädagogische Methode des Arkesilaos ist von der früher ge-
schilderten peripatetischen, mit der sie von Cicero zusammengestellt
wird, nur unwesentlich verschieden. Dafs sie ebenfalls auf yvfxvaoLa
der Schüler abzielte und für den zukünftigen Redner von grofsem
Nutzen war, ist zweifellos. De oratore 11180 charakterisirt Cicero, im
Gegensatz zu dem Aristoteliiis mos des de omnihus rebus in
utramque partem dicere, den Arcesilae modus et Carneadi
als contra omne quod propositum sit disserere. Dies könnte
zunächst als ein wesentlicher Unterschied der Methode erscheinen.
Aber wir brauchen nur anzunehmen, dafs unmittelbar hinter einander
zwei diametral entgegengesetzte Behauptungen proponirt werden, um
die logische Ähnlichkeit der beiden Methoden zu einer thalsächlichen
werden zu sehn. Daher heifst es denn auch Diog. La^rt. IV 28 von
Arkesilaos: nQuirog dk xal ig hidTSQOv iTtexelQrjae. Dafs er der erste
gewesen sei, der dies that, ist ein Irrtum, richtig nur, wenn wir er-
gänzen, „der erste'' nämlich „Akademiker'^ Im Peripatos war diese
Übung längst herkömmlich. De natura deorum' I 11 identiGcirt denn
auch Cicero beide Methoden. Um zu beweisen, dafs die ratio contra
omnia disserendi, wenn auch neuerdings in Griechenland aufser
Mode gekommen, darum doch nicht ihren Wert verloren hat, sagt er:
nam si singulas disciplinas pereipere magnum est, quando maius omnes?
quod facere iis necesse est, quibus propositum est veri reperiendi causa
86 Erstes Kapitel.
et contra omnis philosophos et pro omnibus dicere. Eine Verteidigung
seines Feslhaltens am akademischen Bekenntnis ist dies nur, wenn auch
das pro omnibus dicere zur akademischen Methode gehört. Auch Acad.
I 45 wird als der Zweck des contra omnium sententias disserere
bezeichnet: ut cum in eadem re paria contrariis in partibus momenta
rationum invenirentur , fadlius ab utrague parte adsensio mstineretur.
Wie eine solche Disputation in der Schule des Arkesilaos vor sich ging,
lehrt am deutlichsten Cic. de fin. II 2 Arcesilas — itutituit, ut ii qui se
audire veUerU, non de se quaererent, sed ipsi dicerent, quid sentirent; quod
cum dixissent, iUe contra. Sed eum qui audiebant, quoad poterant, defen-
debant sententiam suam. Apud ceteros autem philosophos, qui quaesivit
aUquid, tacet; quod quidem iam fit etiam in Äcademia. Der Wert dieser
Stelle liegt vor allem darin, dafs sie uns die selbslthätige Beteiligung der
Schaler bezeugt. Indem die Schüler die These verteidigten, solange es
irgend anging, kam in der Disputation das Für und Wider einer jeden
Frage zu seinem Rechte. Wenn es bei Diog. La^rt. IV 28 von Arke-
silaos heifst: ngditog zov Xoyov bilrrjae %6v vno TlXatovog naiiade^
öofiivov %al iTtolfjae di iQayn^oetjg xal aTtoxQlaeiag iQiaTixtireQOv,
so ist auch hier die Mitwirkung der Schüler an der Disputation vor-
ausgesetzt. Wichtig ist auch, was über den Unterschied der Methode
des Arkesilaos von der zu Ciceros Zeit in der Akademie üblichen be-
merkt wird. Da es nämlich nicht mehr üblich war, dafs der Schüler
seine These verteidigte, sondern der Lehrer sie in zusammenhängendem
Vortrag widerlegte, so war es die Regel: eos qui aliquid sibi videri
dicant, non ipsos in ea sententia esse, sed audire vdle contraria, —
Aus der Stelle de nat. deor. I, 11 ergiebt sich deutlich der pädago-
gische Zweck der ganzen Übung. Als GbungsstofT werden die Dogmen
aller dogmatischen Schulen zugrunde gelegt. Der akademisch gebildete
lernte also die Lehren nicht einer einzelnen, sondern aller Schulen
samt der positiven und negativen Dialektik kennen. Das ist . etwas
ähnliches, wie die sophistische nacdela im Sinne des Protagoras, eine
durch die Philosophie veredelte Sophistik. Sie unterscheidet sich von
der alten Sophistik erstens durch die gröfsere logische Vollkommenheit,
zweitens durch das ernste Streben nach Annäherung an die Wahrheit,
das das ganze Verfahren, nach der Absicht des Arkesilaos beseelen sollte.
Veri reperiendi causa disputirt, nach Cic. de nat. deor. 1 11, der
Akademiker. Wir sprechen daher hier nicht von einer einfachen Rück-
kehr zur alten Sophistik, sondern von einer Annäherung an sie, einer
durch die Philosophie veredelten Sophistik. Indem die Disputation nicht
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung. 87
bei den praktischen Fragen feslgehalteo , sondern auf alle Fragen der
theoretischen Philosophie erstreckt und von Lehrer und Schülern im
Sinne aufrichtiger Wahrheitsliebe betrieben wurde, waren die wesent-
lichsten Unterscheidungsmerkmale der Philosophie von der Sophistik
gegeben.
Es ist klar, dafs der Peripatos und später auch die Akademie nicht
nur sapere, sondern auch dicere lehren, wenn auch in einem anderen
Sinne als die Rhetorenschule. Zu einer Rivalität ist es gleichwohl nicht
gekommen. Auch wo sich die Bestrebungen beider Schularten so wie
hier annäherten, hat man sie als grundverschiedene und daher neben
einander berechtigte Anstalten gelten lassen.
III.
Die um die Mitte des dritten Jahrhunderts herrschende skeptische
Geistesrichtung war noch nicht bestimmt, den Dogmatismus endgültig
zu überwinden und das höhere Unterrichtswesen zu dem sophistischen
Bildungsideal zurückzuführen. Vielmehr sehen wir sie im letzten Drittel
des Jahrhunderts einer erneuten Herrschaft des Dogmatismus weichen.
Die stoische Schule, über die Arkesilaos unter dem Scholarchat des
Kleanthes seine glänzenden Triumphe gefeiert hatte, wird durch die
Scbulführung des Chrysippos wieder zu Ansehen gebracht: el fxrj yotq
tpf Xgvaifcnogf ovx av rjv 2rod, Die alten Schulen verharren auf
der bisherigen Bahn, aber sie versinken in Unbedeutendheit. Vom Epi-
kureismus hört man in dieser Zeit nichts. Die pyrrhonische Skepsis
findet nach dem Tode Timons keinen würdigen Vertreter mehr. Auch
die Richtung Aristons vermag sich nicht zu behaupten. Die Stoa ist es,
die in dieser Zeit die erste Rolle spielt. Sie ist jetzt die Hochburg des
Dogmatismus. Um die Richtigkeit dieser Behauptung einzusehen, braucht
man nur die Wirkungen zu vergleichen, die die Lehrer dieser Generation
auf 4i6 weitere CuUurentwicklung ausgeübt haben. Von Prytanis, Ariston
von Keos, Phormion und nicht minder von Lakydes, Telekles, Euandros,
Hegesinos weifs die Geschichte der Philosophie kein nennenswertes Ver-
dienst zu berichten, während Chrysippos den Stoicismus zu einem Haupt-
factor der griechisch-römischen Cultur bis zu den Zeiten des Neuplato-
nismus hinab gemacht hat. Im allgemeinen aber war das Ansehen der
Philosophie gesunken. Die unbedeutenden Lehrer der Akademie und
des Peripatos konnten den Rhetoren gegenüber für ihre rhetorisirenden
Bestrebungen nicht mehr unbedingte Überlegenheit beanspruchen und
die Herrschaft der stoischen Philosophie, die für die praktische redne-
88 Erstes Kapitel.
rische Ausbildung wenig, ftir die stilistische nichts leistete, mufste dazu
beitragen, die allgemeine Schätzung der Rhetorenschulen zu steigern.
Dies war die Lage der Dinge, als seit dem Anfang des zweiten
Jahrhunderts die Römer in die Geschichte des Ostens einzugreifen be-
gannen und der Bildungsdurst und Philhellenismus der Romer den
griechischen Lehrern ein neues Arbeitsgebiet eröffnete. Es war unver-
meidlich, dafs dieser Umstand in immer steigendem Hafse auch die
Unterrichtsverhaltnisse innerhalb der griechischen Welt umgestaltete.
Wie früh bereits römische Rhetoren und Philosophen sich in Rom fest-
zusetzen begannen, zeigt das von Sueton de rhetoribus 1 (= Gellius
N. A. XV 11) erhaltene senatus consultum de philosophis et
rhetoribus vom Jahre 161, durch das sie aus Rom verwiesen wurden.
Es ist klar, dafs diese Entwicklung das Ansehen der Rhetoren starken
mufste, da die Römer ihrer einfachen und praktisch brauchbaren Kunst-
lehre selbstverständlich viel mehr Verständnis engegen brachten als dem
hohen, weit über die praktische Nützlichkeit hinausgreifenden Bildungs-
ideal der q)tXoaoq>ia. Unzweifelhaft steht auch die in eben diese Zeit
fallende Schöpfung der scholastischen Rhetorik durch Hermagoras von
Temnos mit dieser Entwicklung in Zusammenhang. Es winkten der
Rhetorik wieder grofse Ziele. Darum raffte sie sich aus ihrem langen
Winterschlaf zu einer bedeutenden Leistung auf. Die Philosophen konnten
natürlich diesen Erfolgen nicht ruhig zusehen. Sie mufsten den Kampf
um das neue Arbeitsgebiet mit den Rhetoren aufnehmen. Es war die
Frage, ob bei der Vermittlung hellenischer naidela an die Römer den
Rhetoren oder den Philosophen der Löwenanteil zufallen sollte. Daher
erklart es sich, dafs jetzt der alte Streit der Philosophie und der Rhetorik
von neuem heftig entbrennt. Die drei Philosophen, die an der bekannten
Philosophengesandtschaft des Jahres 155 beteiligt waren, haben ihn alle
drei mit gleichem Eifer geführt. Durch das Sinken der Philosophie,
durch den Aufschwung der Rhetorik und durch das praktische Ziel^ das
beiden durch die Gulturverhaltnisse gesteckt wurde, war wieder eine
Rivalität zwischen den ungleichen Gegnern möglich geworden. Schon
Ariston von Keos, dessen Scholarchat vielleicht noch weit ins zweite
Jahrhundert hinein gedauert hat, schrieb nQog rovg Qr^rogag.
Aber als Hauptvertreter der peripatetischen Polemik gegen die
Rhetoren erscheint bei Sextus und bei Philodem Kritolaos von Phaseiis.
Für die stoische Polemik gegen die Rhetoren ist bei Philodem Diogenes
von Babylon der klassische Autor. Für Karneades endlich und seine
Schule lafst sich aus Gicero und Sextus die Beteiligung an diesem Feld-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jogendbiidong. 89
zog erweisen. Die epikureische Schule spaltete sich in eine rhetoren-
feindliche und eine relativ rhetorenfreundliche Partei. Zu der letzteren
gehörten Zenon der Sidonier, der um die Wende des zweiten und ersten
Jahrhunderts Schulhaupt in Athen war, und sein Schüler Philodemos,
dessen Schrift negl ^%0Qixi;g unsere wichtigste Quelle für die Ge-
schichte dieses Streites ist.
Der Kampf, den die drei andern Schulen gegen die Rhetorik führten,
war aber nicht nur ein theoretischer. Sie begnügten sich nicht damit,
in ihren Vorträgen und Streitschriften die Rhetorik als eine Afterkunst
und als unfähig zur Erfüllung ihrer Versprechungen zu erweisen; sie
suchten auch ihren eigenen Unterricht so zu gestalten, dafs er den Re-
dürfnissen der römischen Welt entsprach. Die Seite des Unterrichts,
die dem Zweck rednerischer und staatsmännischer Ausbildung dienen
konnte, wurde in der Akademie und im Peripatos immer ausschliefslicher
betont, bis schliefslich das unerhörte geschah, dafs ein Schulhaupt der
Akademie geradezu Vorlesungen über Rhetorik ankündigte. Aus ähn-
lichen Gründen erklärt sich auch, wie bekannt, der in allen drei Schulen
aufkommende Eklektizismus, durch welchen die Schulgegensätze abge-
schliffen wurden und eine Philosophie des gesunden Menschenverstandes
entstand, die dem praktischen, aber nicht wissenschaftlich tiefgründigen
Verstände der Römer genehm war.
Natürlich liefsen die Rhetoren die Angriffe der Philosophie nicht
unerwidert. Ich lasse dahingestellt, inwieweit genauere Forschung im
Stande sein wird, den geschichtlichen Verlauf des Streites in seinen
einzelnen Stadien klarzulegen. Im allgemeinen scheinen die Gründe,
mit denen Karneades, Kritolaos und Diogenes gegen die Rhetorik ge-
kämpft hatten, von den folgenden Philosophengenerationen nicht wesent-
lich verändert oder vermehrt worden zu sein. Als Philodeni seine Schrift
negl ^rjTOQixr}g verfafste, hatte der Streit immer noch actuelle Redeu-
tung. Aber die Gründe, die Philodem zu widerlegen sucht, sind die
der genannten drei Pliilosophen. Karneades freilich wird bei Philodem
nicht genannt. Dafs aber schon er, und nicht erst seine Schüler und
Nachfolger, die Polemik eröffnete und als Urheber der akademischen Be-
weisführung zu gelten hat, ergiebt sich zweifellos aus Cicero de orat. I 45,
wo neben Charmadas, Kleitumachos, Aischines als Vertreter jener Pole-
mik Metrodoros genannt wird „qui cum Ulis nna ipsum illum Cameadem
düigentius audierat" Der Zusatz kann nur den Zweck haben, zu zeigen,
dafs Metrodoros über die Gründe des Karneades, als des Urhebers und
mafsgebenden Vertreters jener Polemik, ebensogut wie die andern ge-
90 Erstes Kapitel.
nannten Akademiker unterrichtet sein mufste. Dafs Sextus adv. rhet. 20
Kleitomachos und Charmadas nennt, erklärt sich daraus, dafs Karneades
die Beweisführung nicht schriftstellerisch bearbeitet, sondern nur münd-
lich vorgetragen hatte. Die stoische Polemik ging ihre eigenen Wege;
dagegen scheinen Kritolaos und Karneades sich im wesentlichen der-
selben Gründe bedient zu haben. Sextus nennt adv. rhet. 12 nur den
Kritolaos, während er die mit § 20 anhebenden weiteren Gründe dem
Kritolaos und den Neuakademikern zuschreibt Übrigens wird auch
an der ersten Stelle neben Kritolaos auf Piatons Polemik gegen die
Rhetorik hingewiesen. Dafs es falsch wäre, die an erster Stelle vor-
getragene Beweisführung, die von der stoischen DeQnition der t^vij
ausgeht, als ausschliefsliches Eigentum des Kritolaos in Anspruch zu
nehmen und der Schule des Karneades abzusprechen, ergiebt sich dar-
aus, dafs Cicero de orat. 1 92 gerade diese Beweisführung dem Charmades
in den Mund legt Es ist auch nicht auffallend, wenn sich die Ver-
treter der beiden Schulen in dieser Beweisführung zusammenQnden. Es
handelt sich ja um eine Ansicht, in der auch Piaton und Aristoteles
einig gewesen waren. Denn natürlich richtet sich der Angriff beider
nicht gegen die philosophische Rhetorik, sondern gegen die sophistische
der Rhetoren.
Zwei Gegenstände des Streites müssen wir unterscheiden. Einmal
handelt sichs um die Existenzberechtigung und praktische Nützlichkeit
der Rhetorik, sodann um die Abgrenzung ihres Gebietes gegen das der
Philosophie.
Die praktische Nützlichkeit wird der Rhetorik bestritten, sofern
nachgewiesen wird, dafs sie die zur Gerichts- und Staatsberedsamkeit
erforderliche Ausbildung nicht gewähre. Die Existenzberechtigung wird
ihr bestritten, indem ihr der Charakter der rix^r] abgesprochen wird.
Ich will hier nicht eine Darstellung dieser Beweisführung geben, die
aus Quinlilian II 17fr., Sextus adv. rhet, Cicero de orat I 41 — 95,
Philodem Tcegi ^rjzoQiK^g zu reconstruiren eine dankbare Aufgabe ist*)
1) Die Art, wie Radermacher bei Sudhaus Philodemi Yolumina Rhetorica
Supplementum p. IX ff. die Aufgabe angefafst hat, ist (abgesehen von der auffallen-
den Nichtberücksichtigung Giceros, der auch da, wo Quintilian ihn ausschreibt, igno-
rirt wird) ist deswegen als verfehlt anzusehen, weil der bei den einzelnen Schrift-
stellern vorliegende Gedankenzusammenhang durch willkOrliches Herausgreifen der
übereinstimmenden Argumente zerstört wird. Es mufs von der Quellenfrage bei den
einzelnen Schriftstellern ausgegangen werden. Bei Sextus ist § 10—19 nicht aus
Kritolaos geschöpft, wie die Worte in § 12 d^iXst yi roi xai ol ne^l K^iröXaoy
Sophistik, Rhetorik, Philosophie io ihrem Kampf um die Jogendbildang. 91
Für UDsern Gedankenzusammenhang genügt es, dafs die Philosophen
aller drei Schulen der sophistischen Rhetorik die praktische NützUch-
keit und die Existenzberechtigung absprechen. Die Behauptung, dafs
die Rhetorenschule dem praktischen Redner und Staatsmann an sich
genügende Ausbildung gewähre, hatten schon Piaton und Aristoteles be-
stritten. Es ist also nichts neues, wenn diese alte Wahrheit jetzt von
neuem geltend gemacht wird. Der Streit über die Frage el xixvri ri ^rjTO*
giicq trägt in seinen Einzelheiten so sehr den Charakter scholastischer
Silbenstecherei , dafs er für die Erkenntnis der realen geschichtlichen
Verhältnisse wenig Ausbeute gewährt.
Die von der akademisch-peripatetischen abweichende stoische Pole-
mik ist treffend charakterisirt durch die von Cicero de orat. I 83 dem
Mnesarchos zugeschriebenen Äufserungen: hos, quos no9 oratores voca-
remiu, nihil esse dieebat nisi quosdam operarios Ungua cekri et exer-
dtaia; oratorem autem, nisi qui sapiens esset, esse neminem, atque
ipsam eloquentiam, quod ex bene dkendi scientia constaret, unam quan*
dam esse virMem et, qui unam virtutem haberet, omnis habere easque
esse inter se aequalis et paris; ita qui esset eloquens, eum virtutes
omnes habere atque esse sapientem. Dies stimmt durchaus zu dem von
Philodem bekämpften Standpunkt des Diogenes von Babylon. Natür-
lich war es bei dieser sublimen Auffassung der Rhetorik nicht auf
Verteidigung, sondern auf Bekämpfung der Rhetorenschulen abgesehen.
Der reale Zweck der Theorie war, die Leute zu überzeugen, dafs man
kein vollkommener Redner werden könne, ohne sich zugleich in der
stoischen Schule die vollkommene Weisheit anzueignen. Die im Hypo-
mnematikon Philodems erkennbaren Sätze des Babyloniers Diogenes
zeigen, dafs es so gemeint war. Denn sie sind voll der heftigsten Aus-
fiiUe gegen die sophistische Rhetorik und gegen die der Weisheit ent-
behrenden praktischen Redner und Staatsmänner. Um so interessanter
ist es zu beobachten, wie später diese Theorie, im Widerspruch mit
ihrer ursprünglichen Bedeutung, zur Propaganda für das sophistisch -
rednerische Ideal verwertet wird. Wenn man Quintilians Schilderungen
des vollkommenen Redners liest, so meint man oft, einen Stoiker reden
zu hören. In Wahrheit ist sein Standpunkt dem geschilderten stoischen
diametral entgegengesetzt. Denn während die Stoiker die Beredsamkeit
u. 8. w. and § 20 elc&d'aai xai o^rot beweisen. Durch die falsche Auffassung des
Qaelienverhältnisses hat sich Radermacher zu der Annahme verleiten lassen, der
ADgri£f des Kritolaos bitte sich gegen die stoische Schule, als die Bescbötzerin der
Rhetorik gerichtet. * :
92 Erstes Kapitel.
als ein Nebenproduct der höchsten philosophischen Erkenntnis ansehen,
das auf keinem andern Wege erzielt werden kann, hat Quintilian, der
dieselben hochtönenden Phrasen gebraucht und II 20, 4 auch die aarela
^fjTOQixi^ als eine a^erij bezeichnet, dabei nicht das philosophische
Bildungsideal im Auge, sondern das rhetorisch -sophistische, das alle
fia&r^^a%a nur soweit betreibt, als sie den praktischen Zwecken des
Redners dienen und auch die Philosophie nur als eines der fia^fiava
ansieht, die diesen Zwecken dienstbar gemacht werden können.
Im zweiten Jahrhundert ▼. Chr. dreht sich aber der Streit nicht nur
um die Nützlichkeit und Existenzberechtigung der Rhetorenschulen, son-
dern auch, wie schon bemerkt, um die Gebietsabgrenzung zwischen
Rhetorik und Philosophie. Diese Seite des Streites zeigt noch deut-
licher als die bisher besprochene, dafs er nur ein Symptom fUr die
Erneuerung des sophistischen Bildungsideals ist. Es handelt sich um
nichts Geringeres, als den Versuch der Rhetoren, die in den Philosophen-
schulen herkömmlichen praktischen DisputationsUbungen über aUgemeine
Fragen aus dem Zusammenhang des philosophischen Unterrichts heraus-
zureifsen und für die Rhetorik in Anspruch zu nehmen. Die Tendenz
dieser Bestrebung ist, die Philosophenschule aus ihrer führenden Stellung
im Bildungswesen zu verdrängen und auf das Niveau einer einzelwissen-
scliaftlichen Fachschule hinabzudrücken. Der Philosophie wollte man
nur die Fragen belassen, die Gegenstand eines rein wissenschaftlichen
oder gelehrten Interesses sind; die Fragen hingegen, die für das prak-
tische Leben Bedeutung haben und deshalb Gegenstände der praktischen
Beredsamkeit bilden, nahm man für die Rhetorenschule in Anspruch.
Dies ist, wie mir scheint, der tiefere Sinn der rhetorischen Theorie des
Hermagoras, um deren Aufliellung sich Striller in seiner schon genannten
Abhandlung p. 19 ff. ein grofses Verdienst erworben hat.
Sextus adv. rhet. 62 sagt: ^EQ^ayoqag leXeLov qtjJoqoq egyov el-
vai ekeye to re^iv nokiTiKov ^7]Tri/na öiax Id'eöd^at i^ara
zb ivdexo ^erov Tceioxixwg^) Als Gebiet der Rhetorik werden
also hier die Ttohtixa ^r^TTJ/tiaTa bezeichnet. Diesen Begriff hat Striller
p. 18 f. aus der hermagoreischer Doctrin folgenden Rhetorik des Augus-
tinus richtig erläutert und gezeigt, dafs er auf der stoischen Lehre vom
sensus communis {xotvrj Hvvoia) beruht und sachlich mit dem
zusammenfallt, was auch Aristoteles meint, wenn er von der Rhetorik
1) Vgl. Sopat. V p. 15W: ol Sk negl ^EQfdayö^av {^rjroQix^v xaXa€o*) Hvafiiv
Sophisük, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jagendbildung. 93
(Rhet. I 1 in.) sagt, sie handle Tcegl toiovtwv riviSv, a xoiva tqotcov
Ttyo aTcdvTijy iojl yvcjQl^etv xal ovöejuiag iTciarijfirig afpaiQia"
fiivrjg. Den Gegensatz bilden CriT/jfiaTa fiovoixa, iargiKa, yQa/4/4a-
xixa^ kurz alle Fragen , deren Beurteilung Sache des speciellen Fach-
manns ist und nicht zur allgemeinen Bildung gehOrL Der Ausdruck
dicnld-Bad-ai xa%a to ivdexofievov neiotixcig nähert sich dem Sinne
nach dem aristotelischen Ausdruck: dvvaf4ig negl ^aaroy tov ^ecj-
Qfjaai to kvdexofjievov nLd-avov, Aristoteles hatte, wie wir früher
sahen, die Rhetorik, von der Politik gerade dadurch scharf geschieden,
dafs er das unwissenschaftliche, von blofser Meinung ausgehende und
wiederum blofse Meinung erzeugende rednerische Beweisverfahren be-
tonte. Erwägt man nun, dafs Karneades auch in der Philosophie sich
mit dem ni&avov begnügte, so ist dem Begriffe nach ein Unterschied
zwischen seiner Behandlung ethisch - politischer Fragen und der von
Hermagoras für die Rhetorik geforderten kaum noch zu entdecken.
Doch ist zuzugeben, dafs Karneades den Begriff des nid'avov durch
Unterscheidung der Grade der Wahrscheinlichkeit genauer bestimmte.
Die noXL%i;Ka ^r^zi^fiaTa teilte Hermagoras ein in mtod^iaeig und
&ia€ig. Die vnod'iaetg unterscheiden sich, nach Hermagoras bei Cic.
de inv. 18, von den d^iaeig personarum certarum interposi-
Hone. In den vnod^iaetg ist die Frage, ob für bestimmte Personen
unter gegebenen Umständen eine Handlung als gerecht oder ungerecht,
als nützlich oder schädlich zu gelten hat; oder wie die Fragen sonst
lauten mögen, die unter gegebenen Umständen Gegenstand richterlicher
oder beschliefsender Entscheidung bilden können. In den ^eaet^ fehlt
die Specialisirung der Frage durch gegebene Personen und Umstände.
Sie sind allgemeine Fragen, avev 7C€Qiataaewg. Sie können daher
auch nad'oXov ^rjTrjaeig genannt werden. Denn nichts anderes als die
^iaeig ist es, was Plut. v. Pomp. 42 mit diesem Ausdruck bezeichnet,
wenn er erzählt: Poseidonios habe die Vorlesung herausgegeben, die
er vor Pompeius gehalten habe: TtQog ^EQfxayoQav tov Qi^zoga TteQi
T^S xad-oXov ^rjTrjaeüjg avTiTa^dfÄevog. Wir entnehmen aus dieser
Stelle, dals die Zuweisung der xkiaeig an die Rhetorik als eine Neuerung
des Hermagoras galt, die den Widerspruch der Philosophen hervorrief.
Wie hätte Poseidonios die Spitze seines Vortrages gegen den längst ver-
storbenen Hermagoras richten können, wenn er nicht als der Urheber
dieser den Philosophen anstöfsigen Auffassung von der Aufgabe der
Rhetorik gegohen hätte. Es ist klar, dafs Poseidonios die ycad'olov
^rjTrjaeig und d'iaeig für den Philosophen in Anspruch nahm und den
94 Erstes Kapitel.
Rhetoren nur die vnod-iaeig belassen üvollte. In der 72. Rede Dios,
die vielleicht von Poseidonios, jedenfalls von einem stoischen Autor ab-
hängt, wird der Unterschied von ^iaig und vnod'eaig^ ohne dafs diese
Ausdrücke gebraucht würden, entwickelt und die ^iaig dem Philo-
sophen vorbehalten. Dafs Akademie und Peripatos in diesem Punkt
mit der Sloa einig waren, ergiebt sich aus Cic. de orat. I 45, 46.
Strittig ist es, in welchem Umfange Hermagoras die d^iaeig dem
Rhetor zuwies. Da er nur noXiTtxa ^i^Tiy^aTa als Stoff der Rhetorik
betrachtete und diese in d'iaeig und vTto^iaeig einteilte, so scheint
sich als logische Consequenz zu ergeben, dafs er nur Ttohrixal d'iaetg
gemeint haben könne, d. h. solche allgemeine Fragen, die durch Hinzu-
treten der n€Qla%aaig zu ifto^iaeig werden können. Dem scheint
es zu widersprechen, wenn bei Cic. de inv. I 8 der hermagoreische Be-
griff der ^iaig durch folgende vier Beispiele erläutert wird: „ecquid
sit bonum praler honestatem^ „verine sint sensus'* „quae sit mundi
forma^ „quae sit solis magnitudo.'^ Danach hätte also Hermagoras
alle allgemeinen Fragen, auch rein wissenschaftliche, die zu den civi-
les controversiae in keiner Beziehung stehen, in die Rhetorik ein-
bezogen. Der Lehrer, dessen Dictat der junge Cicero nachschrieb, zeigt
sich über diese lächerliche Anmafsung des Rhetors sehr entrüstet. Es
wäre ja an sich möglich, dafs er die Ansicht des Hermagoras mifsver-
standen hätte. Aber wir werden uns zu dieser Annahme nicht ohne
Not entschliefsen. Denn erstens wäre eine so heftige Polemik, wie sie
Ciceros Lehrer gegen Hermagoras richtete, ohne rechte Kenntnis der
bekämpften Ansicht doch sehr auffallend. Sodann kehrt in den Bü-
chern „de oratore^, wie schon Slriller hervorgehoben hat, die Polemik
gegen jene dem Hermagoras zugeschriebene Ansicht, wenn auch ohne
Nennung des Namens, wieder. Im zweiten Buch § 65 läfst Cicero den
Antonius, nachdem er den Begriff der &iaig (inßnita quaestio) erläutert
hat, fortfahren: hoc quid et quantum sü, quom dicunt, intellegere mihi
non videntur. Si enim est oratoris, quaecunque res infinite posita sit,
de ea posse dicere, dicendum erit et quanta sit solis magnitudo, qutte
forma terrae; de mathematicis , de musicis rebus non polerit quin dicai,
hoc onere suscepto , recusare. Die Übereinstimmung mit der Stelle de
inv. I S beweist, dafs auch hier Hermagoras bekämpft wird. Da nun
der griechische Autor, dem Cicero hier folgt, nicht mit der Quelle jener
Auseinandersetzung de inv. I S identisch sein kann, da dort der red-
nerischen Kunst im Anschlufs an Aristoteles viel engere Grenzen gezogen
.: ^werden, so dürfen wir als erwiesen ansehen, dafs Hermagoras wirklich
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jogendbildang. 95
die ^iaegg im weitesten Umfange der Rhetorik zuweisen wollte. Aber
auch das Zeugnis des Sextus, nach dem Hermagoras das ^igyov tov
telelov ^rjvoQOQ auf nokirixa ^rjTtjiiaTa beschränkte, besteht zu
Recht Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Vielleicht ist St riller
der Wahrheit nahe gekommen, wenn er p. 25 die Ansicht aufstellt,
Hermagoras habe unter tcoXltvkoi ^rjrtjf^aza etwas anderes verstanden,
als der Ausdruck zunächst zu besagen scheint und Cicero „civiles
eontroversiae^ nennt. Sicher ist ja, dafs der Zusatz noliriycov in
der hermagoreischen Definition des ^Qyov roxi qtjtoqoq eine Ein-
schränkung enthalten soll. Vielleicht wollte Hermagoras zwar die mathe-
matischen, musischen und sonstigen fachwissenschaftlichen Fragen aus
der Rhetorik ausschliefsen , nicht aber die philosophischen. So läfst
Cicero den Crassus de orat. III 79 sagen: non est enim philosophia
iimilü artiutn reUquarum. Nam quid faciet in geometria qui non didi-
cerit? quid in musicis? Aut taceat oportehit aut ne sanus quidem iu-
dieeiur. Haec vero, quae sunt in philosophia, ingeniis eruuntur ad id,
qued in quoque veri simile est, eliciendum acutis atque acribus. Herma-
goras mochte, wenn er von ^iaeig redete, solche Fragen im Auge
haben, wie sie in den herkömmlichen Disputationsübungen der Akademie
und des Peripatos verhandelt wurden, und diese mit zu den noh'iiTca
^^/lorra zählen. Er dachte dabei in erster Linie an die ethisch-
politischen Fragen, die auch in der Akademie und im Peripatos die
Hauptrolle spielen mochten, versäumte aber ausdrücklich diese Grenze
zu ziehen. Wir sind durch de inv. I 8 nicht zu der Annahme genö-
tigt, dafs Hermagoras gerade diese Beispiele von d'iaeig angeführt hatte,
die Cicero anführt: verine sint sensus, quae sit mundi forma, quae sit
solis magnitudo. Die Auswahl dieser Beispiele kann eine Bosheit des
Gegners sein, der aus der weiten Fassung des Begriffs ^iaeig bei
Hermagoras die Consequenzcn zieht.
Die Parallelstelle de orat. II 65 ist dieser Annahme günstig. Denn
hier werden die gleichen Beispiele von Antonius wirklich nur als Folge-
rung aus dem Begriffe der quaestio in finita abgeleitet. Ich nehme
also an, dafs bei Hermagoras eine Unklarheit des Gedankens und des
Ausdrucks vorlag. Obgleich er das egyov tov telelov Qi^rogog auf
TtokiTixa ^TjTriiata beschränkt hatte, sprach er doch von den ^ioeig
ganz allgemein und ohne jede Einschränkung, indem er einerseits bei
noXitixa CrjT'qfiaTa nicht nur an ethisch- politische Fragen, sondern an
alle diejenigen dachte, die man mit blofsem gesunden Menschenverstände
ohne Fachbildung beurteilen kann, und wie Crassus de orat. III 79 die
96 Erstes Kapitel.
philosophischen zu dieser Kategorie rechnete, andererseits bei S^iaeig
an die in Akademie und Peripatos üblichen Disputationsthemata dachte.
Die Unklarheit blieb natürlich von den Gegnern nicht ungerügt und
die Nachfolger des Hermagoras entfernten sie, indem sie die dem Redner
zukommenden d-iaeig etwa in der Weise näher abgrenzten, wie es Cicero
den Antonius II 67. 68 thun läfst.
Mag nun dieser Erklärungsversuch, dessen Unsicherheit ich nicht
verkenne, das richtige treffen oder nicht, die Hauptsache bleibt für uns,
dafs die von Hermagoras gegebene Gebietsabgrenzung der Rhetorik von
den Philosophenschulen als ein Eingriff in ihre Rechte empfunden wurde
und einen Hauptgegenstand des Streits der Philosophen und Rhetoren
im zweiten Jahrhundert bildete. Obrigens ist es zweifellos, dafs Herma-
goras nur in der Einleitung seiner rix^rj von den ^iaeig redete, eine
ausgeführte Theorie derselben und Anweisungen zu ihrer Behandlung
nicht gab, wie schon Striller p. 26 aus Cic. de orat. HI 110 richtig
geschlossen hat, einer Stelle, auf die ich noch zurückkommen werde.
Es darf aber hieraus nicht geschlossen werden, dafs auch in seinem
Schulbetrieb die ^iaeig keine Rolle spielten. Die heftige Polemik der
Philosophen wäre unerklärlich, wenn es sich nur um einen theoretischen
Einfall des Hermagoras gehandelt hätte, dem er in seiner Praxis keine
Folge gab. Auch Athenaeus, neben Hermagoras der bedeutendste Rhetor
des zweiten Jahrhunderts (Quint. III 1, 16 cui maxime par atque aemulus
videtur Athenaeus fuisse) hat von den d^iaetg gehandelt. Er bezeichnete,
nach Quint. III 5, 5, die d'ioig als pars causae, was wohl bedeuten
soll, dafs jede V7t6&€atg eine allgemeine Frage als Teil in sich befatst.
Der Verfasser der pseudoisokrateischen Techne hatte nach Quint. 1115, 18
die hermagoreischen Definitionen der &iaig und vTtox^eaig angenommen.
Quint. 111,9 sagt, dafs bei den antiqui diese Art rednerischer Übung
gebräuchlich war; sie sei die älteste und lange Zeit die einzige gewesen.
Da er den Rhetoren seiner Zeit den Vorwurf macht, sie zu vernach-
lässigen, so kann seine Bemerkung nicht auf die d'iaetg der Peripate-
tiker, sondern nur auf die Praxis der eigentlichen Rhetorenschulen be-
zogen werden. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dafs viele Rhetoren
seit Hermagoras solche Übungen veranstalteten, während andere wie der,
aus dem Cicero de inv. geschöpft ist, sie verwarfen.
Die geschichtliche Bedeutung des Streites der Philosophen und
Rhetoren um die ^iacg^ der ja ein Streit um die Gebietsabgrenzung
beider Disciplinen ist, liegt darin, dafs er ein Vorbote der Erneuerung
des sophistischen Bildungsideals ist. Die beiden Schulgattungen, die
Sophisük, Rhetorik, Philosophie iD ihrem Kampf um die Jagendbildung. 97
lange Zeit friedlich Deben einander gelebt hatten, sind wieder Rivalen
geworden; sie kommen sich gegenseitig ins Gehege. Die Behandlung
philosophischer Thesen in den Rhetorenschulen ist eine Annäherung an
die Sophistik. Noch entschiedener wird im ersten Jahrhundert von
philosophischer Seite das sophistische Bildungsideal erneuert. Ein
Scbolarch der Akademie, Philon von Larisa ist es, der in den ersten
beiden Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts das einst durch Piaton
überwundene sophistische Bildungsideal mit Begeisterung vertritt. Der
grOfste römische Redner hat in empfänglicher Jugendzeit dieses Ideal in
sich aufgenommen; er hat es in seiner eigenen Person zu verwirklichen
gesucht und in seinem tiefsten und gedankenreichsten Werke, den
Bachern de oratore, schriftstellerisch verherrlicht. Der Nachweis
dieser Behauptung soll in der folgenden Untersuchung über die Bücher
de oratore, speciell über das dritte Buch, geführt werden. Ich kann
mir im gegenwärtigen Zusammenhang nicht die Aufgabe stellen, das
Verständnis des ganzen Werkes zu erschliefsen und seine Bedeutung
für die antike Bildungsgeschichte, zu deren wichtigsten Documenten es
gebort, erschöpfend darzulegen. Es gilt hier nur den einen Punkt in
möglichster Kürze darzulegen: dafs Cicero für die Verherrlichung des
sophistischen Bildungsideals, die durch Crassus vertreten dars ganze
Werk durchzieht und sich im dritten Buche zu einer begeisterten Ver-
kündigung steigert, die leitenden Gedanken und zahlreiche Einzelheiten
einer Schrift des Philon von Larisa entlehnt hat.
Die Hauptpersonen des Gesprächs sind bekanntlich die Redner
L. Crassus und M. Antonius. Von den übrigen können wir für uosern
Zweck absehen. Das Gespräch findet auf dem Tusculanum des Crassus
im Jahre 91 an zwei aufeinanderfolgenden Tagen statt. Das Gespräch
des ersten Tages schliefst mit dem ersten Buche ab, das des zweiten
umfafst das zweite und dritte Buch. Cicero hat die beiden Hauptper-
sonen zu Vertretern grundsätzlich verschiedener Standpunkte hinsichtlich
der rednerischen Kunst und des Bildungsideals überhaupt gemacht. Der
Standpunkt des Crassus wird von Cicero als der höhere angesehen. Die
von ihm empfohlene Ausbildung zum Redner befafst den von Antonius
als genügend erachteten Bildungsgang als Teil in sich, greift aber weit
über ihn hinaus, indem sie dem angehenden Redner viel umfassendere
Studien zumutet. Nur über den Umfang der institutio oratoria
sind sie verschiedener Ansicht. Während Crassus den eigenen Stand-
punkt Ciceros umfassender und vollkommener vertritt, wirkt doch auch
Antonius seinerseits zur Darstellung dieses Standpunktes mit. Nicht in
T. Arnim, Dio. 7
98 . Erstes Kapitd.
dem, was er positives über die rednerische Bildung vorbringt, sondern
biDsichtlich dessen, was er von ihm ausschliefsen will, wird er besiegt
und überwunden. Antonius überbietet das Bildungsziel der gewöhn-
lichen Rhetorenschule , das er in Übereinstimmung mit Crassus nur als
einen Bruchteil des erforderlichen ansieht, durch die Forderung einer
umfassenderen specifisch rednerischen Ausbildung. Die Bedeutung dieser
Forderung zu untersuchen und nach der Quelle der betreffenden Er-
örterungen zu fragen, gehört nicht zu unserem Thema. Crassus hin-
gegen überbietet den Antonius, indem er von dem vollkommenen Red-
ner die Beherrschung aller fiad-rj/ictra mit Einschlufs der Philosophie
fordert. Tritt dann zu dieser allumfassenden materiellen Bildung die
speciQsch rednerische dvvafiig hinzu, die selbst erst auf dieser Grund-
lage ihre vollkommenste Ausbildung erbalten kann, so entsteht der voll-
kommene Redner, in dem das höchste Ideal menschlicher Bildung ver-
wirklicht ist. Es ist klar, dafs dieses Ideal mit dem sophistischen
Bildungsideal in der Hauptsache identisch ist. Denn auch hier gipfelt
die ganze Bildung in der praktischen rednerischen övvaf4ig. Alle übri-
gen fiad-fjfiaza werden nur um ihretwillen angeeignet. Selbst die
Philosophie wird zur Sclavin der Rhetorik erniedrigt. Aber in einer
Beziehung ist ein tiefgreifender Unterschied zwischen der alten Sophistik
und der wiedergeborenen. Die alte Sophistik hielt die Keime aller
Geisleswissenschaft in sich beschlossen und hinderte durch ihr enges
praktisches Ziel ihre wesenhafte Entfaltung; die neue setzt alle Wissen-
schaften in voller Entfaltung neben sich bestehend voraus. Die alte
enthielt schaffende Kräfte, wenn auch in dumpfer Gebundenheit. Die
neue ist lediglich empfangend; sie verfahrt eklektisch, indem sie aus
der Fülle der aufgespeicherten Wissensschatze auswählt und zu einem
Ganzen zu verbinden sucht, was immer sich zu ihrem praktischen Ziele,
der staatsmannisch-rednerischen dvva^ig, in Beziehung setzen läfst. Die
Wissenschaft selbst, die in der Erkenntnis der Wahrheit ihr höchstes
Ziel findet, lassen die Vertreter dieses Standpunktes höchstens als an-
genehmen Zeitvertreib fUr müfsige Stunden gelten. Der TCQayizoLog ßlog
ist die höchste Lebensform, neben welcher der d^ewgrjTtxog ßlog nicht
als zweite Form des höchsten Menschentumes steht, sondern eine die-
nende Stellung einnimmt.
Die Vertretung dieses Ideals hat Cicero in seinem Dialog j dem
Crassus übertragen. Alles was Crassus in den Büchern de orakore
redet, ist von diesem Grundgedanken beherrscht. Es ist auch von ironi-
herein, schon aus dem proöemium des ersten Buches klar, [ dafs
^ 1.x
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihren) Kampf am die Jogendbildang. 99
Cicero sich selbst zu diesem Standpunkt bekennt. Wenn wir daher die
Frage lösen wollen, von wem Cicero dieses Bildungsideal entlehnt hat,
80 müssen wir vor allem den Reden des Crassus nachgehen. Das erste
Buch enthält die Exposition des ganzen Werkes, in welcher der Gegen-
satz der Anschauungen, die durch Crassus und Antonius vertreten sind,
vorläufig in seinen Grundzügen gekennzeichnet wird. In den folgenden
Büchern ist enthalten, was jeder der beiden von seinem Standpunkte
aus an Ratschlägen und Vorschriften für die Ausbildung des Redners
zu geben hat; und zwar ist im zweiten Buche Antonius, im dritten
Crassus der Hauptredner. Für unsere Frage kommt daher neben ein-
zelnen Abschnitten des ersten Buches vor allem das dritte in Betracht.
Es könnte nun zunächst Jemand fragen: Ist es überhaupt nötig,
nach einem Vorbilde für diese Ausführungen Ciceros zu suchen? Ist
es nicht denkbar, dafs Cicero selbst, von der seit dem zweiten Jahr-
hundert vorhandenen Rivalität der Rhetoren mit den Philosophen aus-
gehend, die kühne Synthese vollzogen hat, eine diese Gegensätze ver-
schmelzende einheitliche Bildung zu fordern ? Erklärt sich der geschilderte
Standpunkt nicht aus seiner eigensten persönlichen Lebenserfahrung?
Die praktische Auffassung des Bildungsideals versteht sich für ihn als
Römer und Staatsmann von selbst. Seinen Vorrang vor anderen Red-
nern glaubte er, wie er oft andeutet, seiner philosophischen und allge-
meinen wissenschaftlichen Bildung zu verdanken.
Dies ist richtig und erklärt die persönliche Wärme, mit der Cicero
in den Büchern „vom Redner'^ jenes Ideal vertritt. Dafs es seinem
eigenen Kopfe entsprungen sei, ist trotzdem unglaublich. Denn es
mttfste ja auch die ganze geschichtliche Begründung der Theorie von
Cicero stammen, die sich doch deutlich als Werk eines Griechen kund-
giebt, der in der Geschichte des älteren Unterrichtswesens durch eigenes
Quellenstudium wohl bewandert war. Die mit Buch III 55 beginnende
Darstellung, die die Beziehungen zwischen Rhetorik und Philosophie in
ihrer geschichtlichen Entwicklung verfolgt, kann keinesfalls von Cicero
selbst aus verschiedenen griechischen Büchern zusammengetragen und
mit der einheitlichen geschichtlichen Anschauung erfüllt worden sein,
von der sie durchdrungen ist. Sie ist vielmehr ganz aus einer Quelle
entlehnt, in der bereits die Thatsachen in dieselbe Beleuchtung wie bei
Cicero gerückt waren. Man beachte die Menge feiner Einzelheiten, die
selbst in dem ciceronischen Excerpt noch enthalten sind und alle auf
den Grundgedanken der ganzen Darstellung hinweisen: der Satz §56in.
hane cogitandi pronuntiandique rationem — veieres Graeci sapientiam
1*
100 Erstes Kapitel.
naminabarU, der die spätere Erörterung über die Verengung des Begriffs
der Philosophie durch Sokrates vorbereitet, die treffende Charakteristik
des Pythagoras, Demokritos, Anaxagoras, das Homercitat in § 57 (xvd'Uiv
%B ^tjTfJQ^ ificvai TtQrjKf^Qa re igywv, die Benrierkung in §58, dafs
Grammatik, Mathematik, Musik, Dialektyc ursprünglich erfunden wurden
ut puerorum mentes ad hutntmitatem fingerentur atque virtutem, die Gegen-
überstellung der drei politischen Redner, Themistokles, Perikles, Thera-
menes, und der drei Lehrer der politischen Beredsamkeit, Gorgias, Thrasy-
roachos, isokrates, endlich die ausgezeichnete Bemerkung über den
Bedeutungswandel des Wortes (piloaoq)la. Man darf wohl behaupten,
dafs Cicero selbst nicht im Stande gewesen wäre, diese Einzelheiten zusam-
menzulesen und zu einer einheitlichen Darstellung zu verbinden. Er
schreibt sie also einem griechischen Autor nach. Da nun die geschicht-
liche Darstellung selbst von der Tendenz durchdrungen ist, die Sonderung
der Philosophie von der Rhetorik als etwas Unnatürliches zu erweisen,
so schliefsen wir, dafs nicht nur die geschichtliche Darstellung, sondern
auch die Theorie, die im Fortgang des dritten Buches entwickelt wird
und die in der Forderung der Wiederherstellung des sophistischen Bil-
dungsideals gipfelt, dem griechischen Autor gehört. Dieselbe Begeiste-
rung für die alten Sophisten, die sich §59 in der Nennung des Gorgias,
Thrasymachos, Isokrates ausspricht, kehrt in der RededesCatulns§ 126ff.
wieder, wo auch Hippias, Prodikos, Prolagoras als Vertreter universeller
Geistesbildung genannt werden. Dafs auch hier Cicero aus seiner grie-
chischen Quelle schöpft, zeigt, abgesehen von der Gleichheit der Beur-
teilung, die Antwort des Crassus § 132 ff., wo auch für die Gebiete der
Medicin, der Mathematik, der Musik, der Grammatik dem Universalismus
der Alten vor dem modernen Specialistentum der Vorzug gegeben wird.
Denn niemand wird annehmen, dafs Cicero entweder selbst von der
Geschichte der griechischen Wissenschaft eine so richtige Vorstellung
hatte oder durch eigens für die vorliegende Schrift unternommene Nach-
forschungen sich die Analogien herbeischaffte.
Ist die Frage, ob eine griechische Quellenschrift zugrunde liegt,
schon hiermit für jeden Urteilsfcfhigen entschieden , so mufs demnächst
die Frage aufgeworfen werden, ob es die Schrift eines rhetorikfreund-
lichen Philosophen oder eines philosophiefreundlichen Rhetors war.
Cicero und sein Abbild Crassus sind philosophiefreundliche Redner.
Das kommt denn auch in mehreren Stellen zum Ausdruck, wo sich sein
Unwille kundgiebt, dafs der Redner jetzt von der Philosophie borgen
4nufs, was ursprünglich zu seinem eigenen Ressort gehört, z. B. III 108.
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jageodbildang. 101
Man darf daraus nicht schliefsen, dafs der Quellenschriftsteller ein Red-
ner oder Rhetor war. Solche Stellen gehören der Überarbeitung Ciceros
an, der das Excerpt durch seine Zusätze der Gespräcbsperson mund-
gerecht macht Im Obrigen kann kein Zweifel obwalten, dafs der
Quellenschriftsteller ein rhetorikfreundlicher Philosoph war. Der Phi-
losoph verrät sich z. R. gleich in dem Eingang der geschichtlichen
Darstellung § 55: est enim eloquentia una quaedam de stimmts ütr^ti-
tibus; quamquam sunt omnes virtuies aequahs et pares, sed tarnen est
species alia magi» alia fomwsa et iUustris; sicut haee vis, quae seien-
tiam compUxa rerum sensa tnentis et consilia sie t>erbis explicat, ut eos,
qui audiant, quocunque incubererü possit impeUere; quae quo maior est
vis, hoc est magis probitate iungenda summaque prudentia; quarum vir-
tutum expertibus si dicendi copiam tradiderimus, non eos quidem oratores
effeeerimus, sed furentibus quaedam arma dederimus. Die stoische Lehre
von der Gleichheit der Tugenden wird durch eine feine Distinction ein-
geschränkt, die freilich durch die Übersetzung abgestumpft ist Dagegen
wird Antakoluthie der Tugenden ofTenbar nicht angenommen. Sonst
wäre es unnötig zu betonen, dafs mit der ^tjroQiKri agen^ sich (pQo-
vTiaig and dixaioavvrj verbinden müssen, um ihren Mifsbrauch unmög-
lich za machen. Der Mifsbrauch einer agerq ist für den Stoiker über-
haupt undenkbar. Es ist hier unzweifelhaft das Restreben ersichtlich,
die Rhetorik in den Zusammenhang eines bestimmten philosophischen
Systems einzugliedern. Es ist weiter zu beachten, dafs die Rhetorik im
Sinne der Rhetorenschulen überall, wo sie erwähnt wird, geringschätzig
behandelt wird, während die copia rerum, die den Philosophen aus-
zeichnet, in begeisterten Worten verherrlicht und als Vorbedingung
selbst rein stilistischer Vorzüge geschildert wird (§92. 93).
Ich würde auch auf die Reispiele von ^iaeig hinweisen, die in
§ 111 — 117 aufgeführt werden und sämtlich rein philosophischen In-
halts sind, wenn nicht die Zugehörigkeit dieses Abschnitts zu der be-
sprochenen Quelle erst noch des Reweises bedürfte. Der Abschnitt
§ 63 — 71, der die verschiedenen philosophischen Secten auf ihre Redeu-
tung für die rednerische Ausbildung prüft und schliefslich zu dem Er-
gebnis kommt, dafs nur die akademische und die peripatetische Schule
wegen ihrer Disputationsübungen in Retracht kommen, hilft uns auch
nicht weiter, da Cicero mit § 63 den Zusammenhang seiner Quelle
unterbricht und einen hier garnicht hergehörigen Abschnitt einschiebt,
von dem es zweifelhaft bleibt, ob er überhaupt demselben Autor wie
das übrige gehört.
102 Erstes Kapitel.
Müssen wir also diese Stelleo vorläufig beiseite lassen, so kaoD ich
mich doch auf die aUgemeine psychologische Wahrscheinlichkeit herufen,
die fUr einen Philosophen als Urheber der Theorie spricht Der Philo-
soph kann viel eher auf den Gedanken kommen, die einfache und leichte
Disciplin der rhetorischen Kunstlehre zu seiner grofsen und schwierigen
Wissenschaft hinzu zu fügen, sei es aus idealen Gründen, sei es um den
praktischen Erfolg seiner Schule zu erhöhen, als es dem Rhetor beifallen
wird» von seiner leichten und doch lucrativen Kunst durch die Forderung
so umfassender Vorbildung die Schüler abzuschrecken und sich von andern
Lehrern abhängig zu machen. Die Forderung solcher Vorbildung ist eine
rein ideale Forderung. Denn in der Praxis war es inuner ohne diese Vor-
bildung gegangen. Daher konnte nur der Philosoph als der Vertreter
des Ideals diese Forderung erheben. Wir sahen im zweiten Jahrhundert
die Philosophenschulen eifrig bestrebt, sich der Concurrenz der Rhetoren-
schulen zu erwehren. Es liegt in der Linie ihrer bisherigen Ent-
wicklung, wenn sie noch mehr al& bisher der Praxis Zugeständnisse
machen. Die Rhetorenschulen hingegen hätten durch solche Wendung
nur ihre Stellung verschlechtert. Es konnten daher niemals von ihnen
so ideale Forderungen ausgehen. Die Philosophenschule besuchte wohl
nicht so leicht Jemand, der nicht schon vorher Unterricht in der Rhe-
torik genommen hatte. Dagegen werden sich die Römer gröfstenteils
mit der Rhetorik begnügt haben. Der Rhetor, zu dem die Schüler
damals schon in sehr jugendlichem Alter kamen (siehe Marx auct. ad
Heren nium Prolegom. p. 77) konnte schon aus diesem Grunde nicht
so grofse Vorbildung fordern. Dagegen konnte der Philosoph, der
diese Vorbildung selbst geben wollte, eine auf ihr beruhende höhere
Rhetorik gegen die vulgäre ausspielen. Es ist zu beachten, dafs die
von Cicero vorgetragene Theorie philosophischen und rhetorischen
Unterricht demselben Lehrer zuweisen möchte. Also war der Urheber
dieser Theorie selbst im Stande, philosophischen Unterricht zu erteilen,
d. h. er war selbst Philosoph.
Ich bin vielleicht länger als nötig war, bei diesem Beweise ver-
weilt. Aber es kann nun mit gröfserer Sicherheit die weitere Frage
gestellt werden, welcher Richtung und Schule dieser Philosoph ange-
hörte. Dafs er ein Akademiker war, mufs man von vornherein ver-
muten, weil. Cicero sich zu dieser Richtung bekannte und gerade sein
rednerisches Können auf die Akademie zurückführt/ wenn er sagt
Orator 12: se oratorem — non ex rhetorum officinü, $ed ex Academiae
spatiis extitisse. Der Abschnitt des Orator, in dem sich diese Worte
Sophisük, Rhetorik^ Philosophie io ihrem Kampf um die Jugeadbildang. 108
tinden, § 11 — 18, ist unverkennbar eine Recapitulation der in den
Bachern de oraiore entwickelten Grundgedanken. Wir dürfen also was
dort gesagt wird, auf diese zurückbeziehen. — Wenn ferner der Ab-
schnitt de orat. III 63 — 71, in dem bewiesen wird, dafs nur die peri-
patetische und akademische Schule dem Redner nützlich sind, auch
sieht so eng mit dem vorausgehenden zusammenhängt, dafs man ihn
mit Sicherheit auf dieselbe Quelle zurückführen kann, so hätte doch
Cicero ihn hier nicht einfügen können, wenn der Autor, dem er in
der Hauptsache folgte, ein Stoiker oder Epikureer gewesen wäre. Es
bleibt also nur die Wahl zwischen dem Akademiker und dem Peripa-
tetiker; und diese Wahl ist nicht schwer. Dem akademischen Skep*
tiker mufste die Rückkehr zu dem sophistischen Bildungsideal viel
näher liegen, als dem peripatetischen Dogmatiker. Ein Peripatetiker
hätte nie schreiben können^ was Cicero HI 57, im Zusammenhang jener
geschichtlichen Darstellung, seiner Quelle nachschreibt: ex ea summa
facultaie vacui ac liheri temporis muüo plura quam erat necesse, doctissimi
homines otio nimio et ingeniis uberrimis affluentes curanda sibi esse ac
quaerenda et investiganda duxerunt. Hier hört man den Skeptiker her-
aus, der das q)vaixdv fiiQog der Philosophie (denn von den Physikern
ist vorher die Rede) als v7C€q fifxag verwirft und nur für das Gebiet
der praktischen Philosophie seine Skepsis mildert.
Seine Kenntnis der fUr die Rhetorik zuträglichen philosophischen
Methoden will Crassus dem akademisch gebildeten Rhetor Metrodoros ver-
danken (111 75 aequalem fere meum ex Academia rhetorem nactus Metro-
dorum)^ der I 45 als eifriger Schüler des Karneades genannt wird, und
HI 145 fafstColta seine Zustimmung zu der Auseinandersetzung des Crassus
in die Worte zusammen: me quidem in Academiam totum compulisti.
In der Rede, auf welche diese Zustimmung des Cotta folgt, ist jene
Klage über das Zunehmen des SpeciaUstentums in allen Disciplinen
enthalten, die wir schon oben als der Hauptquelle entnommen erkannt
haben. Am Schlufs dieser Rede findet sich der praecise Ausdruck eben
jener Anschauung, von der auch die geschichtliche Darstellung 11155(1.
getragen ist, in den Worten: nunc sive qui volet eum philosophum, qui
copiam nobis rerum orationisque tradat, per me appellet oralorem licet;
sive hunc oratorem, quem ego dico sapientiam iunctam habere eloquentiae,
philosophum appellare malet, non impediam u. s. w. Es ist aber durch
die Worte des Cotta § 145 erwiesen, dafs jene Grundanschauung, auf
die es uns ankommt, einem Akademiker entlehnt ist. Dieser hatte sich
auf Aristoteles (§ 141) und auf den Retrieb der Rhetorik in der peri-
104 Erstes Kapitel.
patetischeo Schule beruren, aber schwerlich konnte er mit ihm ganz ein-
verstanden sein, da er das Verhältnis der Rhetorik zur Philosophie ganz
anders auffafste, als jene. Endlich ist noch darauf hinzuweisen, dafs
Cicero mehrfach betont, die peripatetische Rhetorik sei zwar an sich
wertvoll, aber für das praktische Leben nicht ohne weiteres brauchbar.
Vgl. Orator 12 nee so/ts lamm instructa ad forenses causas. de orat. III 80.
Der Standpunkt seines Crassus ist weder mit dem peripatetischen iden-
tisch, noch mit dem des Charmadas und der andern Philosophen des
zweiten Jahrhunderts, die die Rhetorenschulen schlechthin verachteten^
sondern er verlangt als Abschlufs der philosophischen Bildung einen
Rhetorikunterricht, der nicht minder als der der Rhetorenschulen und
mehr als der im Peripatos und der karneadeischen Schule übliche un-
mittelbar der rednerischen Praxis dient. Es wird sich uns noch weiter
bestätigen, dafs jener Philosoph geradezu für seinen rhetorischen Unter-
richt an Theorie und Praxis der gewöhnlichen Rhetorenschule anknüpfte,
die er allerdings zu erweitern und zu vertiefen suchte. Den Standpunkt
des Kleitomachos, Aischines, Charmadas verwirft Cicero durch den Mund
des Crassus ausdrücklich de orat. 1 47 sed ego neque Ulis assentiebar
neque — Piatoni — . Verbi enim controvenia iam diu torquet Grae-
culos homines u. s. w. Die genauere Darstellung dieses Standpunktes ist
daher absichtlich nicht dem Crassus, sondern dem Antonius in den
Mund gelegt: 1 84 — 93. Der Philosoph, dessen Ansicht Cicero folgt,
mufs daher ein jüngerer Akademiker sein, der einen Schritt weiter
ging als jene und die forenses causae nicht mehr den agrestiores Musae
überliefs (Orat. 12). Es bleibt also nur Philon von Larisa übrig, der
Lehrer Ciceros, der ihn zuerst in die akademische Lehre eingeführt hat
und dessen Standpunkt er, wie die Academica zeigen, bis an sein
Lebensende treu blieb.
Jeder Zweifel mufs schwinden, wenn wir hOren, dafs eben Philon
der erste Akademiker war, der ausdrücklich auch Rhetorik lehrte. Tusc.
II 9 (nach Erwähnung der älteren peripatetischen und akademischen
Disputationsübungen) nostra atUem memoria Philo, quem nos frequenles
audivimus, instüuit alio tempore rhetorum praecepta tradere, alio philo-
sophorum. Es geht aus dieser Stelle deuUich hervor, dals Philon genau
das tbat, was in den Büchern de oratore empfohlen wird: er begnügte
sich nicht mit den bisher üblichen Disputationsübungen, die nur in-
direct die rednerische Ausbildung förderten, auch nicht mit der aristo-
telischen Rhetorik, sondern tractirte mit seinen Schülern rhetorum
praecepta. Er gab also einen Rhetorikunterricht, der an die Theorie
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jagendbiidang. 105
uod Praxis der eigentlichen Rbetorenscbulen anknüpfte. Diese Ansicht
wird bestätigt durch de orat. Ill 110, wo es nach Erläuterung des
Begriffs vTto&eaig heifst: nunc enitn apud Philonem, quem in Äcademia
vigere audio, etiam harum iam causarum cognitio exercitatioque ceUhratur.
Die Behandlung der vrtod'iaeig, die von jeher als Domäne der eigent-
lichen Rhetoren gegolten hatten^ zeigt am besten, welcher Art der Rhetorik-
unterricht war, den Philon erteilte.
Der schwierige Abschnitt § 109. 110, in dem sich die eben citirte
Stelle findet, enthält den Schlüssel für die Quellenanalyse des dritten
Buches. Richtig verstanden und emendirt bietet er uns die Möglichkeit,
näheres über die rhetorische Theorie des Philon zu erfahren. Crassus
giebt III 37 die Disposition seines Vortrags, der von der stilistischen
Form der Rede handeln soll (§19 quemadmodum illa omari oporteat).
Er kennt vier Anforderungen, die der vollkommene Stil erfüllen mufs:
' ut Latine, ut plane, ut omate, ut ad id quodcumque agatur apte con-
gruenterque dicamus. Die beiden ersten Puukte werden in § 38 — 51
ziemlich kurz und ohne Beziehung auf den Hauptgedanken des ciccro-
nischen Werkes abgethan (§ 52 faciles enim — partes eae fuerunt, quas
modo percuctirri vel potius paene praeterii). Wir werden schliefsen
dürfen, dafs diese Punkte von Philon dem rhetorischen Elementarunter-
richt überlassen und nicht eingehender behandelt wurden. Der dritte
und vierte Punkt, das ornate und apte dicere, ist nach Ciceros
Meinung viel schwieriger, aber auch viel wichtiger für die Erreichung
der höchsten rednerischen Wirkungen. Redner, die diese Vorzüge be-
saben, hat es bisher überhaupt nicht gegeben ; und doch kommt gerade
auf sie alles an. Durch die Vorschriften der Lehrer, welche sich jetzt
Rhetoren nennen, kann man sie nicht erlangen. (Die Worte bor um
qui nunc ita appellantur rhetorum zeigen deutlich, dafs Cicero
hier aus seiner griechischen Quelle schöpft. Für Cicero selbst ist
rhetor ein feststehender und keinem Wandel unterworfener Begriff.
Denn er nennt ja den wahren philosophisch gebildeten Lehrer der
Redekunst orator (§ 142). Der Grieche hingegen hat nur das eine
^YjTWQ zur Verfügung, und kann auch die philosophisch gebildeten
Lehrer wie Praktiker nur QrjjoQeg nennen). — Wenn nun weiter den
jetzigen rhetores der verus orator mit seiner allgemeinen Bildung
gegenübergestellt wird und mit § 55 die Entwicklung und geschicht-
liche Begründung des sophistischen Ideals folgt, so ist klar, dafs Crassus
sagen will, die höchsten stilistischen Vorzüge (das ornate et apte
dicere) seien nur jener wahren Beredsamkeit erreichbar, die auf
106 Erstes Kapitel.
philosophischer Grundlage ruht. Es ist also höchst wahrscheinlich, dafs
Philon besonders eingehend von diesen Stileigenschaften gehandelt hatte
und nach dieser Richtung mehr bot, als die gewöhnliche rhetorische
Technik. Schon yor jener Disposition in § 37| im Eingang seines
ganzen Vortrages, hat Crassus als Aufgabe derselben bezeichnet, nach-
zuweisen: neque verborum omatum inveniri posse non partis exprtssü-
que sententiü n^ue esse uUam sententiam illustrem sine luce verborum.
Der hier hervortretende Gedanke der untrennbaren Einheit von Stoff und
Form, über dessen philosophische Begründung Cicero in § 20. 21
einige Andeutungen macht, der also sicher aus Philon stammt, wird
aber in der kurzen Behandlung der beiden ersten Punkte der Dis-
position garnicht verwertet; erst wo es an den dritten Punkt geht,
greift Cicero wieder nach den philonischen Gedanken. Es ist also
klar, dafs Philon nur das omate et apte dicere (Ciceros dritten
und vierten Punkt) eingehend behandelt und nur für diese Stilvorzüge
die Abhängigkeit vom Inhalt erwiesen hatte. Darum entwickelt Cicero,
ehe er an den dritten Punkt herangeht, das von Philon aufgestellte
Ideal des vollkommenen Redners samt seiner geschichtlichen Begrün-
dung § 54—81 und zeigt in § 82 — 90, dafs seine praktische Verwirk-
lichung möglich sei, um erst mit § 91 die Behandlung des dritten
Punktes der Disposition wirklich in Angriff zu nehmen. Die Art, wie
er dies thut, zeigt, dafs unsere Darlegung des Zusammenhangs das
richtige trifft. Denn in der Tbat kommt in § 92. 93 der philonische
Grundgedanke zu seinem Recht: apparalu nobis opus est et rebus ex-
quisilis undique collectis accersitis comportaJtis — rerum est silva magt%a.
Es wird ausdrücklich betont, dafs man diese silva rerum weder
durch die blofse rednerische Empirie, noch in der gewöhnlichen Rhetoren-
schule lerne. Natürlich meinte Philon mit dieser silva rerum die
Kenntnis der philosophischen Probleme, namentlich derjenigen, die auf
die menschlichen Dinge Bezug haben, die schon § 54 gefordert wird:
vero oratori, quae sunt in hominum vita, quando quidem in ea versatur
orator atque ea est ei subiecta materies, omnia quaesita audita lecta dis-
putata tractata agitata esse debent.
Es folgt zunächst, nach einer Abschweifung, die uns hier nicht
angeht (§ 93 — 95), eine ausführliche Betrachtung über die rechte Art und
das rechte Mafs rednerischen Schmucks (§ 96—103), in der vor Über-
ladung und Süfslichkeit gewarnt und der suavitas austera et solida der
Preis zuerkannt wird. Mag nun dieser Abschnitt aus Philo stammen, wie
ich glaube, oder nicht — für unsern Zweck genügt es, dafs am Schlufs
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugeodbildang. 107
der philonische Gedanke wiederkehrt: quare, ut ante dixi, primum Silva
verum ac sententiarum comparanda est, qua de parte dixit Antonius; haee
formanda filo ipso et genere orationis, iUuminanda verbis, varianda Mit-
tentiis. Die Verweisung auf die Rede des Antonius im zweiten Buche
wirkt hier sehr störend. Denn während wir schon längst von Crassus
Aufklärung darüber erwarten, inwiefern die silva verum die Schön-
heil und Angemessenheit des Stils erzeugt, lauten diese Worte so, als
ob die Frage schon abgethan wäre und Cicero eben zu einem andern
Gegenstand übergehen wollte. In der Quelle mufste alles von dem
Grundgedanken beherrscht sein, dafs der wahre Schmuck der Rede aus
dem Gedankenapparat quillt, den sich der Redner angelegt hat; und
zwar wurde dies ohne Zweifel sowohl für den ;^a^axnj^ koyov im
allgemeinen, von dem § 96 — 103 die Rede ist, als für die einzelnen
Schmuckmittel nachgewiesen. Auch was in § 104 — 125 über die
letzteren vorgebracht wird, war in der Quelle jenem Hauptgedanken
untergeordnet, der deshalb am Schlufs noch einmal nachdrücklich
hervorgehoben wird § 125: rerum enim copia verborum copiam gignii.
Meiner Meinung nach hatte Philo auch die amplificatio (§ 104), die
irtaLVOL und \l)6yoi (§ 105)^ die loci communes (§ 106) in diesem
Sinne besprochen. Doch ich brauche darauf für das, was ich beweisen
will, kein grofses Gewicht zu legen. Sicher ist, dafs die Behandlung
der ^iaeig^ die mit § 107 beginnt und in einheitlichem Gedankengang
bis § 125 reicht, dem philonischen Grundgedanken untergeordnet war,
der in unmittelbarem Anschlufs an sie wieder auftaucht, dafs also diese
ganze Abhandlung aus Philon stammt.
Die &ioeiQ werden eingeführt in § 107 als eine Unterart der
loci communes, weil sie hier als ein Mittel zum Schmuck der Rede
und zwar, wie man aus der Ausführlichkeit der Behandlung schliefsen
darf, als eines der wichtigsten behandelt werden. Es sind „ancipites
disputationes , in quibus de universo genere in utramque partem
disseri copiose licet'^ Weil sie von Allgemeinbegriffen handeln, be-
fassen sie zahllose EinzelfUlle, wie sie in der rednerischen Praxis vor-
kommen, unter sich und sind daher als loci communes verwendbar.
Die Einheitlichkeit des ganzen Abschnitts bis zu § 125 wird bewiesen
durch die Worte in § 120: omatissimae sunt igitur orationes eae, quae
latissime vagantur et a privata et a singulari controversia se ad universi
generis vim explicandam conferunt et convertunt, ut ei, qui audiant,
natura et genere et universa ve cognita de singulis reis et criminibus et
litibus statuere possint, an welche § 121 anknüpft: in hoc igitur tanto
108 Erstes Kapitel
tarn immensoque campo cum liceat aratari vagari libere atque, ubicunque
eonstiterit, cansistere in mo, fadh sufpeditat omnis afparatus omatusque
dicendi: Rerum enim copia verborum copiam gignit. Es ist also unver-
kennbar, dafs in Ciceros Quelle die Abhandlung über die d-iaeig dem
Gesichtspunkt omatus orationis untergeordnet war und dafs sie den
Zweck hatte , die Bedeutung der copia rerum d. h. der philosophischen
(ethisch-politischen) Durchbildung für den rednerischen Stil nachzuweisen.
Gleich nach der ersten Erwähnung der ancipitea guae$tiones in
§ 108 sagt Crassus, diese Art der Übung sei jetzt auf Peripatos und
Akademie beschränkt; p^apud antiquos erat earum, a quihus omnis de
rebus forensibus dicendi ratio et copia petebatur.'* Damit sind natürlich
die von Philo verherrlichten Sophisten gemeint, bei denen diese Obung
noch im engsten Zusammenhang mit dem rednerischen Unterricht stand.
Philo selbst nannte sie TtokiTixol (pil6ooq)Ov (§ 109). Der Schluls
von § 107 und § 108 stammt nicht aus der Quelle. Vielmehr sollen
diese Worte nach Ciceros Ansicht nur dazu dienen, die philosophische
Theorie, die dem Crassus in den Mund gelegt wird, mit seinem Cha-
rakter in Einklang zu bringen. Er beklagt sich als Redner, dafs er von
den Philosophen borgen müsse, was von Rechts wegen dem Redner zu-
komme. Philon selbst kann sich natürlich so nicht ausgedrückt haben.
Ihm könnte eher Parteinahme für die Philosophen, als für die Redner
zugetraut werden, da jene nach seiner Ansicht den grOfseren und
wichtigeren Teil der Bildung besitzen.
In § 109 knüpft Crassus, nach seiner persönlichen Zwischen-
bemerkung, an den schon in § 107 enthaltenen Gedanken der Vorlage
wieder an. Peripatos und Akademie, hiefs es dort, betrachten jetzt die
Übungen über ^iaetg als ihre Domäne, während bei den Alten diese
Übungen von den Lehrern der praktischen Beredsamkeit betrieben
wurden. Daher^ fährt er nun in § 109 fort, sagen jetzt jene beiden,
nach einzelnen Örtlichkeiten einer einzelnen Stadt benannten Gruppen
von Philosophen, die Peripatetiker und Akademiker, was schon lange
vor ihnen die nach dem Staatswesen überhaupt benannten Ttokirixal
q)ik6aoq)oi sagten: dafs es zwei Gattungen des noktTindv t,iJTrifia
gehe, &iaiQ und viio^eaig, und die vno^eaig wieder in drei Arten
zerfalle, das dixaviTCov, avfißovXevrixov, iyxwfitaOTixov yivog. —
An diesem Satze ist uns anstüfsig, dafs die Einteilung des nokizt"
xov Crjrrjfia in d^iaig und vno^eaig, die wir als hermagoreisch kennen,
als eine den Peripatetikern und Akademikern eigentümliche Lehre dar-
gestellt zu werden scheint. Nach dem überlieferten Text mufs man
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung. 109
auch zu den folgenden Sätzen die Akademiker und Peripatetiker als
Subject ergänzen, wobei sich noch schummere AnstOfse ergeben. Denn
es hetfst hier: „Sie bedienen sich auch in ihrem Unterricht dieser
Einteilung, aber so, dafs sie nicht auf dem gerichtlichen Wege ihr ver-
lorenes Besitztum wieder in Anspruch zu nehmen, sondern durch Ab-
brechen eines Zweigleins es zu usurpiren scheinen. Denn nur die
VTtd&eaig haben sie und auch die nur an einem Zipfel. Denn bei
Philo, der jetzt, wie ich höre, in der Akademie regiert, wird auch
diese Art von Übungen bereits gepflegt Die &iaig hingegen nennen
sie zwar in den Anfangsgründen ihrer rixvr] und nehmen sie für den
Redner in Anspruch, aber sie sprechen sich weder über ihre Bedeutung
und Eigentümlichkeit, noch über ihre Arten aus, sodafs es besser wäre,
sie hätten sie ganz übergangen*^ Dafs in diesem Abschnitt nicht von
den Akademikern und Peripatetikern die Rede ist, sondern von den
Rhetoren, d. h. von Hermagoras, kann jedes Kind sehen. Nur auf sie
pafst es ja, dafs sie ihr ursprüngliches Besitztum verloren haben (vgl.
§ 108 sed quoniam de nostra possessione depulsi in parvo et eo
litigiöse praedicto relicti sumus), nicht auf die Philosophen, die viel-
mehr in fremdes Besitztum sich eingedrängt haben (qui in nostrum
Patrimonium irruperunt). Nur sie beschränken sich auf die vnod'eaig^
während die Philosophen vielmehr die ^iatg pflegen. Nur von ihnen
kann der Ausdruck artem tradere gebraucht werden. Nur von ihnen,
nicht von den Akademikern, konnte gesagt werden, dafs ihnen Philo
der Akademiker nunmehr auch die vjto&eoig entreifst. Die ganze
Stelle ist ledigUch die Fortsetzung des schon in § 108 von Crassus
gebrauchten Bildes, das wir als Zusatz Ciceros bezeichnet haben. Es
müssen daher in den verderbten Worten am Anfang von § 110 die
Rhetoren genannt gewesen sein. Überliefert ist: atque hactenus lo-
quantur etiam hoc (m) instituendo divüione utuntur. Dem Sinn würde
genügen: atque hactenus sequuntur eliam {rhetores), hac u. s. w. Sicher
ist nur, dafs die Rhetoren genannt waren und ihre Übereinstim-
mung mit jener Einteilung hervorgehoben wurde. Dadurch schwindet
auch gröfstenteils das Anstofsige der voraufgehenden Worte. Crassus
will nicht diese Einteilung als etwas den Akademikern und Peripateti-
kern eigentümliches bezeichnen, wie die folgenden Worte: atque Aao-
tenus u. s. w. beweisen, sondern die ganze Auseinandersetzung über
die üts, natura und genera der ^iaig, die er durch diese Einteilung
vorbereitet. Er nennt gleich am Anfang seine Quelle für das ganze;
aber weil er sich schon nach dem ersten Satze durch die Bemerkung
110 Erstet Kapitel.
über die Rhetoren unterbricht, sieht es aus, ab ob sich die Quelleu-
angabe nur auf den ersten Satz bezöge. Als römischer SUaUmann und
Redner mufs er sich natürlich entschuldigen, dafs er seine Doctria von
griechischen Philosophen entlehnt Das geschieht durch die Bemerkung
über die TtoktTLiioi (pLX6öO(poi'y sie soll die Theorie als nicht von den
Schulphilosophen erfunden, sondern ursprünglich den Rednern und
Staatsmännern eigentümlich erscheinen lassen. Wissen wir nun, dafs
die in der Nennung der beiden Schulen enthaltene Quellenangabe sich
auf die ganze Abhandlung über die d'iaeig beziehen soll (wie schon
die Vergleichung mit § 107 quae exerdttUio nunc propria dtianim phi-
losophiarum — putatur beweist), so schwindet jede Möglichkeit, die
Nennung der beiden Schulen ernst zu nehmen und dem Cicero aufs
Wort zu glauben, dafs er bis in alle Einzelheiten ihre gemeinsame
Lehre vorträgt. Denn dafs Cicero die specielle Einteilung und Theorie
der ^ioeiQy die er S 111 — 125 vorträgt, einem bestimmten einzelnen
Autor entlehnt (und zwar dem Philon, wie wir uns durch die Unter-
suchung des Zusammenhangs überzeugten), wird niemand bezweifeln.
Es ist also die Nennung der beiden Schulen und der nokiTixol q>il6'
aoq^oi in § 109 lediglich eine facon de parier, um das wahre Quellen-
verhältnis d. h. die Benutzung einer Schrift Philons, in einer dem
Charakter der Gesprächsperson angemessenen Weise zu maskiren. Es
wäre also ganz verkehrt, diese Stelle als ein glaubwürdiges Zeugnis für
das Vorhandensein der herroagoreischen Einteilung des Ttokirtxov
^ijTijjua vor Hermagoras zu verwerten. Bei Philon fand Cicero, was in
§107 steht: quae exercitatio (die ^iaeig) apud antiqtios erat eorum, o
quibus omnis de rebus forensibus dicendi ratio et copia petebatur.
Daraufhin hat er sich für berechtigt gehalten, mit seinem dicunt auph
die hermagoreische Einteilung des Ttokijixov Ci^Trjfia jenen antiqui
(nokiriKol (ptX6ao(fOi) zuzuschreiben, was geschichtlich unmöglich ist.
Ebenso wufste Cicero, dafs im Peripatos von jeher Disputationen über
&io€ig üblich waren. Daraufhin hielt er sich für berechtigt, mit
seinem dicunt auch die philonische Theorie der ^iaeig den Peripate-
tikern mit auf Rechnung zu setzen.
Diese hat er freilich nicht ganz klar wiedergegeben. In § 106
werden drei Arten von loci communes aufgezählt 1. qui habent vitiorum
et peccatorum acrem quandam cum aroplificatione incusationem aut
querelam, contra quam dici nihil solet nee potest 2. qui habent depre-
cationem aut miserationem 3. ancipites disputationes, in quibus in
utramque partem disseri licet. Die Logik fordert hier statt der Drei-
Sophistik, Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf am die Jagendbildung. 111
teilung eine Zweiteilung. Es giebt zwei Arten von loci communes^
eindeutige und zweideutige. Die Scheltrede gegen den Mörder, den
Verräter, den des Unterschleifs schuldigen, den man seines Vergehens
bereits überführt hat, ist eindeutig: contra eam dici nihil solet nee pot-
est. Zu dieser Gattung gehört auch Ciceros zweite Unterabteilung der
foct, die deprecationes und miserationes. Wenn der Redner die Un-
schuld seines Ch'enten bereits nachgewiesen hat, so wird die Beschwich-
tigung des Zornes der Richter und die Erregung von Mitleid zu einem
locus^ contra quem dici nihil potest. Den Gegensatz bilden diß ancipites
disputationes, bei denen das tvqoq afifporegcc inix^iQ^lv möglich ist.
Es darf uns nicht irre machen, dafs unter dieser Rubrik § 118, die
schon in § 116 genannte miseratio wiederkehrt. Dort ist sie mit der
consokUio zusammengestellt. Es ist also an Fälle gedacht, wo man das
Unglück einer Person zugeben oder bestreiten kann. Auch das ist ein
logischer Fehler, dafs Cicero § 105 die amplificatio und die xpoyot und
enaivoL mit den loci communes als Kunstmittel der oratio omata coor-
dinirt. Als ob nicht die amplificatio gerade vermittelst der loci com*
munes bewirkt würde und als ob nicht die xpoyoi und %natvot nur
eine Unterabteilung jener loci bildeten I Es ist also klar^ dafs Cicero
den logischen Aufbau der philonischen Theorie stark verdunkelt hat.
Die Unterscheidung von d'iöiQ und vno&eaig erkannte Philon als
berechtigt an, aber er legte ihr geringes Gewicht bei. Er war offen-
bar der Ansicht, dafs im Unterricht die &iaeig die Hauptrolle spielen
müfsten. Wer ihre Behandlung richtig und vollständig erlernt habe,
der könne auch jede vn6&€Oig behandeln, indem er die specielle
Frage unter die allgemeine subsumire. Die omatissima oratio und die
schönste amplificatio werde dadurch erreicht, dafs man vom einzelnen
zum allgemeinen aufsteige. Viel grösseres Gewicht legte Philon auf die
Einteilung der ^ijrij^aira in theoretische und praktische, die schon
§ 104 angedeutet wird {vel ctim explanamus aliquid vel cum conciliamm
animos vel cum concitamus) und nachher der Einteilung der d'iaeig in
§ 111 ff. zugrunde gelegt wird. An diese Einteilung hatten diejenigen
Rhetoren angeknüpft, von denen Quint. 111 5, 11 redet.
Doch es gehört nicht zu meiner Aufgabe, die Entwicklung der
rhetorischen Theorieen zu verfolgen. Nur um die Quellenfrage sicher
zu stellen, roufsten wir auch den materiellen Inhalt der philonischen
Theorie berücksichtigen. Unsere Erörterung, hat den Nachweis geliefert
dafs Cicero die Verherrlichung des sophistischen Bildungsideals dem
Larisaeer Philon nachgeschrieben hat. Er ist es, der so eifrig die
112 Erstes Kapitel.
Wiedervereinigung der Philosophie und Rhetorik zu einer einheitlichen
Ttatdela mit praktischem Ziel befürwortet und in dem Lehrplan seiner
Schule durchgeführt hat. Dies mufste durch die Quellenuntersuchung
erwiesen werden, weil wir dadurch eine entscheidende Krisis in der
Geschichte des antiken Unterrichtswesens kennen lernen.
Ich schreibe der Erneuerung des sophistischen Bildungsideals durch
Philon die gröfste geschichtliche Bedeutung zu, obgleich sie zunächst fast
spurlos vorüber zu gehen scheint. Der Gedanke, die Philosophenschulen
auf das praktische Ziel der rednerischen Ausbildung zuzuspitzen, hat
keinen Anklang gefunden. Kein anderer Philosoph ist ihm darin gefolgt.
Sein Nachfolger, Antiochos von Askalon^ scheint nicht Rhetorik gelehrt
zu haben. Der Epikureer Philodemos wurde offenbar durch das Vor-
gehen Phiions zu seiner Schrift neqi QrjioQixrjg veranlafst^ in der er
die Vereinigung der Philosophie mit der Rhetorik auf das entschie-
denste bekämpft. Bald nach Philon trat die peripatetische Schule durch
Andronikos in ein neues Stadium. Sie wurde zu einer Gelehrten-
schule^ die sich hauptsächlich mit der Interpretation des aristotelischen
Nachlasses beschäftigte und auf die Ausbildung der Jugend für das
praktische Leben verzichtete. Der Stoicismus des letzten grofsen
Stoikers, des Poseidonios von Apameia, trägt durchaus einen gelehrt
wissenschaftlichen, den philosophischen Dogmatismus mit Polyhistorie
verbindenden Charakter. Philosophenschulen und Rhetorenschulen haben
auch ferner neben einander bestanden und sich, soviel wir erkennen
können^ keine Concurrenz mehr gemacht. Das Römertum hat sich im
Forlgang des Hellenisirungsprozesses immer mehr zur Anerkennung der
Philosophie als eines regelmäfsigen Bestandteils der höheren Jugend-
bildung verstanden. Diese Entwicklung hat sich im Lauf des ersten
Jahrhunderts v. Chr. vollzogen und ist durch die Monarchie und das
von ihr gebotene Verstummen der leidenschaftlichen politischen Kämpfe
mächtig gefordert worden. Auch bei den Römern besseren Standes
wurde es nun allgemein gebräuchlich, dals die Schüler erst zum
Grammatiker, dann zum Rhetor, endlich zum Philosophen in die
Schule kamen und dafs daneben auch die andern ixadiiixana getrieben
wurden, wie es uns aus Quintilian geläufig ist. Auch die Philosophie
gehörte jetzt zur allgemeinen Bildung. Alle diese Dinge trieb man,
weil es herkömmlich und schicklich geworden war, sie zu lernen. Ein
einheitUches praktisches oder ideales Ziel hatte diese nokxnQonog
Ttaideia nicht. Die Rhetorenschule hatte nicht mehr die Aufgabe,
ihren Zöglingen die Waffen für die gewaltigen Kämpfe des politischen
Sophisliky Rhetorik, Philosophie in ihrem Kampf um die Jugendbildung. 113
Lebens in die Hand zu geben. Aber sie blieb doch nach wie vor für
jeden Gebildeten unentbehrlich. Denn wer nicht selbst die rednerische
dvvafiig zu praktischen Zwecken brauchte, der wollte doch wenigstens
über rednerische Leistungen urteilen und mitsprechen können. Die
Philosophen einzogen ihre Zöglinge nicht mehr zu selbständigem Nach-
denken über die ewigen Probleme der Natur und des Menschenlebens,
da sie selbst nicht mehr Forscher, sondern nur gelehrte Kenner der
philosophischen Litteratur ihrer Secte waren. Aber unentbehrlich blie-
ben sie doch für jeden Gebildeten. Denn wer sich nicht selbst durch
die Probleme zur Forschung gereizt fühlte, der mufste doch wenigstens
etwas von dem gehört und gelesen haben, was weise Männer vor ihm
über diese Probleme gedacht hatten.
Aber trotz des friedlichen Zusammenwirkens der Rhetorenschulen
und der Philosophenscbulen zu dem gemeinsamen Ziele dieser malten
und farblosen allgemeinen Bildung ist doch die Erneuerung des sophi-
stischen Bildungsideals durch Pbilon nicht ohne geschichtliche Folgen
gebheben. Von der Schulphilosophie hat sich die Popularphilosophie
abgetrennt und von den Rhetorenschulen ist die sogenannte zweite
Sophistik au^egangen. Beide sind nur ModiGcationen der alten Sophistik,
die jkth in diesen beiden Formen neben der eigentlichen Philosophie
und der eigentlichen Rhetorik wieder ihren Platz eroberL
Die Popularphilosophie macht von dem philosophischen Lager aus
einige Schritte nach der sophistischen Seite hin. Denn ihren Gedanken-
inhalt entlehnt sie zwar in freier Auswahl den Schulphilosophieen ; aber
der Verzicht auf zusammenhängenden, wissenschaftlichen Unterricht, das
Fehlen strenger, schulmäfsiger Beweise, die Anpassung an den gesunden
Menschenverstand, das Streben noch effectvoller, oft geradezu rhetorisch-
epideiktischer Darstellung, die Verachtung derjenigen Teile der Philo-
sophie, die nicht unmittelbar dem pädagogischen Zweck sittlicher Er-
bauung dienen, sind Züge, die auch bei vielen Vertretern der allen
Sophistik wiederkehren. Diese Züge Gnden sich nicht alle gleichmäfsig bei
allen Popularphilosophen. Die Popularphilosophie ist mannichfaltig und
vielgestaltig, wie es auch die alte Sophistik gewesen war. Aber als
Ganzes betrachtet^ nimmt sie eine Mittelstellung zwischen der eigent-
lichen Philosophie und der Sophistik ein. Mit dem von Philon auf-
gestellten und von Cicero verherrlichten Ideal des philosophisch gebil-
deten Redners zeigt sie wenigstens in manchen ihrer Vertreter eine
gewisse Verwandtschaft. Viele dieser Philosophen haben auch als
praktische Redner in das bürgerliche Leben ihrer Heimatstädte ein-
T. Arnim, Dio. S
114 Erstes Kapitel. Sophistik, Rhetorik, Philosophie etc.
gegrifTen und das Ideal des phtlosophus orator zu verwirklichen
gesucht.
In anderm Sinn hat die zweite Sophistik das Ideal des vollkomme-
nen Redners aufgefafst. Ihr Bildungsideal ist das auf allgemeiner Bildung
beruhende universelle rednerische Können. Wir werden an einer
späteren Stelle unserer Darstellung dieses Bildungsideal der zweiten
Sophistik eingehender schildern. Hier kommt es mir nur auf den ge-
schichtlichen Zusammenhang an, der zwischen ihm und dem philonisch-
ciceronianischen Ideal des vollkommenen Redners besteht. Es ist un-
verkennbar sein Abkömmling. Das Ideal des vollkommenen Redners,
das der Philosoph aufgestellt hatte, hat in den Kreisen der zünftigen
Rhetoren fortgewirkt. Für die römische Rhetorik können wir dies
durch Quintilian erweisen, der, wie Cicero, die vollkommene rednerische
dvvafiig als das absolut genommen höchste Bildungsziel ansieht, aber
auch zur Erreichung dieses Zieles das Studium aller fÄa&f^ata mit
Einschlufs der Philosophie fordert. Auf griechischem Gebiete fehlen
uns die MittelgUeder. Aber auch hier ist der geschichtliche Zusammen-
hang nicht zu bezweifeln. Die Abfassung von Quintilians Institutio
oratoria f^llt in dieselbe Zeit, wo auch die zweite Sophistik zur Blüte
kommt. Sie zeigt uns, was thatsächlich dabei herauskam, wenn Jemand
in dieser Zeit das Ideal des vollkommenen, universell gebildeten Red-
ners zu verwirklichen suchte. Das Werk des römischen Theoretikers
und die Praxis der sophistischen Redner sind von derselben Zeitströ-
mung getragen, die das sophistische Ideal wieder hoch emporgehoben
und selbst den Namen des Sophisten, den Jahrhunderte lang verachteten,
wieder zum höchsten Ruhmestitel gemacht hat.
Zweites Kapitel.
Dio als Sophist
Ober das Leben des Dio geben uns in erster Linie seine erhaltenen Aufgabe und
Schriften Aufschluts. Denn unser Autor liebt es, von sich selbst zu Q^*"*°-
eigene
reden. Die Aufgabe, aus seinen gelegentlichen Äufserungen ein Gesamt- schriiten.
bild seines Lebens- und Entwicklungsganges herzustellen, hat noch Nie-
mand bisher ernstlich zu lösen versucht, obgleich man nur auf diesem
Wege zum Verständnis des Autors gelangen kann. Vielleicht finden die
Widersprüche, die Hirzel ihm vorwirft/) einleuchtende Erklärung, sobald
wir die Zeitfolge seiner Werke erkennen und den Gang seiner geistigen
Entwicklung überschauen.
Es ist das freilich keine ganz leichte Aufgabe. Für manche Lebens-
abschnitte Dios, vor allem für die ersten Jahre nach seiner Restitution,
steht uns reichlicher Stoff zur Verfügung, für andere fehlt es an jeg-
licher Nachricht; und selbst da, wo die Quelle reichlich fliefst, erfordert
die Deutung, Ordnung und Verbindung der Nachrichten divinatorisches
Geschick. Die bithynischen Reden, die unter allen dionischen am meisten
biographischen Stoff enthalten, sind leider ohne Reste antiker Sacherkltt-
ning auf uns gekommen. Sie können nur verstanden werden aus den
praktischen Zwecken, für die sie bestimmt waren, und aus den beson-
deren Umständen ihrer Entstehung. Die Kenntnis dieser Umstände war
für Dios Hörer etwas Gegebenes, wir können von ihnen selbst durch
schärfste Interpretation und eindringendste Forschung kein ganz klares
Bild gewinnen. Wir werden uns daher oft genötigt sehen, die Erzäh-
lung durch zweifelndes Abwägen des Für und Wider zu durchbrechen.
Aufser dem eignen schriftlichen Nachlasse Dios giebt es eine selb- sonstige
ständige biographische Oberlieferung, die aber nur in ganz wenigen biographi-
Punkten das aus Dio bekannte ergänzt. Dafs überhaupt ein Plus wirk- iieferung.
1) Der Dialog II 86 Aom. 4.
116 Zweites Kapitel.
lieber Überlieferung vorbanden ist, erklärt sieb ledigbeb aus dem Um-
stände, dafs Pbilostratos und Synesios noeb dioniscbe Sebriften lasen
die für uns verloren sind.
prusa in Dio Stammt aus Prusa am Olympos, einer Kleinstadt der römiscben
BUhynien. ppQyiQ2 ßitbynien. Prusa geborte weder zu den Städten mit bevor-
zugter Recbtsstellung , noeb nabm es unter den Untertbanenstädtcn an
Rang und Gröfse eine der ersten Stellen ein. Hinter Städten wie
Apameia, Nikomedeia, Nikaia stand es weit zurüek. Bis in die traja-
nisebe Zeit hinein scbeint es einen selbständigen Stadtbezirk niebt ge-
bildet zu baben. Aber gerade in der Zeit, von der wir reden, erfolgte
ein wirlscbaftlicber Aufsebwung und eine Zunabme der Bevölkerung, die
es der Bttrgersebaft nabe legten, eine bessere Recbtsstellung anzustreben.
Bitbynien zeigt in den beiden ersten Jabrbunderten der Kaiserzeil
gegenüber der voraufgebenden bellenistiseben Zeit eine wachsende gei-
stige Regsamkeit. Die Aufzählung der aus Bitbynien gebürtigen I^itte-
raten bei Strabo p. 566 zeigt, dafs die Landsebafi in hellenistischer Zeit
auTser dem Astronomen Hipparchos, einem Sohne Nikaias, keinen wahr-
haft bedeutenden Schriftsteller oder Gelehrten hervorgebracht bat Panaitios
und Karneades baben mehrere Schüler aus Bitbynien. Erst in der Zeit,
wo Bitbynien römische Provinz wird, finden wir in Rom einige nam-
hafte bitbynische Litteraten, den Dichter Partbenios, den Arzt Asklepiades
aus Kios und den gleichnamigen Grammatiker aus Myrlea.
Die Hellenisirung Bitbyniens halte sieh in der vorrömisehen Epoche
auf wenige Städtegründungen in der westlichen , an die Buchten der
Propontis grenzenden Küstenlandschaft beschränkt. Den Römern blieb
es vorbehalten, sie tiefer ins Innere des Landes zu verbreiten. Aber
nicht die in der Kaiserzeit neubegründeten Griechenstädte Ostbitbyniens,
wie Juliopolis, Claudiopolis, Flaviopolis, sondern allein die althellenischen
Städte des Westens, wie Nikomedeia, Nikaia, Apameia (das alte Myrleia),
Prusa am Olympos spielen eine Rolle in der Litteraturgeschiehte der
Kaiserzeit und im Leben Dios.
Von den genannten Städten nimmt allein Apameia als römische
Bürgercölonie eine bevorzugte Stellung ein. Die übrigen sind Unter*
thanenstädte und als solche dem Regiment des römischen Statthalters
unterworfen. Doch ist durch dieses Unterthanenverhältnis die in den
Formen der griechischen l^olitie sich vollziehende Selbstverwaltung der
Städte nicht aufgehoben. Die Verfassungen sind obgarchisch geordnet.
Das Vollbürgerrecht ist von einem ziemlich hoben Gensus abhängig, so-
dafs die Masse der firmeren Bevölkerung fa^^t aller politischen Rechte
Dio als Sophist. 117
entbehi't. Nur eioe privilegirle Minderheit der Besitzeadeo ist zur Be-
kleiduQg der Batsherreo* und BeamteDStellen berechtigt. Auch die
Bechtsprechung wird inoerhalb gewisser Grenzen von städtischen Ge-
schworenen geübt Aber alle wichtigeren Angelegenheiten unterstehen
der Aufsicht und Controle des römischen Statthalters« vor allem die
Finanzverwaltuug , und wenn es bei Streitigkeiten oder Meinungsver-
schiedenheiten einer der Parteien beliebt, kann jede noch so unerheb-
liche Sache zu seiner Cognition gebracht werden. Es giebt auch einen
Provinciallandtag, dem die Vertretung der gemeinsamen Interessen aller
Provincialen, vor allem die Ausrichtung gemeinsamer GOtterfeste obliegt
Wenn es gilt gegen Bechtsverletzungen der Statthalter in Bom vorzu-
gehen oder sonstige Beschwerden oder Wünsche der Provinz zur Kennt-
nis der Beicbsregierung zu bringen, so ist der Provinciallandtag, das
Y.oiv6v %riQ Bid'vviag, die zur W^ahrnehmung dieser Interessen berufene
Instanz.
Aber es ist nur ein lockeres Band, das die Städte der Provinz zur
Einheit verbindet. Ein lebendiges patriotisches Gefühl hat der Einzelne
nicht für das e^og, dem er angehört, sondern allein für seine Tcolig.
An ihr hängen die höherer Empflndung fähigen mit wirklicher Lieber
während ein gemeinsames Vorgehen mehrerer Städte oder der ganzen
Provinz immer nur auf vorübergehender Interessengemeinschaft beruht
und wo diese aufhört Eifersucht und Hader die Begel bilden. Daran
kann auch der Umstand nichts ändern, dafs die Familien der Nachbar-
städte vielfach durch Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft verbunden
sind und der tägliche Handel und Wandel von Ort zu Ort hundert
andere Bande schlägt. Der Einzelne kann durch solche auswärtige Be-
ziehungen in die schwersten Conflicte hineingeraten. Immer bleibt nach
der ethischen Anschauung der Zeit die Bürgerpflicht gegen die Heimat-
stadt die höhere Pflicht. Mag er sehen, wie er daneben Verwandtschaft
und Freundschaft zu ihrem Rechte kommen läfst.
Aber wenn auch ein bithynischer Patriotismus unmöglich ist, so
steht doch ein anderes höheres Gefühl wenigstens bei den oberen Stän-
den über dem engen Localpatriotismus: das panhellenische National-
gefühl. Die Gebildeten fttlilen sich alle mit Stolz als Hellenen, gleichviel
ob sie wirkKch, wie die alten vornehmen Colonistengeschlechter, ihre
Abstammung von einem hellenischen oder makedonischen Stammvater
des dritten oder vierten Jahrhunderts herleiten können, oder ob ein
thrakisches oder von anderm Stamme zugewandertes Geschlecht durch
Annahme hellenischer Sprache und Bildung ein hellenisches Geschlecht
1 1-8 Zweites Kapitel.
geworden ist. Es kommt dabei nicht auf die natürliche Abstammung
an, sondern auf die Fortsetzung hellenischer Oberlieferung in Sitte und
ReUgion, in Wissenschaft und Kunst Diesem panhellenischen Patrio-
tismus fehlt die reale politische Grundlage. Es giebt kein noch so
lockeres Band, welches die ganze griechisch redende Welt einigte, nicht
einmal ein Fest oder Spiel. Dieser Patriotismus ist ein rein idealer,
auf dem gemeinsamen Besitz geistiger Güter beruhender. Vor allem ist
es dieselbe Litteratur, aus der die ganze griechisch redende Jugend sich
zur Menschlichkeit bildet, mag sie am Nil aufwachsen oder am Bory-
sthenes, am Orontes oder im Herzen des griechischen Mutterlandes.
Und wie die Quellen der Bildung für alle die gleichen sind, so wendet
sich auch die neue Litteratur, die aus jenen Quellen schöpft, an alle
gleichermafsen. Der Redner, der Philosoph, der Historiker, der Dichter
streben nach panhellenischem Ruhm.
In diesem hellenischen Bildungsstolze fühlt sich die Ostliche Reichs-
hälfle als die eigentliche Culturwelt und blickt mit Geringschätzung nach
dem lateinisch redenden Occident hinüber, in dessen Dunkel nur Ter-
einzelte Strahlen griechischer Geistesbildung hineinfallen. Nur die Haupt-
stadt selbst, die ßaaikevovaa Ttokig, macht darin eine Ausnahme. Sie
ist wirklich die Hauptstadt des ganzen zwiesprachigen Weltreiches, nicht
nur als Sitz der Reichsregierung, sondern auch als Mittelpunkt des gei-
stigen Lebens. Der Philhellenismus der Römer hat die Überlegenheit
der Griechen auf dem Felde der Litteratur, Wissenschaft und Kunst
.willig anerkannt. Ein gewisses Mafs griechischer Bildung gilt auch für
jeden Römer der höheren Stände als unerläfslich. Dadurch ist in Rom
fortwährend Bedarf nach griechischen Lehrern und der griechische
Litterat findet auch in Rom sein Publicum. Die bekannten Schilde-
rungen Juvenals geben uns von der ÜberfuUung Roms mit „graecuU"
die anschaulichste Vorstellung. Rom ist der Sammelpunkt auch für die
griechischen Talente. Hier kann, wer die Kunst versteht, sein Glück
machen. Hier winkt Genufs und Gold, hier der höchste Gipfel des
Ruhmes. Freilich ein grofser Teil der vornehmen römischen Gesell-
schaft erscheint dem feinfühligen Griechen als übertünchte Barbarei.
Wer als Philosoph, als Gelehrter, als Po^t, als Rhetor in das Haus-
gesinde eines römischen Grofsen aufgenommen wird, mufs sich unter
Umständen auf Leidenstage gefafst machen, wie sie Lukiau in der Schrift
TtsQi Twv Inl fiiad'ip avvovTCJv tragikomisch beschreibt. Aber es giebt
auch Kreise, deren Philhellenismus nicht leere Schaustellung und An-
bequemung an die Mode ist, sondern auf echtem Bildungsbedürfnis be-
Dio aU Sophist 119
ruht, Kreise, in denen der griechische Litterat feines Verständnis für
die Schätze seiner nationalen Litteratur und Kunst antrifft und selbst
mit rücksichtsvoller Höflichkeit behandelt wird. Namentlich diejenigen
Griechen, die nicht ifcl fxi^a&ipy sondern als unabhängige vermögende
Leute von Rang und Bedeutung zu romischen Grofsen in Beziehung
treten, sind ehrenvoller Aufnahme gewifs. Sie werden als „amici", als
social Gleichgestellte behandelt und können gelegentlich durch ihr per-
sonliches Verhältnis zu einflufsreichen Männern selbst Einflufs erlangen.
Auch zu den Kaisern selbst kann der talentvolle griechische Litterat
in vorteilhafte und ehrenvolle Beziehungen treten. Denn sie bedürfen
für die Verwaltung der griechischen Reichshälfte zahlreiche Beamte, die
mit den Verhältnissen vertraut und des griechischen Stiles mächtig sind.
Sie sind auch durch Grundsatz und Überlieferung die obersten Vertreter
des romischen Philhellenismus. Gern bekunden sie ihr Interesse an
griechischer Litteratur und Kunst, indem sie den namhaften Litteraten
und Künstlern sichtbare Beweise ihrer kaiserlichen Huld zuwenden.
Hier winken also dem jungen Griechen von Talent die stolzesten Aus-
sichten auf Reichtum, Ehre und Einflufs.
Wenn dazumal in einer Griechenstadt Bithyniens ein junger Mann
die Kraft zu ungewöhnlichen Leistungen in sich fühlt, so sieht er sich
zunächst auf die Ehrenlaufbahn hingewiesen, die ihm seine eigene Vater-
stadt eröffnet. Wenn er durch GebuVt und Vermögen zu den Berech-
tigten gehört, kann er Ratsherr werden und zu den höchsten Gemeinde-
ämtern seiner Heimat emporsteigen. Das ist ein 'bescheidenes Ziel für
hochstrebenden Ehrgeiz. Es kostet grofse Opfer an Geld und Arbeit
und führt doch, abgesehen von der Enge des Wirkungskreises, nie zu
dem lohnenden Ziel der Unabhängigkeit und Macht. Denn was er in
unaufhörlichem Kampfe mit Neidern und Nebenbuhlern und mit den
wechselnden Majoritäten in Rat und Ekklesie erarbeitet, kann ihm ein
Federstrich des Statthalters zunichte machen. Giebt er viel Geld für
gemeinnützige Zwecke aus, so werden ihm überschwengliche Lobeser-
hebungen und Titel decretirt, die in Stein gegraben auf die Nachwelt
kommen, oder es wird sein Bild in Marmor oder edlem Metall auf dem
Markte aufgestellt. Solche Ehrungen, so abgegriffen sie durch über-
mäfsigen Gebrauch und Mifsbraucb sein mögen, üben immer noch einen
unwiderstehlichen Reiz auf die meisten aus. Denn die Ehrbegierde, die
im Volkscharakter liegt, ist in der Kleinheit der Zeit vielfach zur Eitel-
keit geworden, die sich mangels wirklicher Ehre und Macht an äufseren
Ehrenzeichen genügen läfst. Aber schliefslich sind es doch käufliche
120 Zweites Kapitel.
Dinge. Der Geldprotz ohne Talent und Verdienst bekommt sie auch^
wenn er rechtzeitig in seinen Beutel greift. Als Deputirter zum Land-
tag, als Gesandter nach Rom geschickt zu werden, ist ehrenvoll, aber
die Befriedigung ist eine vorüborgehendc. All diese Dinge können wohl
dem Ehrbedürfnis des Durchschnittsmenschen, nicht aber dem hoch-
fliegenden Ehrgeiz stärkerer Talente genügen. Selbst die Würde des
Bithyniarchen, des Provincialoberpriesters und Landtagsvursitzenden, ist
mehr eine pomphafte Decoration als eine wirkliche Machtstellung. Wer
nicht mit Glttcksgütern gesegnet ist, mufs ohnehin auf die politische
Laufbahn verzichten. Höchstens kann er sie, indem er selbst Reichtum
erwirbt, seinen Söhnen und Enkeln eröffnen.
Der einzige Weg, der aus dieser Enge hinausführt, ist A\e Tcaidela
im weitesten Sinne. Sie macht den bithynischen Kleinstadter zum Bürger
des grofsen Reiches griechischer Civilisation, führt ihn nach der Haupt-
stadt der Welt, die alle Schätze der Erde in ihren Hauern vereinigt^
und oft bis in die Prunkgemächer der Kaiserpaläste. Dem Arzt, dem
Mathematiker, dem Philologen und mehr noch dem Philosophen und
Redner steht die halbe Welt offen, wenn er in seinem Fache mehr als
gewöhnliches leistet. Der Beruf des „Sophisten'' gilt allgemein als der
ohrenvollste und vorteilhafteste, als der sicherste Weg zu Reichtümern,.
Ruhm und Glück. Es ist daher leicht verständlich, dafs die gelehrten
Berufsarien (die in bezeichnenderweise unter dem Begriff deVTcatdela
zusammengefafst werden, zum Zeichen dafs es sich überall nur um die
Aneignung bereitliegender Geistesschätze handelt) eine starke Überpro-
duction aufweisen, bei welcher mehr die Hasse als der innere Wert der
Leistungen imponirend wirkt. Durch den ganzen Zuschnitt des Lebens
in der griechischen Welt werden zahllose Existenzen in die Laufbahn
des Litteraten oder Gelehrten hineingedrängt, die unter gesunden Ver-
hältnissen den Aufgaben des praktischen Lebens ihre Kräfte gewidmet
hätten.
Das praktische Leben bot dem Bürger der Griechenstädte keine
grofsen und schönen Aufgaben. Politisches Leben auf nationaler Grund-
lage konnte sich nirgends entwickeln, weil das römische Regierungs-
system die Stadtgemeinden in strenger Vereinzelung festhielt. Die Hasse
des Volkes lebte politisch rechtlos ein menschenunwürdiges Dasein, ohne
Hoffnung auf Besserung der Zustände, und gab sich zufrieden, wenn die
Brotpreise erträgUch blieben und für Bäder und Schauspiele gesorgt wurde.
Ihr konnte auch der einsichtigste Stadtpoliliker nicht zu einem besseren
Loose verhelfen. Höchstens konnte er ihr die krasseste materielle Not
Dio aU Sophist. 121
lindern und die rauhe Speise des Daseins mit ein bischen Vergnügen
würzen. Wenn Teuerung eintrat, pflegte der llafs des Volkes gegen
die Besitzenden und Privilegirten zum Ausbruch zu kommen. Aufruhr,
Brandstiftung und Blutvei^iefsen waren dann an der Tagesordnung,
sodafs der Stadtpoliliker auf die friedliche Überwindung dieser regel-
mäfsig wiederkehrenden Krisen vor allem bedacht sein mufste. Natürlich
▼erstand die römische Regierung in solchen Dingen keinen Spafs. Gegen
die Rädelsführer wurde mit unnachsichtiger Strenge vorgegangen. Gerade
Bithynien galt in der Zeit, von der wir reden, als ein besonders un-
ruhiges und zum Aufruhr geneigtes Land, woran neben dem natürlichen
Charakter der Bevölkerung das vielfache Mifsregiment der Statthalter
und die schlechte Finanzwirtschaft der Städte Schuld war. Unter der
Regierung Domilians hatten sich Mifsstände in der Bithynischen Provinz
herausgebildet, die unter Trajan mehrfach in krasser Form hervortraten
und schliefsiich dazu führten, dafs der Kaiser die bisher senatorische
Provinz zeitweilig selbst in Verwaltung nahm.
Wenn es um die Finanzen der Bithynischen Städte vielfach übel
aussah, so trug wie gesagt nur schlechte Wirtschaft daran die Schuld.
Denn die Natur hat die weslbilhynische Küstenlandschaft mit verschwen-
derischer Fülle ausgestaltet. Selbst ein so ruhiger, objecliver Beobachter
wie Helmuth v. Moltke wird, als er im Juni 1836 von Constantinopel
einen Ausflug nach ßrussa unternimmt, von der Schönheit und üppigen
Fruchtbarkeit der Gegend zu schwungvoller Schilderung begeistert. Von
der Küste her, aus der Gegend des alten Apameia, südwärts nach Brussa
hinüber führt ihn sein Ritt durch eine Gegend, die ihm „der seit Monaten
nichts als die Einöden Rumeliens gesehen hat, doppelt reizend erscheint.''
Nachdem er die reiche Bepflanzung des Landes mit Maulbeerbäumen,
Oliven und Reben geschildert hat (aus deren Cultur schon Dio einen
Hauptteil seiner Einkünfte zog), fahrt er fort: „Die ganze reich bebaute
Gegend erinnert sehr an die Lombardei, namentlich an die hügelige
Gegend von Verona. So lieblich wie der Vordergrund des Gemäldes, so
prächtig ist die Fernsicht. Auf der einen Seite erblickt man das Mar-
marameer mit den Prinzeuinselu und auf der anderen den prachtvollen
Olymp ^ dessen schneebedecktes Haupt über einem breiten Gürtel von
Wolken hervorragte. Die Weinblüte erfüllte die Luft mit einem starken
Resedageruch, wobei ihr das üppig wuchernde Caprifohum und eine
gelbe Blume, deren Namen ich nicht kenne, halfen. Nachdem wir eine
niedrige Ilügelreihe überächritten hatten, erblickten wir in einer grofsen
grünen Ebene am Fuf^e des Olymps in weiter Ausdehnung Brussa hin-
122 Zweites Kapitel.
gestreckL^^ „Ad den dunkel bewaldeten steilen Abhängen des Olymps'^
zeichnen sich die Türme und Dächer von Prusa ab. „Ein Flufs (im
Altertum Odryses genannt) schlängelt sich durch reiche Wiesen und
Maulbeerfelder, in denen riesenhafte Nufsbäume mit dunklem Laub, hell-
grüne Platanen — und schwarze Cypressen sich erheben. Der Wein
rankt sich an den mächtigen Stämmen empor und hängt sich an die
Zweige, von wo er wieder zur Erde herabsteigt; Caprifolium und blühende
Schlingstauden werfen sich noch wieder über den Wein. Nirgends habe
ich eine weite, so durchaus grüne Landschaft gesehen, aufser von dem
Lübbenauer Thurm, der den Spreewald ttberbhckt. Aber hier kommen
nun noch die reichere Vegetation und die prächtigen Gebirge hinzu,
welche diese Ebene einschliefsen. Oberraschend ist der Wasserreichtum ;
überall rauscht ein Bach; mächtige Quellen stürzen sich aus dem Ge-
stein, eiskalte neben dampfenden, und in der ganzen Stadt — sprudelt
das Wasser aus zahllosen Springbrunnen hervor.^^
Dioi Aus den Früchten dieser reichgesegneten Gegend hatte wohl die
' Familie, aus welcher Dio stammte, ihren Wohlstand gezogen. Unzweifel-
haft gehörte sie zu den vornehmsten und begütertsten von Prusa. Der
Name des Vaters, Pasikrates, der bei Dio selbst nicht vorkommt, ist durch
Photius (Suidas) bezeugt. Noch angesehener scheint die Familie von
Dios Mutter gewesen zu sein. Beide Familien hatten seit mehreren
Generationen in Prusa Bürgerrecht Über seinen («rofsvater mütter-
licherseits teilt Dio selbst einige bezeichnende Züge mit.*) Schon der
Grofsvater und Vater dieses Grofsvaters waren begüterte Leute gewesen.
Aber Dios Grofsvater hatte sein ganzes ererbtes Vermögen für gemein-
nützige Zwecke geopfert, sodafs ihm nichts übrig bUeb, und dann selbst
ein neues Vermögen erworben ano naidelag xai iragä rdv avTOxga-
TOQOJv. Man sieht, die Opierwilligkeit für das heimische Gemeinwesen,
welche bei Dio so entschieden ausgeprägt ist, beruht ebenso sehr auf
alter Familientradilion wie sein die Schranken der Kleinstadt überfliegen-
der Ehrgeiz. Welches Gebiet der nacdeia Dios Grofsvater angebaut
hatte, wissen wir nicht. Eine gut besuchte Rhetorschule könnte es
gewesen sein; die nährte nicht nur ihren Mann, sie war der rechte
Weg, in kurzer Zeit ein Vermögen zu erwerben. So könnte der junge
Dio die erste Anregung zur Wahl des sophistischen Berufes empfangen
haben. Ob Dios Grofsvater als Ehrengabc für hervorragende litterarische
Leistungen oder als Entgelt für praktische Dienste vom Kaiser bedeu-
1) Or. 46 § 3.
Bio als Sophist 123
tende SchenkuDgen erhielt, bleibt zweifelhaft Üio rühmt ihm an der-
selben Stelle') nach, er habe die kaiserliche Gunst, die ihm in reichem
Malse zuteil ward, niemals benutzt, um für sich selbst Gnadenbeweise
zu erwirken, sondern sie sorgsana aufgehoben und gespart für seine
Vaterstadt. Nichts geringeres hoffte er durch seinen Einflufs zu er-
wirken, als einen kaiserlichen Machtspruch, welcher Prusa zum Range
einer „civitas libera'^ erhöbe.*) Schon halte er den Kaiser sondirt und
seinen Absichten nicht abgeneigt gefunden; aber ehe die Sache zur
Reife kam, fanden diese hoffnungsreichen Reziehungen ein Ende, sei
es dafs er die kaiserliche Gunst einbüfste, sei es dafs er selbst oder der
Kaiser starb. Wir wissen nicht, welcher Kaiser gemeint ist. Die Wahr-
scheinUchkeit spricht für Claudius. Denn an Nero zu denken, verbietet
die Schärfe und Ritterkeit, mit der sich Dio über ihn zu äufsern pflegt
Von diesem Kaiser halte Dios Grofsvater samt seiner Tochter, Dios
Mutter, das Rttrgerrecht von Apameia und zugleich das römische Rttrger-
recht erhalten.')
Der Grofsvater väterlicherseits wird nur einmal gelegentUch erwähnt,
wo Dio alle Ehrungen aufzählt, die seiner Familie im Lauf der Zeiten
*
von der Rürgerschaft von Prusa decretirt worden sind. In diesem Zu-
sammenhange ist von beiden Grofsvätern die Rede.^) Wo Dio ohne
Zusatz von seinem Grofsvater spricht, ist stets der mütterliche als der
bekanntere Mann zu verstehen. Er ist es also auch, der TtgoaTarrjg
vrjg ßovkrjg gewesen ist.*)
Dieselbe Würde hat auch Dio's Vater Pasikrates bekleidet, den wir
uns nach der Schilderung des Sohnes als eine allgemein geachtete Per-
sönüchkeit vorstellen dürfen. Seine Rürgertugend und Gerechtigkeit ist
von der Rürgerschaft durch vielfache Ehrungen anerkannt worden.^)
So lange er lebte, hat er an der Spitze des Gemeinwesens gestanden.
Auch er besafs das Rürgerrecht von Apameia, aber nicht wie sein
Schwiegervater und seine Gattin durch kaiserliche Verleihung, sondern als
von der Rürgerschaft verliehenes Ehrenrecht.'') Natürlich erhebt sich die
Frage, ob mit diesem Ehrenbürgerrecht ohne Weiteres auch das römische
Rürgerrecht verliehen wurde. Dadurch würde auch für Dio beiderseitige
bürgerliche Geburt und somit Resitz der römischen Civität erwiesen
sein. Wenn Dio in Apameia sagt:^) „Ihr habt viele Prusa^nser zu Rürgern
gemacht, ihnen Sitz und Stimme im Rat verliehen, ihnen vergönnt.
1) Or. 46 § 4. 2) Or. 44 $ 5. 3) Or. 41 § 6. 4) Or. 44 $ 4.
5) Or. 50 § 7. 6) Or. 44 § 3. 7) Or. 41 § 6. 8) Or. 41 § 10.
124 Zweites Kapitel.
Ämter bei euch zu bekleiden, ja an jenen stoken Vorrechten, die der
römischen Bürgerschaft gehören, ihnen Anteil gegeben;^ so ist daraus
nach dem Zusammenhang der Stelle mit Sicherheit zu schliefsen, dafs
die Apamenser wirklich das Recht hatten, durch ,,adlectio^ ihre Colonie
zu vermehren, d. h. ohne die Mitwirkung des Kaisers nach ihrem Be-
lieben das römische Bürgerrecht zu verleihen. Die Bestimmung der
lex Pompeia^ welche den gleichzeitigen Besitz des Bürgerrechts in meh-
reren bithynischen Städten verbot, war, wenn sie überhaupt auf die
Bürgercolonieen Anwendung fand, längst aufser Gebrauch gekommen.
Dafs nicht in Apameia die Colonistengemeinde eine andere, nicht römisch-
bürgerliche neben sich hatte, geht aus einer anderen Stelle derselben
Rede hervor:') Ttiavevo) %(^ %iig noXewg tj-Sei, vofil^ijav ov oxXtjqov
ovdi ifia&ig, alka T(p ovri yvr^aiov ixelvcjv twv avögiSv xal r^g
ficncafßiag fcoXewg, vcp^ f^g devQO ini/Kp&rjTe (plXoi di) Tcaga q)LXovg
olxrjaovTeg. Es gab in Apameia nur eine Gemeinde, nämlich die Colo-
nistengemeinde, und nur ein Bürgerrecht, nämlich das römische. Dafs
diese Gemeinde das Recht hatte und gelegentlich ausübte, die römische
Civität an Bürger peregrinischer Städte zu verleihen, geht aus Dios Worten
unzweifelhaft hervor. Es ist aber denkbar, dafs daneben auch ein unvoll-
ständiges Bürgerrecht, das mit der römischen Civität nicht identisch war,
als Ehrenbürgerrecht verliehen werden konnte. Dafs dies bei Dios Vater
der Fall war, scheint aus folgender Erwägung hervorzugehen. Wenn
Dios Eltern beide aufser dem prusa($nsischen auch apamensisches und
römisches Bürgerrecht besessen hätten, so würde auch Dio von Geburt
apamensischer und römischer Bürger gewesen sein. Dafs dies nicht der
Fall war, zeigen folgende Worte der 41. Rede:*) „(Weil ich meine Vater-
stadt Prusa liebe) gerade darum müfst ihr mir um so mehr Vertrauen
schenken. Denn wer ein schlechter Sohn ist gegen seine natürlichen
Eitern, der wird auch keine Pietät beweisen gegen seine Adoptiveltern.
Wer dagegen seine Erzeuger liebt, wird auch die niemals verachten,
die durch Adoption seine Eltern geworden sind. — Ich bin Bürger
beider Gemeinden; aber jenen brauche ich dafür nicht Dank zu wissen,
euch mufs ich es als eine Wohlthat vergelten. Denn durch euer Wohl-
wollen und Geschenk habe ich Anteil an dieser Gemeinde.*' Hierin ist
klar ausgesprochen, dafs Dio das apamensische und folglich auch das
römische Bürgerrecht von Geburt nicht besafs. Er hat es ebenso wie
sein Vater durch Verleihung von Seiten der Gemeinde erhallen. Es war
l) Or. 41 § 9. 2) Or. 41 § 4.
Dio als Sophist. 125
also dem Pasikrates nicht erblich, sondern nur für seine Person ver-
liehen worden. Man darf sich in dieser Schlufsfolgerung durch die
folgenden Sätze bei Dio nicht irre machen lassen, wo er rhetorisch aus-
führt, er sei nicht nur durch Verleihung, sondern auch von Natur
Bürger Apameias.') „Denn mein Grofsvater hat samt meiner Mutter vom
Kaiser, der sein Freund war, zugleich das römische und euer Bürger-
recht erhalten, mein Vater von euch.'* Wäre Dio wirklich durch Ge-
burt Bürger von Apameia gewesen, so hätte es der Neuverleihung des
Bürgerrechts an ihn nicht bedurft. Man kann daher in dem obigen
Satze nur eine dem augenblicklichen Zweck des Redners dienende rhe-
torische Zusiutzung des Thatbestandes erblicken. Dieses Ehrenbürger-
recht von Apameia, welches Pasikrates für seine Person erhielt und
welches sich auf seine Kinder nicht vererbte, kann mit der römischen •
Givität, die sich stets vom Vater auf den ehelichen Sohn vererbt, nicht
identisch gewesen sein.')
Also ist Dio nicht von Geburt römischer Bürger gewesen. Er ist
es aber im Laufe seines Lebens geworden. Sein praenomen und nomen
kennen wir nicht, doch darf uns das cognomen „Cocceianus'S mit dem
ihn Plinius') benennt, als hinreichender Beweis gelten, dafs er die Givität
erlangt hat. Dafs die Wahl dieses Beinamens mit den Beziehungen Dios
zum Kaiser Nerva, die wir kennen lernen werden, in Zusammenhang
steht, ist zweifellos.
Dios Mutter hatte nach ihrem Tode durch Beschlufs der Bürger-
schaft göttliche Ehren erhallen.^) Sie wird diese Auszeichnung nicht
nur den Verdiensten und der Stellung ihres Gatten, sondern auch eignen
Vorzügen verdankt haben. Sonst ist nichts über sie bekannt.
Dio war nicht das einzige Kind seiner Eltern. Er hatte mehrere
Brüder — unter den von der Bürgerschaft geehrten Gliedern seiner
Familie erwähnt er auch sie*) — und eine Schwester, welche vor ihm
starb.*)
Die Vermögensverhältnisse der Familie waren glänzende. Abervermögeni-
Pasikrates war ein schlechter Geschäftsmann."^ Im Vertrauen auf sein^*''*'***"''"*-
Ansehen und seinen Einflufs hatte er vielfach die rechtliche Sicherung
t) Or.41 §6.
2) Die nach dem Wortlaut mögliche Interpretation, welche zu den Worten:
6 6k Ttarrjp Tta^* {ifimv ergänzt: &fta r^e *Pm^a/mv TioXire/ae xai rfjs i^^eripae
ivv%tv ist also zu verwerfen.
3) ad Trajan. 81, 1. 4) Or. 44 § 3. 5) Or. 44 § 4. C) Or. 47 § 21.
7) Or. 46 § 5.
126 Zweites Kapitel.
seiner Ansprüche verabsäumt. Solche ängstliche Vorsicht schien ihm
für einen Mann seiner Stellung tiberflüssig. Auch hatte er selbst im
grofsen Stile und weit über seine Verhältnisse gelebt. Die Freigebig*
keit für gemeinnützige Zwecke, die für solche Familie zum guten Ton
gehörte, hatte er im Übermafs getrieben. Die Folge war, dafs seine
Vermögensverhältnisse, als eines Tages unerwartet der Tod eintrat, bei
weitem nicht so günstig und wohlgeordnet sich herausstellten, wie man
erwartet hatte. Freilich war ein stattlicher Grundbesitz vorhanden, der
teils aus Rebpflanzungen, teils aus Weideflächen für die Viehherden be-
stand, nur zum Teil dem Kürnerbau diente, daneben städtische Häuser
und Grundstücke.*) Aber auf diesem herrschaftlichen Besitz lasteten
Schulden im Betrage von 400,000 Drachmen. Übrigens bestand ein
grofser Teil des Nachlasses in ausstehenden Forderungen, deren Ein-
treibung die Erben in endlose Schwierigkeiten verwickelte, da der Ver-
storbene zu wenig mit der MögUchkeit baldigen Todes gerechnet hatte.
Dio, der sich mit seinen Geschwistern in diesen Nachlafs zu teilen hatte,
brauchte mehrere Jahre, um den auf ihn entfallenden Teil der Schuld
zu tilgen. Gleichwohl gehörte er immer noch zu den wohlhabendsten
Bürgern von Prusa und mufste nach wie vor die den reichsten Bürgern
zufallenden Gemeindelasten (Leiturgien) tragen.') Es ist also klar, dafs
der ursprüngliche Familienbesitz ein sehr bedeutender gewesen war.
Die Gröfse des von Dio ererbten Grundbesitzes geht auch aus der ge-
legentlichen Äufserung hervor: von seinen Gutsnachbarn, unter denen
sich neben Reichen auch zahlreiche Arme befinden, habe ihn nie Jemand
rechtswidriger Übergriffe beschuldigt*). Auch konnte er sich schon in
der Zeit, wo er nach seiner eigenen Aussage noch mit der Abzahlung
der väterlichen Schulden zu thun hatte, ein Badhaus mit Säulenhallen
und Fabrikhäuser bauen und für ein hiezu benötigtes Grundstück die
Summe von 50,000 Drachmen erlegen.^)
BiiduDgs- Dio ist also in ejner Familie aufgewachsen, die durch Vermögen
^*''^* und sociale Stellung zu den ersten der Stadt gehörte und die auf Be-
hauptung dieser Stellung das gröfste Gewicht legte. Dafs in solcher
Familie für Erziehung und Geistesbildung der Söhne alles nach den Be-
griffen der Zeit erforderliche gethan wurde, ist selbstverständlich. Der
Bildungsgang Dios ist uns im einzelnen unbekannt. Aber wir dürfen
ihn uns im allgemeinen nach dem aus Quintilian bekannten vorstellen.
Dafs er zuerst zum Grammatiker, dann zum Rhetor in die Schule ging,
1) Or. 46 § 7. 8. 2) Or. 46 § 6. 3) Gr. 46 § 7. 4) Or. 46 § 9.
Bio als Sophist 127
daneben wohl auch bei einem Philosophen Vorlesungen hörte, entspricht
dem gewöhnlichen Gang der Dinge. Dafs es die Redekunst war, auf
die ihn von vorherein Talent und Neigung hinwiesen, dürfen wir voraus-
setzen. Philologische und historische Studien haben ihn gewifs nie um
ihrer selbst willen angezogen, sondern nur als ROstzeug der rednerischen
Ausbildung. Der Trieb nach gelehrtem Wissen ist ihm zeitlebens fremd
gewesen. Sein Rildungsziel kann nur das Ideal allgemein menschlicher
und bürgerlicher Bildung gewesen sein, das für die Anschauung dieser
Zeit mit dem Ideal des Redners zusammenfallt. Für den Sohn der
prusaßnsischen Honoratiorenfamilie war es das nächstliegende, sich für
die Rolle auszubilden, die sein Vater und viele andre seiner Anver-
wandten in Prusa spielten, die Rolle des ansehnlichen und behäbigen
Bürgers, der sich seines Besitzes freut, daneben aber seine Kräfte den
städtischen Angelegenheiten widmet und da, wenn auch im kleinen
Kreise, eine bedeutende und wichtige Rolle spielt. Dazu mufste man
reden können. Wenn der junge Mann ein höheres Streben und Können
in sich fühlte, wenn ihm etwa als Ziel vorschwebte, ein berühmter
Redner und Sophist zu werden, so brauchte er nur dieselbe Studien-
richtung etwas weiter zu verfolgen. Dafs der Beruf des Sophisten und
die communale Ehrenlaufbahn sehir wohl mit einander vereinbar waren,
ja recht eigentlich zusammen gehörten, läfst sich durch zahlreiche Bei-
spiele aus Philostratus belegen. So brauchte Dio, wenn ihn der Ehrgeiz
stach, ein berühmter Redner zu werden, darum nicht auf die Rolle
zu verzichten, die er in seiner Vaterstadt durch sociale Stellung und
Familienüberlieferung zu spielen berufen war. Das Vorbild des Grofs-
vaters zeigte ihm, wie der durch TtaideLa erworbene auswärtige Ruhm
und Einflufs zum besten der Vaterstadt sich nutzbar machen liefs.
In Prusa selbst wird es damals kaum Lehrer der Redekunst ge-
geben haben, deren Unterricht dem höher strebenden genügen konnte.
Es entspricht durchaus dem Brauche der Zeit, dafs die bildungsbe-
flissenen jungen Leute, nachdem sie den Anfangsunterricht in den
Scliulen ihrer Vaterstadt genossen haben, zur Vollendung ihrer Studien
eines der gröfseren Bildungscentren aufsuchen, um den berühmtesten
Lehrern die tieferen Kunstgeheimnisse abzulauschen. Bekanntlich waren
die Griechenstädte der Provinz Asia, vor allen Smyrna, Ephesos, Milet,
damals die Hauptpflegestätten der rednerischen Kunst. Es lag in der
Natur der Sache, dafs der junge Bithynier diese seiner Heimat nahe
liegenden Städte aufsuchte, die dem rednerischen Geschmack der Zeit
Gesetze gaben.
128 Zweites Kapitel.
Aiianisroiu Die OberlieferuDg, die er hier vorfand, war zwar keine streng
"°* ^'^*'**" einheitliche (jeder Lehrer hatte seine eigne Geschmacksrichtung, seine
besonderen Grundsätze), aber alles in allem betrachtet, dürfen wir sie
unbedenklich dem „Asianismus^' zurechnen. Der „Asianismus'^ war
nie eine einheitliche Stilrichtung gewesen. Nur im Gegensatz zu der
klassischen Redekunst Athens konnte man ihn als einheitliche ge*
schichtliche Erscheinung auffassen. Die Eigenschaften, welche man als
bezeichnende Merkmale des Asianismus betrachtet, sind mannichfache
Abweichungen von jenem „attischen'^ Stilcharakter, der von den atti-
cistischen Theoretikern aus den Werken der klassischen Redner ab-
strahirt und als mafsgebende Norm aufgestellt wurde. Von dieser
Norm konnte man in verschiedener Beziehung und nach verschiedenen
Richtungen abweichen. Nur die negative Eigentümlichkeit, dafs sie
von der attischen abweicht, ist der ganzen asianisch-hellenistischen
Beredsamkeit gemeinsam. Die beiden „genera Asialicae dictionis^S
welche Cicero in der bekannten Stelle Brutus § 325 unterscheidet, be-
zeichnen zwei Extreme, zwischen denen mannichfache Abstufungen
denkbar sind. Der thatsSlchlich vorhandenen Mannichfaltigkeit wird
diese Einteilung nicht gerecht. Vergleichen wir die Schilderungen
des Asianismus bei Cicero, Dionysios, dem Schriftsteller megi vipovg
mit den Stilproben, welche der ältere Seneca von den Asianern seiner
Zeit und Philostratus von den Vertretern der zweiten Sophistik anführt
und mit der Schilderung, die Synesius von den Werken Dios aus seiner
ersten sophistischen Epoche entwirft, so gewinnt man die Überzeugung,
dafs eine ununterbrochene Tradition von der Entstehung des asianischen
Stils in der Diadochenzeit bis in die Zeit des Philostratus hinabreicht.
Mit Recht hat Erwin Rohde hervorgehoben^ dafs die sogenannte „zweite
Sophistik^^ nichts wesentlich neues gebracht hat, dafs sie in rhetorischer
Beziehung nichts anderes ist, als die durch Gunst äufserer und innerer
Verhältnisse wieder in Flor gekommene „asianische^' Beredsamkeit. Dazu
stimmt auch die Darstellung des Philostratus. Als Begründer der zweiten
Sophistik nennt er Aischines den Sohn des Atrometos.*) Von ihm geht er
dann mit einem saüo mortale zu Niketes von Smyrna über: vTveQßdvreg
d^ ^QioßaQ^dvTjv %6v Klhxa aal SevofpQOva tov SixekuJTtjv xal
üeix^ayoQav tov ix KvQi^vrjg, ot firjre yvcivai ixavol ^edo^av, fJii^&^
kqfxrjvevaai %d yvcjod'ivTa, akX^ anogltf ytvvaliov aocpiaiäv kürtov-
öaa&rjaav loig i(p^ eavTüiv ^'Ellrjaiv — inl Nixi^Trjv ^iWfisv xov
1) Vit. Soph. I cp. 18 dv (pauEv rijs 8tvri^as aoftartxrje äQ^ai,
IHo al§ Sophist 129
•
2fivQvalov. Er betrachtet also auch die Sophistik, dere« Geschichte
er schreiben will^ als identisch nrit der vott Aisehines anhebenden. Er
überspringt nur die ganze Zwischenzeit, weil sie keinen wahrhaft be-
dentenden Sophisten hervorgebracht hat In der Darstellung des Phifo-
stratus erkennt man nicht, mit welchem Rechte Aisehines als Begründer
einer ^^zweiten'S von der bisherigen versehiedenen Sophistifc genannt
wird. Dadurch erweist sich diese EinteUong als entlehnt aus einer
älteren Darstellung der Geschichte der Sophistik. Um der Sophistik der
Kaiserzeit ein höheres Prestige zu verleihen, sucht er die Anknüpfung
an die klassische Zeit des Griechentums. Die Quelle, die er für die
Darstellung der älteren Zeit zugrunde fegte, liefs mit Aisehines eine
neue Epoche der Sophistik beginnen. JedenfaDs betrachtete sie
Aisehines als den Maftn, der die rhetorischen Studien von Athen nach
Asien hinüberträgt und durch ihre Verpflanzung auf einen neuen,
anders gearteten Boden eine neue Epoche der sophistischen Rhetorik
eröffnet. Die zweite Sophistik ist also die des „Asianismos'S und wenn
Philostratus die Sophisten der Kaiserzeit ihr zurechnet, so zeugt er*
damit indirect für die Fortdauer des Asianismus. Zwei Gründe sind
es, welche diese Fortdaner bedingen und erklären. Während der
ganzen Zeit bleibt die Westküste Kleinasiens die Haoptstatte der Be-
redsamkeit; der Volksgeist, der in ihr waltet, bleibt daher der gleiche.
Sodann hat in dem ganzen Zeitraum die epideiktiscbe Schulrede über
die praktische Staats- und Gerichtsrede so sehr das Oberg«wicht be-
hauptet, dafs auch die letztere den Gesetzen jener folgte. In der
Schulrede ist der Inhalt ein willkürlicher und zufälliger, zumeist such
ein altherkömmlicher und stereotyper; das ganze Schwei*gewicht des
rednerischem Bemühens fällt daher auf die Seite der Form. Wo der
Redner s^n Verdienst nur noch in der Neuheit der Form sucht, in
die er oft behandelte Gegenstände kleidet, ist Verkünstelung der Form
die unvermeidliche Folge. Diese Verkünstelung in Verbindung mit
dem heftigen und* haltlosen Temperament, das der Bevölkerung jener
Gegenden eignet, macht den gleichbleibenden Charakter des Asianis-
mus aus.
Allerdings erleidet diese Gleichförmigkeit eine wesentliche Ein-
schränkung. Me atticistiscben Bestrebungen sind zwar nicht im Stande
gewesen, den „Asianismus^ aus der Welt zu schaffen und eine der
attischen vergleichbare Beredsamkeit wieder ins Leben zu rufen. Aber
sie haben doch durch ihren Idealismus dem Studium jener Vort)ilder
einen mächtigen Anstofs gegeben und die Oberzeugung von ihrem
V. Arnim, Olo. 9
130 Zweites Kapitel.
klassischen Werte zu allgemelDer Anerkennung gebracht. Dies ist es,
was den jüngeren „Asianismus'^ der Kaiserzeit von dem der hellenis-
tischen Epoche unterscheidet. In der Diadochenzeit hatte die Bered-
samkeit nicht weniger als die meisten anderen Litteraturformen mit Ab-
sicht und Bewufstsein die Bahn des Attischen in Stil und Sprache verlassen.
Dafs die Erzeugnisse dieser Zeit der Verachtung späterer Geschlechter
und dadurch völliger Vergessenheit anheimgefallen sind, lag in erster
Linie an ihrer starken Abweichung von der attischen Schriftsprache.
Seit diese wieder als die Norm gebildeter Prosadarstellung galt, wurden
die rednerischen Erzeugnisse des älteren Asianismus nur noch als
warnende Beispiele in den Redeschulen berücksichtigt. Nun wollte
wieder jeder Sophist, auch der überschwänglichste Asianer, attisch
reden und schreiben und bereitete sich daftlr durch eifriges Studium
der attischen Klassiker vor. Die fil/xrjaig wurde ausdrücklich von den
Theoretikern in ihr Unterrichtssystem aufgenommen. Das Gebiet, auf
dem dieses Streben wirklich Wandel schaffte, ist bekanntlich die Aus-
wahl der Worte (ixkoyfi %wv övo^xazcDv). Aber diese allgemein ver-
breitete Nachahmung der attischen Vorbilder war doch unfähig, den
Gesamtcharakter der griechischen Beredsamkeit umzuändern. Die ge-
samten Culturverhältnisse wirkten der Herstellung des echten attischen
Stils entgegen; sie erwiesen sich stärker als die aus idealistischer Ver-
ehrung der klassischen Zeit erwachsene Absicht der Menschen. Schon
auf dem Felde der Elocutio war es bei gröfster Gewissenhaftigkeit un-
möglich, jedem aus dem eigenen Sprachbewufstsein sich in Zunge oder
Feder drängenden Worte ein jcov xelzac entgegen zu rufen. Noch
viel gröfser wurde die Schwierigkeit, wo es sich um Nachahmung in-
nerer geistiger Eigentümlichkeiten der Attiker handelte. Es entspricht
deshalb am meisten der Wirklichkeit, wenn wir bei den Sophisten der
Kaiserzeit von einem durch atticistische Studien gemäfsigten und ge-
milderten Asianismus sprechen. Natürlich blieb auch in diesem Punkte
dem individuellen Belieben ein weiter Spielraum. Das atticistische Be-
mühen konnte mit mehr oder weniger Strenge vorwalten. Namentlich
bedingte die gröfsere oder geringere Freiheit, die man sich in der
Ausnutzung der Dichtersprache gönnte, Unterschiede des Stils. Auch
konnten natürlich solche Redner, die mit peinlicher Sorgfalt ihre Reden
bis ins einzelne ausarbeiteten und durchfeilten, zu treuerer Abbildung
des Attischen gelangen, als die, welche in schlagfertiger Improvisation
ihre Stärke suchten. J
Dios Studentenzeit Htllt in die Mitte der sechziger Jahre, also voir
i
Bio al8 Sophist. 131
die Zeit, von welcher Pbilostratus das Wiederaufblühen der Sophistik
datirt. Aber wir dürfen annehmen, dafs schon damals der Betrieb der
Redekunst und des rednerischen Unterrichts in den asiatischen Städten,
wenn auch an äufserem Erfolg und an glänzenden Namen ärmer, im
wesentlichen dasselbe Bild zeigte, das uns aus Pbilostratus geläufig ist
Die Theorie der Redekunst war immer noch von dem Schulgegensatz
der ApoUodoreer und der Theodoreer beherrscht. Wenn es erlaubt
ist, aus Dios späterer Praxis einen Scblufs zu ziehen, so mochte man
glauben, dafs sein Lehrer ein Theodoreer war. Wenigstens zeigen
seine Reden nirgends den streng schematischen Bau, der für die
ApoUodoreer charakteristisch ist.*) Doch bezieht sich ja jener Streit
der Meinungen in erster Linie auf die Gerichtsrede, dergleichen wir
von Dio nicht besitzen; auch wissen wir nicht, ob er in seiner späteren
Entwicklung der Schule treu blieb. Weit wichtiger als diese theore-
tischen Schulgegensätze wäre es, die Vorbilder zu kennen, an denen
er sich gebildet hat, nicht die litterarischen, sondern die Lehrer und
Zeitgenossen, an die er sich unmittelbar in seiner rednerischen Praxis
anschliefsen konnte. In der achtzehnten Rede, die einem vornehmen
Gönner für die Beschäftigung, «mit griechischer Rhetorik Anweisung
giebt, fällt gelegentlich ein Seitenhreb gegen die fcavv axQißeig d. h.
gegen die Atlicisten strenger Observanz. Dio hält neben . dem Studium
der allen Klassiker auch die Beschäftigung mit den besseren Modernen,
wie Antipatros, Theodoros, Plution, Konon für zuträglich und rät sie
seinem GOnner an, obwohl er weifs, dafs die Rigoristen ihn deshalb
tadeln werden. Diese Läfslicbkeit des Standpunktes wird Dio in der
Rhetorschule sich angeeignet haben. Seine Lehrer waren gewifs nicht
gelehrte Theoretiker, nach Art eines Caecilius und Dionysius, sondern
moderne Declamatoren und praktische Redelebrer, die neben der Ver-
ehrung der Klassiker auch dem Zeitgeschmack Rechnung trugen. Vor
allem geht dies aus Dios eigner Stilrichtung in seinen von Synesius
geschilderten sophistischen Declamationen hervor.
Die wertvollste Seile der Bildung, welche Dio in der Rhetorschule Studien der
empfing, war unstreitig die Beschäftigung mit den Klassikern. Obgleich ''*"**'^'"-
ihre Leetüre zunächst in rhetorischem Interesse zum Zweck der filfir^aig
betrieben wurde, so ist doch nicht zu bezweifeln, dafs sie auf em-
pfängliche Gemüter vor allem durch ihren Inhalt wirkte. Der junge
1) Für diese Annahme scheint auch die Nennung des Theodoros in der acht-
zehnten Rede zu sprechen.
9*
132 Zweites KapHet.
Grieche der Kaiseneit hatte ein andres inneres Verhältnis zu den
Klassikern, als der Zögling moderner hamanistischer Schalen. Ihm
waren sie die ehrwürdigen Denkmäler der Blütezeit seines Volkes. Die
▼ersunkene nationale Macht und Herriichkeit d«s Griechentums trat
ihm überall leihhaft entgegen ; üherall sah er sich auflgfefordert, die ver-
gangene Gröfse mit der Kleinheit der Gegenwart zu vergleichen. So
bildete sich in ihm eine andächtige Verehrung des. Altertnms und der
mit Resignation gemischte Vorsatz, soviel in seinen Kräften stände und
die veränderte Zeit es zuliefse, zur Erneuerung und Erhaltung der
hellenischen Humanität mitzuwirken. Sicherlich hat das Studium der
Klassiker in diesem Sinne auf Dio gewirkt. Er, der nicht zum welt-
fremden Gelehrten, sondern zu einer Wirksamkeit im praktischen Lehen
sich berufen fühlte, kann nie mit antiquarisch-philologischem Interesse
die Klassiker gelesen haben ; ihm mulste die Thatsache des ungeheuren
Abstandes zwischen einst und jetzt, die ihm hei ihrer Leetüre aufging,
zum praktischen Antrieb werden, seine Kräfte in den Dienst des
Hellenismus zu stellen.
Du Bii- Dafs dieser Antrieb ihm den Gedanken nahe legen mufste, Sophist
duDgsideai jy werden, ist paradox, aber wahr. Die Sophisten der zweiten Sophistik
sopbutik. erscheinen uns vorwiegend als müfsige Prunkredner, deren Thätigkeit
keinem wahren V^ohlfahrtszwecke , sondern nur ihrer eigenen Eitelkeit
und flüchtiger Ergötzung des Publicums dient. Wir können uns daher
nur mit Mühe die Bedeutung des sophistischen Ideals zum Bewufstsein
bringen, das die geistige Physiognomie jener Zeit bestimmt Dieses
Ideal ist das allgemeine Bildungsideal des damaligen Griechentums. Die
Sophisten verkörpern auch jetzt in potenzirter Form die atxpla^ nach
welcher jeder echte Hellene strebt. Es genügt nicht, dafs wir dies ideal
als ein falsches und verderbliches erkennen. Wir müssen es in seiner
geschichtlichen Notwendigkeit begreifen. Dies ist auch der einzige Weg,
der uns zum Verständnis von Dios Entwicklung führen kann.
Das sophistische Ideal der zweiten Sophistik ist, wie im ersten
Kapitel gezeigt wurde, nur die letzte Erscheinungsform eines Bildungs-
ideals, das, weil es tief im hellenischen Volkscharakter begründet war,
durch die ganze Bildungsgeschichte der Hellenen und der hellenisirten
Völker sich hindurchzieht und durch die veränderten Culturverhfiltnisse
variirt, aber nicht aus der Welt geschafit wurde. Es ist das Ideal einer
harmonischen, allseitig durchgebildeten Persönlichkeit, in der die in-
tellectueile, die ästhetische und die praktische Vollkommenheit gleich-
mäfsig gegen einander abgewogen sind und sich gegenseitig durch-
Dio alt Sopbist 188
dringen. Keiner dieser drei Bestandteile soll einseitig vorwiegen, keiner
zugunsten der übrigen verkümmern. Sie sollen auch nicht getrennt
neben einander stehen, oder gar gegen einander wirkend einen inneren
Zwiespalt in die Seele hineintragen» sondern ein organisches Ganie
bilden. Der durch Klugheit mächtige soll in der Ausübung seiner
Macht zu gefallen verstebn. — In dieser Allgemeinheit gefafst enthält
das hellenische Ideal wenig Individuelles, fiestimmtheit erhält es erst
durch den concreten Inhalt, der seinen einzelnen Forderungen gegeben
wird. Indem man es näher zu bestimmen sucht, entsteht die ganze
Hannichfaltigkeit der AnfTassungen, die in der Geschichte der griechischen
Bildung einander bekämpfen und ablösen. Jeder der drei Bestaodteile
läfst eine tiefere oder weniger tiefe, eine mehr realistische oder eine
mehr idealistische AufEusung zu« Die intellectuelle Vollkommenheit
kann idealistisch als wissenschaftliche Erkenntnis aufgefabi werden,
oder realistisch als formale Denkgewandtheit oder Bis Summe brauch?
barer Kenntnisse; die praktische Vollkommenheit idealistisch als Tugend
und Sittlichkeit, oder reali^isch als die Macht, seinen Willen durchzu*
setzen, die ästhetische idealistisch als auf dem Gleichmaß der Kräfte
beruhende Schönheit der Seele oder realistisch als Fähigkeit den Men-
schen zu gefallen. Je nach der Auffassung der einzelnen Forderungen
bestimmt sich auch die ihres gegenseitigen Verhältnisses. Zwisch^i
der rein idealistischen und der rein realistischen stehen vermittelnde
Auffassungen, und gerade diese haben stets die grOfsten Chancen prak-
tischen Erfolges gehabt
Wir haben im ersten Teil unserer Darstellung Rhetorik, Sophistik
und Philosophie in ihrem Kampf um das Bildungswesen der Nation
verfolgt und dabei jene Hannichfaltigkeit teils extremer, teils ver-
mittelnder Auffassungen des BUdungsideals kennen gelernt, denen wir
nun als letzte das sophistische Ideal im Sinne der zweiten Sophistik an-
zureihen haben. Nicht als ob dieses in irgend einer Hinsicht neue
Bildungselemente enthielte; nur durch das Mischungsverhältnis kommt
etwas eigentümliches heraus. Zunächst gehört das sophistische Ideal
der zweiten Sophistik zu derjenigen Gattung von Bildungsidealen, die
den voUausgebildeten, idealen Mann mit dem Redner identificiren. Der
Redner ist es ja, der durch Intelligenz Macht ausübt und in der Aus-
übung seiner Macht gefällt. Die Intelligenz, die den Sophisten über
die Masse erhebt, ist aber nicht der Besitz einer wissenschaftlich be-
gründeten Weltanschauung, auch nicht dialektische Gewandtheit und
formale Geistesbildung, sondern ein zufälliges Aggregat mannichfacher
134 Zweites Kapitel.
teils nützlicher, teils erfreulicher Kenntnisse^ die durch Bücherstudium
erworben werden. Es ist das bezeichnende Merkmal dieser Art von
Bildung und Intelligenz, dafs sie nicht in eigner unbefangener Auf-
fassung von Welt und Leben ihre Stärke sucht, sondern in allen
Dingen bei den Alten sich Rat holt und durch die Brille der Alten
sieht. Darum fehlt es dieser Intelligenz an wahrer Zeugungskraft.
Weil sie im Banne der Autorität steht, vermag sie weder in der
Wissenschaft noch im Leben Fortschritte zu erzielen. Sie verbraucht
ihre geistigen Kräfte in der mühsamen Aneignung von früheren Ge-
schlechtern überkommener Geistesschätze. Ihr Wissen ist vorwiegend
ein Wissen von der Vergangenheit, von den Thaten und Meinungen der
Alten. Ich rede hier nicht von dem gelehrten Betrieb der Special-
wissenschaften, für welchen ähnliches gilt, sondern von der allgemeinen
Bildung, die in den höheren Ständen verlangt wird und in den So-
phisten ihre Vorbilder und Apostel besitzt. Die letztere ist jeder ein-
seitigen Fachbildung feindlich. Sie enthält ein vielseitiges, aber ober-
flächliches Wissen, von jedem etwas, aber nichts ordentlich, eine Mannich-
faltigkeit ohne Concentration , „multa non multum*'. Dieses Wissen
wird als lyyLvyiXtog Ttatdela bezeichnet. Die fia&TJfiara, die seit dem
dritten Jahrhundert v. Chr. zur iyycvxXtog TiatSela gerechnet werden,
sind aufser der Grammatik und Rhetorik folgende : Dialektik, Geometrie,
Arithmetik, Astrologie, Musik. Sie wurden bekanntlich von Varro in
den Disciplinarum libri IX in genau derselben Reihenfolge behandelt,
in der sie Sextus bekämpft und Martianus Capella darstellt: Grammatik,
Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astrologie, Musik. Von
diesen Disciplinen ist für den Rhetor und Sophisten, von der Rhetorik
selbst abgesehen, die Grammatik weitaus die wichtigste. Durch sie
wird ja das ganze sprachliche, mythologische, geschichtliche^ litterar-
historische Wissen ihm vermittelt, das er in seiner Thätigkeit fort-
während braucht. Nach dieser Richtung mufs der Sophist, der es der
Menge zuvorthun will, auch als Mann weiter studiren. Die übrigen
sind daneben von verschwindender Bedeutung. Quintilian, den wir
auch als Vertreter des sophistischen Ideals heranziehen dürfen, obgleich
er für Römer schreibt, rechnet Grammatik, Musik und die drei mathe-
matischen Disciplinen zu dem Unterrichtsstoff, den der Knabe be-
wältigt haben soll, ehe er in die Rhetorscbule kommt. Dagegen be-
handelt er den philosophischen Unterricht anhangsweise im zwölften
Buch, offenbar weil er als höchste und letzte Stufe des ganzen Bil-
dungsganges auf den rhetorischen Unterricht zu folgen pflegte. Auch
Dio als Sophist. 1B5
von Philosophie roufs der Sophist eine gewisse Kenntnis haben, ohne
sich tiefer auf sie einzulassen; etwa in dem Sinne, wie man heutzu-
tage die Kenntnis der Geschichte der Philosophie von jedem Gebildeten
verlangt. Er mufs die Meinungen der Philosophen kennen, ohne mit
eignem Denken zu ihnen Stellung zu nehmen; er mufs auch die
Hauptargumente kennen, die für und wider sie vorgebracht zu werden
pflegen, sodafs er im Stande ist, je nach Bedarf und Gelegenheit von
ihnen Gebrauch zu machen.
All dieses Wissen, welches die intellectuelle Ausrüstung des Sophisten
bildet, soll ihn geschickt machen für den Beruf des Redners. Erst die
Redekunst ist es, die ihn befähigt, seine aoq)la zu einer Quelle der Wohl-
fahrt, des ästhetischen Genusses und der Belehrung für die übrige Mensch-
heit zu machen. Wir dürfen nicht übersehen, dafs die praktische Ver-
wertung des rednerischen Könnens, die gerichtliche und die politische
Beredsamkeit, Bestandteile des sophistischen Ideals bilden. Sie sind nicht
nur Professoren und Prunkredner, sondern auch vor Gericht, in Rat und
Volksversammlung thätig; vor dem Statthalter, vor dem römischen Senat,
vor dem Kaiser selbst fuhren sie die Sache ihrer Stadt oder ihrer Provinz.
Aber diese praktische Verwertung ihrer aoq)la betrachten sie nicht als
ihren höchsten Beruf. Höher steht ihnen die rein künstlerische Epi-
deixis, die dem ästhetischen Genufs der Hörer dienende Darstellung ihrer
* Gocpla, Schöne Rede ist nach dieser Auffassung ein Ding, das seinen
Wert ganz in sich selber trägt. Wohl kann sie gelegentlich in den
Dienst praktischer Zwecke, in den Dienst der Belehrung gestellt werden,
aber wertvoll ist sie auch ohne solche äulsere Zwecke als Gegenstand
des reinsten und edelsten Genusses. Es wird also in dieser Form des
sophistischen Ideals, wie es die zweite Sophistik ausbildet, die intellec-
tuelle und die praktische Vollkommenheit der ästhetischen untergeordnet.
Die künstlerische Ausbildung „des edelsten menschlichen Organs^^ wird
als der Gipfel menschlicher Bildung überhaupt angesehen. Weil die
sophistische Epideixis Selbstdarstellung einer dem Ideal der Zeit ent-
sprechenden vollkommenen Persönlichkeit ist, haftet ihr jener Zug
prunkender Eitelkeit an, den Dio durch das Bild des Pfaus veranschau-
licht, der gefallsüchtig sein schillerndes GeGeder sträubt. Darum gilt
auch die Improvisation in dieser Zeit mehr als je für die höchste
Leistung des Sophisten, weil sie der unmittelbare Ausdruck der leben-
digen Persönlichkeit und ihres eigenen selbständigen Könnens ist.
Die geschichtlichen Gründe, welche das griechische Bildungsideal
auf diese letzte, niedrigste Stufe hinabgedrückt haben, liegen teils in
136 Zweites Kapitel.
den politischen, teils in den allgemeinen OdturFerhältoissen. Die Mög*
liebkeit, auf politischem Gebiete groises und ruhmvolles zu leisten , ist
den Griechen abgeschnitten. Sie sehen sich in die Enge kleinlicher
Verhältnisse eingeschränkt, die gegen die ruhmvolle Vergangenheit A-
stechen, von der die Dichter und Geschichlschreiber und selbst die
Steine auf der StraGse und die TrOmmer der Gebäude erzählen. Auch
die griechische Wissenschaft ist am Ende ihrer Entwicklung angelangt.
Es wird nur noch commentirt und compilirt und popuhrisirt, aber
kein neuer, fruchtbarer Gedanke mehr aus unmittelbarer Anschauung
der Natur und des Lebens geschöpft. Nichts ist den Griechen geblie-
ben, als das Verständnis des von ihren Vorfahren geschaffenen Schönen
und Grofsen, das sie der Nachwelt zu überliefern berufen sind. Auch
im Felde des Schönen ist der beste Teil der schöpferischen Kraft ver-
siegt. Eine Poesie, die den Namen verdiente, giebt es nicht mehr.
Nur die Redekunst ist geblieben, auch sie des nahrhaften Bodens der
grofsen Politik beraubt und schon halb entwurzelt. Was noch von
Poesie und Idealismus, von Geist und Witz in der Volksseele sich regt,
hat sich hierher geflüchtet. Mit Vorliebe wählt diese Redekunst ihre
Themata aus der altgriechischen Geschichte, sucht sich in die Seele
der historischen Personen hineinzuversetzen und was diese in geschicht-
lich bedeutsamen Momenten hätten sagen können, nach ihren eignen
Begriffen von rednerischer Schönheit so schön und wirkungsvoll als
möglich wiederzugeben. Von der geschichtlichen Wirklichkeit jener
vergangenen Zustände haben der Redner und sein Publicum meist nur
eine verschwommene und einseitige Vorstellung. Es liegt ja den Red-
nern nicht so viel an der treuen Wiedergabe der gewählten Situation
als an der Erregung starker Gefühle und an der Bewährung ihres red-
nerischen Könnens. Sie versetzen daher ihre Hörer in eine Welt, die
lediglich in ihrer Phantasie existirt, eine Welt grofsmütiger Gesinnungen,
heldenhafter Thaten, hochtönender Worte. Die nationale Eitelkeit fühlt
sich heimisch in dieser Schemenwelt und begrüfst immer von neuem
freudig die schwankenden Gestalten, die des Redners Wort heraufbe-
schwört.
Unleugbar ist in diesem Treiben neben viel Eitelkeit und Thorheit
ein Körnchen edleren Stoffes enthalten, ein falscher, aber doch zum
Teil aufrichtig empfundener Idealismus, eine um nichtige Ziele, aber
doch mit Anspannung aller Geisteskräfte sich bemühende Arbeit.
Spielend und tändelnd sucht sich der Nationalgeist über die trostlose
Leere des Lebens hinweg zu täuschen. Aber an dieses Spiel setzen
Dio als Sophist 187
•
hunderte von begabten Männern ihr ganzes Können, als ob es die
emstbafleste Sache von der Welt wäre; und es ist auch wirklich ein
höheres Lebenselement gegenüber dem grobmateriellen Streben nach
Gold und Sinnengeoufs, das namentlich die römische Welt beherrscht.
Aber dem echten und ganzen Idealismus, wie er in der Philosophie
zum Ausdruck kommt, ist dieser ästhetische Idealismus feindlich ge-
sinnt
Diesem Götzen der Zeit, dem sophistischen Ideal, hat auch Dio ge-oioi Berufs-
opfert Obgleich ein begabter und tüchtiger Mann, gehörte er nicht ^*^''
zu den genialen Naturen« die sich im ersten Anlauf über die Schwachen
ihrer Zeit erheben. Die Tradition seiner Familie und der Schulen,
denen er seine Bildung verdankte« führten ihn, gerade weil er Talent
und höheres Streben besafs, notwendig auf die Bahn der Sophistik.
Dafs er schon als Student tiefer gehende philosophische Studien machte,
ist unwahrscheinlich. Mit den Schriften der Sokratiker, vor allem des
Xenophon und Piaton, mu&te er sich wohl beschäftigen, weil sie zu
den vornehmsten Hustern des attischen Stils gehörten. Aber schwer-
lich wird er von dem philosophischen Gedankengehalt tiefer berührt
worden sein. Seine Lehrer werden nicht verfehlt haben, ihn vor zu
groiser Vertiefung in philosophische Studien zu warnen. Sie sagten
ihm, dafs dieser Weg jeden, der ihn dauernd verfolge, für das bürger-
liche Leben untauglich mache, dafs, wer im Leben wirken wolle,
xara rag xoivag hvoiag leben müsse, nicht nach den paradoxen
Lehrsätzen der Philosophen, dafs die Philosophen auf nicht wifsbare
Dinge einen unfruchtbaren Scharfsinn verwendeten und dafs sie in den
praktischen Fragen über das, was jedem der gesunde Menschenverstand
sagt, doch nicht hinauskämen. Was sich damals Philosophie nannte,
war zumeist wenig geeignet, dem Namen Ehre zu machen. Eine
breite, volkstümliche Wirksamkeit entfalteten nur die Kyniker. Solche
gab es wie Sand am Meer. Auf den Plätzen und Gassen der Städie
waren sie überall anzutreffen. Aber oft war es nur der grobe Mantel,
der lange Bart und das struppige Haupthaar, was ihnen Anspruch auf
den Namen von Philosophen gab. Rohe, unwissende Kerle aus der
Hefe des Volkes (so lautet die übereinstimmende Klage, der Zeit-
genossen), die nichts wissen und nichts verstehen, höchstens ein paar
abgedroschene kynische Gemeinplätze sich angeeignet haben, geberden
sich als Philosophen. Durch Betteln, rohes Schimpfen und freche Un-
anständigkeit belästigen sie die Vorübergehenden. Sie glauben sich
durch ihren Beruf berechtigt, alle Gebote des Anstandes und der Sitte
138 Zweites Kapitel.
zu mifsachten und habeo durch ihr Lasterleben die Philosophie io Ver-
ruf gebracht. — Im schärfsten Gegensatz zu dieser Philosophie der
Gasse stehen die gelehrten Schulphilosophen, die ihre Thätigkeit ent-
weder im engsten Kreise einer nach dem Grundsatz: tlolvoi ra ztjv
(plXwv zusammenlebenden Hausgenossenschaft, oder als Honorar bean-
spruchende Professoren im geräumigen Hörsaal ausüben. Diese Profes-
soren, mögen sie nun stoische, epikureische, peripaletische, platonische
oder pyrrhonische Philosophie vortragen, begnügen sich in der Begel, die
altüberlieferten Systeme nebst Apologetik und Polemik ihren Hörern zu
übermitteln. Vor allem lesen und interpretiren sie mit ihnen die Haupt-
schriften der xa^rjyefioveg. Das selbständige Philosophiren ist auch bei
den Vertretern der gelehrten Richtung fast ganz erloschen. Die Gründe,
mit denen sich die concurrirenden Secten litterarisch, auf dem Katheder
und gelegentlich in öffentlichen Disputationen bekämpfen, schöpfen sie
aus den älteren Autoren. So wird der alte Streit mit den alten
Waffen immer gleich ergebnislos von neuem geführt. Eine dritte Art
von Philosophen, den Sophisten am nächsten stehend, findet ihren Be-
ruf in der Popularisirung philosophischer Gedanken durch öffentliche
Vorträge. Sie treten neben Spafsmachern und Musikanten im Theater
auf und bieten mit ihren formvollendeten aber oberflächlichen kTttdel-
^€tg dem Publicum mehr anregende Unterhaltung, als wirkliche Be-
lehrung und Förderung. Keine dieser Formen des Pbilosophenberufes
konnte Dio locken. Die Kyniker standen tief unter dem gesellschaft-
lichen Niveau, auf dem er sich bewegte; die Professoren erschienen
ihm als trockene Schulmeister, die über ihrem Schulgezänk das Ver-
ständnis für die Aufgaben der Gegenwart und die Fähigkeit zu wirk-
samer Teilnahme am öffentlichen Leben eingebüfst haben; die philo-
sophischen Epideiktiker endlich beherrschten ja offenbar nur den
kleinsten Teil der Aufgabe, die der jedem Stoff gewachsene und in
allen Sätteln gerechte Sophist allseitig löst.
Dios ersto Die auf die Studienjahre folgende Zeit im Leben Dios ist uns
^ahrr ^^^^ unzureichend bekannt. Aber zwei Dinge können nicht bezweifelt
werden, einmal, dafs er seinen dauernden Wohnsitz in Prusa hatte,
sodann, dafs er von dort aus schon früh und wohl zu wiederholten
Malen Kunstreisen unternahm, die ihn auch zu längerem Aufenthalt
nach Rom führten. Beides ergiebt sich mit Notwendigkeit aus den
Werken Dios, die uns aus dieser Epoche geblieben sind, sowie aus
dem, was wir über seine Verbannung wissen, ich halte an der Auf-
fassung des Synesius fest, dafs alle diejenigen Werke Dios, welche einen
Dio als Sophist. 139
rein sophistischeo Charakter tragen und mit der später von Dio zur
Schau getragenen Verachtung der sophistischen Redekunst unvereinbar
sind, der Zeit vor der Verbannung angeboren. Die Begründung dieser
von anderer Seite bestrittenen Ansicht') vvrird sich im vereiteren Verlauf
unserer Darstellung ergeben.
Das Sendschreiben Tcegl koyov aaxi^aeojg zeigt uns den noch scbrirten
jungen, aber schon mit Selbstgefühl auf seine rednerischen Erfolge ^'•''•^p***'**"
bückenden Dio im Verkehr mit einem reichen und vornehmen Manne, Periode:
der ihn als rhetorischen Sachverständigen zu Rate gezogen hat. In ^^pilöyov
reifem Hannesalter stehend, einflufsreich in seiner Heimat und politisch ^f"*^"^^^-
in hervorragender Stellung thätig, dazu mit Glücksgütern gesegnet, die
ihm ein bequemes Genufsleben gestatten würden, kurz in jeder Hin-
sicht auf der Hübe des Lebens stehend, hat der Empfänger des
Schreibens das Bedürfnis gefühlt, sich als Redner zu vervollkommnen
und wegen der Mittel und Wege Dio um Rat gefragt. Alter und
Lebensstellung erlauben ihm nicht, viel Zeit und Mühe auf diese
Studien zu verwenden. Obgleich er selbst erklärt hat, wofern er nur
seinen Zweck erreiche, vor ernster Arbeit nicht zurückzuscheuen, wür*
den es doch nur Nebenstunden sein, die er dem Studium widmen
könnte. Auch ist es nicht seine Absicht, die volle dvvafiig des be-
rufsmäfsigen Redners sich anzueignen. Die gerichtliche Beredsamkeit
f^llt ebensowenig in seinen Gesichtskreis, wie die Kunst des Epideik-
tikers. Er verfolgt den praktischen Zweck, sich für die rednerischen
Aufgaben zu rüsten, die sein politischer Beruf ihm stellt. Beachten
wir die Andeutungen Dios über die Natur dieser Aufgaben, so zeigt
sich, dafs wir es nicht mit einem römischen Staatsbeamten zu thun
haben, dafs vielmehr eine den Römern unterthänige Griechenstadt den
Schauplatz seiner Wirksamkeit bildet. In Xenophons Anabasis, schreibt
Dio, sind alle Arten von Reden, die in deiner Berufsthätigkeit vor-
kommen können, durch Musterstücke vertreten. Dann giebt er eine
Aufzählung dieser Arten, in der nach dem Zusammenhang der Stelle
jede einzelne Art auch für den Adressaten von praktischer Bedeutung
sein mufs. Man lernt aus Xenophon nicht allein, wie man eine Ver-
sammlung, wenn sie mutlos ist, aufrichtet, sie zu Entschlufs und That
anspornt, ihrem Übermut oder Unwillen mit Würde und Festigkeit be-
gegnet, sondern auch wie man geheime Angelegenheiten tvqoq orga-
rrjyovg avev Ttki^&ovg behandelt und wie man sich Beamten des
1) Siehe Hirzel der Dialog II 85.
140 Zweites Kapitel
Königs gegenüber zu beoetuneo hat {xal ßaailmolg tlva %^nov
iialex^vai). Man siebt, der Ausdruck ü%Qa%m%ai, der bei den
xenophontiscben Beden so nahe lag, wird geflissentlich vermieden, weil
der Adressat in seiner amtlichen Stellung nichts mit Soldaten ku thun
hat. Statt dessen ist allgemein von einem nX^&og die Rede. Da*
gegen werden die Ausdrücke CTQarrjyol und ßaüikiKoi beibehalten,
weil sie auch für die actuelle Situation passen. Unter CTQotnjyol sind
die Provinzialstatthalter, unter ßacilixol die kaiserlichen Beamten zu
verstehen. Auch die Lehre, dafs man denen, die die Oberhand haben,
nicht leicht Vertrauen schenken soll, kann auf das Verhältnis des
griechischen Stadtpolitikers zu den römischen Beamten bezogen werden.
In Bat und Volksriersammlung, sagt Dio, wirst du verspüren, wie dir
Xenophon die Hand reicht. Auch das pafst nur auf den griechischen
Stadtpolitiker^ nicht auf den römischen Beamten. Wenn ein Römer
sich mit griechischer Rhetorik befafst, so thut er es zum Zweck formaler
Geistesbildung. Dios Gönner will von dem Gelernten in Rat und
Volksversammlung unmittelbaren praktischen Gebrauch machen. Damm
empfiehlt ihm Dio, mehr zu dictiren, als selbst zu schreiben, weil die
Dictirübung TtQog övvafiiv (ikv ^ttov avXXafißavet tov yQaq)Biv^ ngog
e^iv ök TtXeiov»
Das Schreiben ist also vermutlich an einen höheren Gemeinde-
beamten einer der grofsen Griechenstädte Asiens gerichtet. Dio ist
schon seit längerer Zeit mit ihm bekannt. Er steht ihm durchaus un-
abhängig gegenüber. Ein mündlicher Unterricht hat bis jetzt nicht
stattgefunden. Wenn Dio sich am Schlufs zu solchem erbietet und
selbst ihm vorzulesen sich bereit erklärt, so ist darin liebenswürdige
Dienstfertigkeit zu erblicken, wie sie wohlerzogene junge Leute gegen
ältere und höher gestellte Personen aus freiem Antrieb bezeigen. Dio
ist damals nicht berufsmäfsiger Lehrer. Bisher hat sein rednerisches
Wissen und Können für seinen Privatgebrauch allenfalls ausgereicht,
auch das nur unvollkommen; die Genuglhuung, auch anderen damit
nützen zu können, hat erst die Anfrage seines Gönners ihm verschafft.
Das Geschäft eines Vorlesers ist offenbar unter seiner Würde. Der
Gönner hätte ihn nie um diesen Dienst bitten können und wird auch
von dem Anerbieten keinen Gebrauch gemacht haben. Nur aus per-
sönlichen Gründen, vor allem aus Erkeonllicbkeit für die ihm erwiesene
Auszeichnung, hat sich Dio dazu bereit erklärt. Auch im übrigen trägt
er geflissentlich die gröfste Bescheidenheit zur Schau und vermeidet
den Ton schulmeisterlicher Überlegenheit. Wäre der Gönner ein
Dio alt Sophist 141
r(Hnischer Grofser, so könnte man darin die herköBMollehe Unter-
würfigkeit des geschmeidigen ^aetuliHS erkennen. Da er, wie wir
sahen, ein Grieche ist, so kann es nur das jngendüche Alter des Ver-
lassers sein, das ihm Bescheidenheit zur Pflicht macht. Dio bebandelt
den Adressaten nicht als Angehörigen einer höheren Gesellschaftsschicbt,
sondern als Respectsperson seiner eigenen Sphflre.
Wenn unsre Auflassung richtig ist, Galt allerdings auf, dafs die
Ratschläge, welche Dio giebt, so elementaren Charakter tragen. Man
wundert sich, dafs ein Mann in so angesehener Stellung, im reifen
Alter stehend, das ABC der rhetorischen fiiftrjaig nicht sollte gekannt
haben, das damals jeder Sohn gebildeter Eltern in der Schule lernte.
Es sind verschiedene Erklärungen möglich. Entweder war der Ange-
redete ein reicher Emporkömmling, der zu ansehnUcher Stellung ge-
langt, die in der Jugend versäumte Bildung so gut als möglich nach-
zuholen beflissen war. Oder seine Heimat lag weit abseits von den
Pflegestätten der rednerischen Bildung, in einer oberflächlich helleni-
sirten Landschaft, wo man erst jetzt durch das Emporblühen der so-
phistischen Bildung, deren Ruhm die jüngere Generation von den
Schulen mitbrachte, zu höheren Anforderungen an die Form der Rede
erzogen wurde.
Bezeichnend fttr Dies Bildungsstandpunkt in dieser Epoche sind
weniger die auf alter Tradition beruhenden Kunsturteile über die
einzelnen Klassiker, als das conventioneile Lob der Rhetorik in der
Einleitung. Obgleich es gilt, ihre Bedeutung für den avriQ Ttoh'nxog
zu würdigen, ist der Standpunkt ein rein egoistischer: darin dals sie
Beliebtheit, Macht, Ehre, Lob verleiht, wird der Wert der Redekunst
gefunden. Das ist der Staudpunkt der alten wie der neuen Sophistik.
Dem strengen Atticismus und Classicismus ist Dio feindhch gesonnen.
Er spottet über die ao€p(u%BQOi^ die ihm seine Bevorzugung des Euri-
pides vor Aischylos, des Menandros vor den Dichtern der agfiaia ver-
übeln werden. Er spottet über die noanj axQtßelg^ die ihn als Ketzer
betrachten werden, weil er auch das Studium der modernen Schul-
redner für zuträglich hfliL Er ist geneigt, unbeschadet der Verehrung
der Klassiker, auch dem Zeitgeschmack Zugeständnisse zu machen. Die
Sokratiker soll man studiren, um sich die SamQctKixi} x^Q^S anzu-
eignen, ohne die rednerische oder sehriftsteUerische Werke wie Speisen
ohne Sah schmecken. Kein Wort davon, dafs der Inhalt der sokra-
tischen Litteratur den ftoltTixog avriQ etwas angehen könnte, während
bei den Geschichtschreibern vorwiegend auf den Inhalt hingewiesen
142 Zweites Kapitel.
wird. Nur XenopboDs Anabasis wird ausführlich besprocheo und mit
Begeisterung als Quelle rednerischer Bildung gepriesen. Wir merken
noch in Dios erhaltenen Werken, auch der späteren Epoche, dafs
diese besondere Verehrung Xenophons aufrichtig war und seine eigne
Stilrichtung beeinflufste.
Für dieses Sendschreiben und für den mündlichen Unterricht,
der sich ergänzend anschlofs, wird Dio von dem reichen Manne ein
Ehrengeschenk in Geld erhalten haben, obgleich ein Honorar gewifs
nicht ausbedungen wurde. Herodes Atticus sandte dem Polemon für
drei Declamationen 15,000 Drachmen, TtQooeiTtatv alrag fitod^cv Ttjg
axQoaoewg^ und als Polemon die Annahme verweigerte, merkte er, dafs
er zu wenig geschickt hatte, und legte noch 10,000 Drachmen zu. Auch
Dio hat gewifs den goldenen Boden seines Handwerks nicht verachtet.
Dio in Rom. Dafs Dio vor seiner Verbannung in Bom gewesen ist und dort in
vornehmen Häusern ehrenvolle Aufnahme fand, ist sicher. Wie in alter
Zeit war auch jetzt der Sophist auf ein Wanderleben durch seinen Be-
ruf hingewiesen. „Des Buhms lockender Silberton^ lockte ihn von Ort
zu Ort. Den Weg nach Bom erleichterten ihm wohl die Beziehungen,
die sein Grofsvater dort angeknüpft hatte. Wenn wir der Darstellung
des Pbilostratus im ApoUoniusroman Glauben schenken dürften, so wäre
Dio mit Vespasian schon vor seiner Thronbesteigung in Beziehung ge-
treten. Er läfst bekanntlich Vespasian mit Dio, Euphrates dem Tyrier
und Apollonius von Tyana zu Bäte gehen, ob er nach der Kaiserkrone
greifen soll. Zwei Umstände legen die Annahme nah, dafs diese Er-
Qndung des Philostralus nicht ganz der geschichtlichen Grundlage ent-
behrt: die Freundschaft Dios zu einem Gliede des flavischen Kaiserhauses,
die zu seiner Verbannung Anlafs gab, wie wir später sehen werden,
und die Melankomasreden, von denen wir jetzt handeln müssen.
Meiaokoroat. Melaukomas, der Sohn des Melankumas, war wie sein Vater ein
Faustkämpfer, der berühmteste Faustkämpfer seiner Zeit Er starb bevor
er das reife Mannesalter erreicht hatte. Aber in seiner kurzen Lauf-
bahn hatte er mehr Siege errungen als andere in einem langen Leben.
Bei allen bedeutenderen Kampfspielen der griechischen Welt war er
aufgetreten und niemals seinem Gegner unterlegen. Nicht nur durch
Kraft und Schönheit der KOrperbildung, sondern vor allem durch seine
eigentümliche Kampfesweise, erregte er ungewöhnliches Aufsehen. Ohne
Schläge auszuteilen oder zu empfangen verharrte er in der Auslage
(avaterayccjg tag /et^ag), bis der Gegner sich vor Ermüdung besiegt
geben mufste. Als er bei einem der hellenischen Agone einen neuen
Dio als Sophist. 143
Sieg zu erringen im Begriff stand und schon mehrere Tage hindurch
den einzigen Gegner, der es mit ihm aufzunehmen wagte, latrokles,
wieder und wieder besiegt hatte , ereilte ihn wenige Tage vor dem Ende
des Agons, wohl in Folge Ubermäfsiger Anstrengung, ein plötzlicher
Tod, sodafs nun dem latrokles der Kranz zufallen mufste. Aufser bei
Dio wird Melankomas von Themistius erwähnt, in der Rede „an Kaiser
Valens über den Frieden^ (or. 10 p. 139 Hard.). Was Themistius dort
über die Kampfesweise des Melankomas mitteilt, ist unverkennbar aus
Dio geschöpft, mit dem sich ja Themistius auch sonst vertraut zeigt.
Wenn also bei Themistius eine Thatsache erwähnt wird, die im Text
der dionischen Reden nicht vorkommt, die Thatsache, dafs der Kaiser
Titus den Melankomas geliebt habe {ov xal rov Titov cpaalv iQaatfjV
yBviad^at tov avToxQdroQa)^ so ist es höchst wahrscheinlich, dafs The-
mistius diese Angabe als Scholion in seinem Exemplar des Dio fand.
Von den beiden der Verherrlichung des Melankomas gewidmeten
Stücken der dionischen Sammlung ist das eine (Mekayxofiag a TJj
ra^et ß* or. 29) ein Enkomion, das der Athlothet oder Gymnasiarch jener
Spielstätte, wo Melankomas verstorben ist, dem eben Verstorbenen zu
Ehren vorträgt, das andere ein Dialog zwischen einem Besucher jenes Fest-
spiels und einem alten Turnlehrer, der die letzten Triumphe des Melankomas
miterlebt hat und der nun seinen Schmerz über Melankomas vorzeitigen
Tod, seine Liebe und Bewunderung für ihn dem Fremden auschüttet.
Aus einer Stelle dieses zweiten Stücks läfsl sich mit einiger Wahrschein-
lichkeit der Ort des Gesprächs und damit auch des Agons erschliefsen,
hei dem Melankomas zum letzten Mal gekämpft hat.
Dafs sichs nicht um den olympischen Agon handelt, scheint die Er-
wähnung früherer olympischer Siege or. 29 § 3 zu beweisen. Spräche der
Redner selbst in Olympia, so würde er h&ade sagen statt ^OXvfiTtlaat.
In or. 28 §9 wird der ältere Melankomas ah'OkvfiTtlaat vLxrjaag erwähnt.
Der pythische Agon ist durch or. 28 § 9 ebenfalls ausgeschlossen, da
das bei diesem erfolgte Debüt des jüngeren Melankomas erwähnt wird.
Wenn nun § 2 erzählt wird, allein latrokles habe es mit Melan-
komas aufzunehmen gewagt, sei aber stets unterlegen und schliefslich
so mutlos und so mürbe geworden, dafs er in dem letzten Wetlkampfe
in Neapel schneller als irgend ein andrer Gegner des Melankomas er-
legen sei (aiate rov TeXevralov zovtov dywva xov ev rij NeanoXsL
ovdiva zaxvT€QOV tovtov Ivlxr^aev)^ so scheint durch diese Stelle, nach
dem bisher angewandten Grundsatz, auch Neapel als Scenerie des Ge-
sprächs ausgeschlossen. Aber die Nennung von Neapel ist hier nach
144 Zweites Kapitel.
dem ZusaramenhaDg der Stelle so anstöfsig, dafs sie schwerlich von Dio
selbst herrühren kann. Neapel könnte hier nur genannt werden, wenn
es gälte, den letzten neapolitanischen Wettkampf früheren nicht in Neapel,
sondern an anderen Spielstätten erfolgten Wettkämpfen gegenüber zu
stellen. Es ist aber klar, dafs alle Wettkämpfe iwischen Helankomas
und latrokles, von denen hier die Rede ist, an ein und demselben
Orte unter den Augen des alten Turnlehrers stattgefunden haben. Nur
in diesem Falle konnte lalrokles von den früheren Kämpfen so erschöpft
sein, dafe er bei dem letzten auffallend früh seine Sache verloren gab.
Auch gewinnt erst bei dieser Auflassung die an Athenodoros gerichtete
Frage des sterbenden Melankomas: rcocai ^tvhg elev ^fiigat loinal
Tov aywvog einen tieferen Sinn. Durch die bisherigen Kämpfe mit
latrokles hat Melankomas den Kranz noch nicht errungen. Seine An-
strengungen sind vergeblich gewesen, wenn er nicht bis zum Ende des
Agons ausdauert. Daher die ängstliche Frage, wieviel Tage noch übrig
sind; die Antwort soll ihm sagen, ob er die Preisverteilung noch er-
leben wird.
Es ergiebt sich also, dafs die Ortsangabe iv tjj NeanoXei nicht,
wie es in dem überlieferten Texte geschieht, der Erwähnung des letzten
Kampfes als unterscheidendes Merkmal beigefügt werden konnte. Diese
Worte sind vielmehr ein in den Text verirrtes Scholion. Schon die
Themisliussteile hat uns belehrt, dafs zu diesem Stücke Schoben vor-
handen waren. Die Angabe dort über des Melankomas Verhältnis zu
Titus und die Angabe hier über die Stätte des Agons stammen aus der
gleichen Quelle: aus alter Sacherklärung des dionischen Gesprächs.
Wir dürfen dieser Überlieferung Glauben schenken und nunmdir wirk-
lich Neapolis als Scenerie des Gespräches or. 28 betrachten. Auch das
Enkomion or. 29 mufs im Gymnasien zu Neapolis gehalten seiif. Der
Agonothet oder Gymnasiarch, der es vorträgt, mufs in NeapoNs diese
Würde bekleidet haben.
Zieht man die auf gymnische und musische Agone bezüglichen nea-
politanischen Inschriften dieser Zeit zu Rate, so zeigt sich, dafs es über-
haupt nur einen Agon giebt, der hier gemeint sein kann ^ den peale-
terischen Agon der Augustalia, der seit dem Jahre 2 n. Chr. alle 4 Jahre
gefeiert wurde. ^) Denn die neapolitanischen Siege der Athleten werden,
ohne nähere Rezeichnung des Festes, schlechtweg durch Nia9 Ttokir
bezeichnet. Es gab also nur diesen einen gymnischen Agon in Neapel.
1) Vgl. Kaibel Inscriptiones graecae Siciliae el Italiae p. 191 b.
Dio als Sophist. 145
Die Kampfart, in welcher MelaDkoma3 damals in Neapel auftrat, war
wohl ayevBitJv TtayxQartov. Denn es wird ja ausdrücklich hervorge-
hoben, dafs er in jugendlichem Alter gestorben ist, ovSenu} aviqg äv
(or. 28 § 9).
Aus der Neapeler Inschrift IGrSI n. 729 wissen wir, dafs Titus vor
dem Jahre 81 in Neapel dreimal die Würde eines Agonotheten, einmal
die eines Gymnasiarchen bekleidet hat. Ich meine, es liegt nahe, diese
Thatsache mit der Überlieferung bei Themistius und mit Dios Verherr-
lichung des Melaukomas in Zusammenhang zu bringen. Im Jahre 70,
als die 18 te Feier der neapolitanischen Augustalien stattfand, weilte der
29jährige Titus noch in Judäa bei der Belagerung von Jerusalem. Im
Jahre 74 konnte er in eigner Person zugegen sein. Diesem Jahre ge-
hören wahrscheinlich die beiden Stücke der dionischen Sammlung an.
Dafs Dio durch die Vorliebe des Titus für Melankomas vcranlafst wurde,
ihn zu verherrlichen, ist höchst wahrscheinlich. Denn die drei an sich
unsicheren Umstände, die auf Beziehungen Dios zum flavischen Hause
deuten, stützen und sichern sich gegenseitig. Man ist berechtigt nach
dem Grunde zu fragen, welcher Dio zur Wahl dieses wenig anziehenden
und lohnenden Stoffes bestimmte. Denn auf die Gelegenheitsrede trifft
nicht zu, was von der rein epideiktischen Prunkrede gilt: dafs es dem
Redner garnicht auf den Stoff ankam, sondern nur auf die Form der
Behandlung. Ein namhafter Redner würde sich nicht dazu hergegeben
haben, für einen beliebigen Faustkämpfer eine Leichenrede und ein
rhetorisches iTCixrjöeLov zu verfassen,- wenn nicht besondere persönliche
Gründe ihn dazu veranlafsten. Dio arbeitete offenbar auf Bestellung,
nicht aus persönlicher Begeisterung für Melankomas. Spricht nicht
alles dafür, dafs eben Titus der Besteller war, Titus, der sich für Me-
lankomas begeisterte, der eben damals als Agonothet der Augustalien-
feier in Neapel beiwohnte, den mit Dio in persönlicher Beziehung zu
denken andere Umstände nahe legen, der die Verherrlichung seines
Lieblings gewifs königlich zu belohnen bereit war?
Man könnte sogar auf die Vermutung kommen, Titus selbst habe
die von Dio verfafste Rede als Gymnasiarch bei der Bestattungsfeier
seines Lieblings vorgetragen. Aber abgesehen davon , dafs wir eine
solche Unschicklichkeit nicht ohne zwingenden Grund dem Sohne des
Princeps zutrauen dürfen, sprechen mehrere Umstände gegen diese Ver-
mutung. Erstens wäre die starke Betonung der eigenen Jugendlichkeit
im Munde des 33jährigen Titus, des damals schon erprobten Feldherro,
des Eroberers von Jerusalem unangemessen; und zweitens wird der
V. Arnim, Dio. XO
146 Zweites Kapitel.
Prinz, der in der lateinischen wie in der griechischen Redekunst eine
selbst zu Improvisationen ausreichende Fertigkeit besafs (Suet. Tit. cp. 3),
von seinem rednerischen Können kaum so bescheiden gedacht haben,
yrie es der Vortrag einer fremden auswendig gelernten Rede voraus-
setzen würde. Es ist daher wahrscheinlicher, dafs Titus zwar als Agono-
thet der Leichenfeier beiwohnte, die Rede aber von dem Gymnasiarchen
gesprochen wurde. Die eigne Gymnasiarchie des Titus würde in ein
anderes Jahr zu setzen sein,
verhiitois Es erhebt sich nun die weitere Frage nach dem gegenseitigen
MeUnko^ Verhältnis der beiden „Melankomas^^ betitelten Stücke unserer Samm-
mas* lung. Ist es glaublich, dafs Dio den gleichen Gegenstand zweimal in
siocke!" verschiedener Form behandelte und dabei beidemal der gleichen Gedanken
und Motive sich bediente? Man vergleiche namentlich or. 29 § 13 mit
or. 28 § 8 und or. 29 § 20 mit or. 28 § 13. Solche Selbstwiederholung
mochte leidlich scheinen, wenn es sich nur darum handelte, Schulbei-
spiele zu geben, wie derselbe Gedankeninhalt in verschiedene Kunstform,
die der Rede und die des Gesprächs, gegossen werden kann. Das ist hier
ausgeschlossen. Es ist keine axohx^ vnod-eaig, die hier behandelt
wird. Der Gelegenheit und dem praktischen Bedürfnis danken beide
Stücke ihre Entstehung. Ist es mithin unwahrscheinlich, dafs beide
Stücke den Dio zum Verfasser haben , so wird eine mit aller Zurück-
hallung ausgesprochene Vermutung über das Verhältnis der beiden
Stücke erlaubt sein.
Die 29 te Rede ist früher verfafst als die 28 te. Denn jene ist bei
der Leichenfeier des Melankomas gesprochen worden; die Zeit des On-
girten Gespräches ist drei Tage nach der Leichenfeier (or. 28 § 5). Es
ist also mindestens drei Tage nach derselben verfafst. Der Gedanken-
inhalt beider Stücke deckt sich genau; nur die Kunstform ist verschieden.
Das später verfafste Stück ist anmutiger und kunstvoller. Es zeigt in
der Anlage unverkennbare Verwandtschaft mit einem anderen acht dio-
nischen Stück, dem Rahmengespräch des „Charidemos*^ Wenn nur
einer der beiden „Melankomas^^ von Dio sein kann, so werden wir uns
unbedenklich für den späteren (or. 28) entscheiden. Denn das frühere
Stück, nach der herkömmlichen Schablone gearbeitet, zeigt wenig Talent,
in dem späteren ist der Versuch gemacht, durch Ethopöie und lebendige
Vergegenwärtigung der Situation dem Stofl* eine neue Seite abzugewinnen.
Hiernach ergiebt sich folgendes Bild. Der Gymnasiarch hat sein bestes
gethan, durch eine Leichenrede im herkömmlichen Stil den verstorbenen
Liebhng des kaiserlichen Prinzen zu verherrlichen. Dio, der sich im
Dio als Sophist. 147
Gefolge des Titus beGndet, beoutzt die Gelegeoheit, seine Kunst zu
zeigen, ra avta €t€QOv tqotcov vTCoßdXkojv, Darum hält er sich so
genau an den Gedankeninbalt der Rede; jedes einzelne Motiv kehrt bei
ihm wieder, wenn auch nur in kurzer Andeutung. Das kann nicht Zu-
fall sein. — Weil dieser innere Bezug zwischen beiden Stücken besteht,
wurde die Bede dem dionischen Gesprach bei der Publication beigegeben.
Natürlich stellte man das Gespräch, obgleich es einem späteren Zeit-
punkt angehört, als die Hauptsache voran. Die Bede folgte als Anhang.
Diese ursprüngliche Beihenfolge änderte die Ausgabe oder Handschrift,
von der unsere Handschriften abstammen, auf Grund des Zeilverbält-
nisses der beiden Stücke, fügte aber dem Titel des nunmehr vorange-
stellten und als Mekayxofiag a bezeichneten Epitaphios die Bemerkung:
Tfj Ta^€L ß' hinzu und dem Titel des nunmehr nachgestellten Dialoges
die entsprechende: tj} ra^ei a\
Wir haben durch die Datirung der beiden „Melankomas^ ein neues
Datum in Dios Entwicklungsgeschichte festgelegt. Neben dem Jahre 74
könnte höchstens das Jahr 78 in Betracht gezogen werden , und ich
will die Möglichkeit dieser Datirung nicht leugnen. Aber aus Gründen,
die sich im weiteren Verfolg unserer Darstellung ergeben werden, ist
mir das frühere Datum wahrscheinlicher. Dio wird damals ungefcihr
dreifsig Jahre alt gewesen sein. Als Bedner wandelt er ganz in den
Bahnen der Sophistik. Er findet kein Arges darin, seine Kunst in den
Dienst der Mächtigen zu stellen. Die übertriebene Verherrlichung des
Athletentums, die in der Bede vorherrscht, ist in dem Dialog geflissent-
lich vermieden, die Begeisterung für männliche Schönheit und Kraft
ohne Zweifel aufrichtig empfunden. Haben wir mit Becht die Bede
(or. 29) dem Dio abgesprochen, so sehen wir ihn mafsvoll dem Zeitge-
schmack und dem Geschmack seiner Gönner dienen und vorwiegend in
der schönen Form seine Stärke suchen. Und es handelt sich nicht ein-
mal um blofsen Zeitgeschmack. Die höchste Entfaltung der körperlichen
Kraft durch gymnastische Ausbildung ist ein althellenisches Ideal, dessen
Verherrlichung dem xata rag xoivag kvvolag lebenden Sophisten nicht
verübelt werden kann. Der Athlet ist auf physischem Gebiet dasselbe,
was der Sophist auf dem geistigen sein will: die potenzirte Darstellung
des allgemeinen Bildungsideals. Kein Wunder, dafs der Sophist den
Athleten verherrlicht.
Weit wichtiger ist, was wir über Dios Verhältnis zu Titus erfahren, verhtitnii
weil es uns die Möglichkeit giebt, die Entwicklung seiner politischen poiuiMhe
Ansichten zu verfolgen. Dio hat nicht, wie man aus manchen geiner ^«»'n"""»«
10*
148 Zweites Kapitel.
späteren Schriften verofiuteD konnte, von vornherein der principielleo
Opposition gegen die Monarchie angehört. Wie es sich für den ächte q
Sophisten schickt, hat er dem bestehenden Regiment gehuldigt und die
republicanischen Ideale der stoischen Partei sicherlich als Utopieen be-
lächelt. Wenn Philostratus in seinem Roman den Dio schon im Jahre 69
als Kepublicaner darstellt, so ist das gegen alle Wahrscheinlichkeit. Da
Philostratus nicht wie Synesius verschiedene Entwicklungsperioden Dies
unterscheidet, so hat er einfach das Bild des späteren Dio, des stoischen
Oppositionsmannes, auf die frühere Zeit übertragen. Die Kreise, aus
welchen Dio stammte, hatten keinen Grund, die Herstellung der Republik
zu wünschen. Wie der Grofsvater am Kaiserhofe sein Glück gemacht
und für das Wohl von Prusa zu wirken versucht hatte, so und in der
gleichen Absicht wird auch Dio höfische Beziehungen gesucht haben.
Zumal das Emporkommen der flavischen Dynastie mufste, nach der Ty-
rannis Neros und den Wirren des Jahres 69, auch von den Provincialen
des Ostens als Anbruch einer, besseren Zeit begrüfst werden. Nur ein
starkes, im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt geführtes Reichsregiment,
welches die Amtsführung der Provincialstatthalter streng überwachte,
konnte ihnen leidliche Verwaltungszustände gewährleisten.
Dio konnte also, ohne seine Grundsätze zu verleugnen, dem flavi-
schen Hause dienen. Auf solche Beziehungen deutet auch die Stelle
im Euboicus (p. 202, 4): Ttkovaicjv oixlag ze xal fQanitag T^TtcOTa-
firjv, ov fiovov idio)Ttiv, aXka xal oarqaTtwv xaJ ßaauicjv. Schon
damals^ als er die Gastfreundschaft des euböischen Jägers genofs, konnte
sich Dio der Zeit erinnern, wo er an der „Könige^ Tischen gesessen
hatte. Da die Handlung des Euboicus in die Zeit der Verbannung fclllt,
kann die Stelle nur auf Titus bezogen werden. Der Günstling des Hofes
war auch in den Palästen vieler römischer Grofsen ein willkommener
Gast. Auf solche sind wohl auch die „Satrapen'* der ausgeschriebenen
Stelle zu deuten. In dieser Zeit mufs er die Freundschaften angeknüpft
haben, die er or. 41 § 7 erwähnt, um seinen Einflufs in Rom zu schil-
dern: (piXcjv fioc ovTCJv ovT€ oXiywv ovze ciÖvvcitcjv. Die für sein
späteres Leben folgenreichste dieser Bekanntschaften war die des M. Coc-
ceius Nerva, des späteren Kaisers.
Bedeutung ^^^ Stelle mir vor, dafs Dio sich in der vornehmen römischen Ge-
des römi- sellschaft mit weltmännischer Leichtigkeit, aber zugleich auch mit dem
entbaiu für^^o^z des Unabhängigen Mannes bewegte. Ein Schmeichler und Parasit
seioe Eol- kann er niemals gewesen sein. Nicht nur seine Wohlhabenheit und sein
Ansehen als Redner, sondern auch sein Charakter schützten ihn vor den
Dio als Sophist. 149
DemUtigiiDgeo , die mancher andere griechische Litterat in Rom erdul-
dete. Hier hat er unbewufst die Eindrücke gesammelt, die ihn zum Mo-
ralisten gemacht haben. Dem Provincialen und Kleinstädter mufste die
Weltstadt zunächst gewaltig imponiren. Die Pracht der Tempel, Hallen,
Bäder und Paläste, die verschwenderische Fülle von Reichtümern und
Kostbarkeiten aller Art, die pomphafte Bedienung und der Tafelluxus
in den Häusern der Reichen, kurz die ganze Herrlichkeit einer höchst
gesteigerten materiellen Cultur, deren Strahlen in diesem Brennpunkt
gesammelt jeden Beschauer blendeten , hat auch Dio zunächst geblendet.
Man fühlt es den in seinen späteren Schriften immer wiederkehrenden
Schilderungen solcher Pracht und Herrlichkeit an, dafs hier einer der
Hauptausgangspunkte seines ethischen Nachdenkens hegt. In der Zeit,
von der wir reden, lag ihm der Gedanke fern, die Welt zu bessern und
zu bekehren. Die Leute, welche mit diesem Anspruch auftraten, „die
Philosophen^, waren ihm gründlich verhafst. Aber das schliefst nicht
aus, dafs er für die Schwächen dieser glänzenden Cultur schon damals
ein offenes Auge hatte und sich unbewufst zu ihrem künftigen Kritiker
ausbildete. Er ist nie, wie Plutarchos, ein begeisterter Verehrer römi-
schen Wesens geworden. Der Mangel ächter Humanität in der römischen
Gesellschaft konnte ihm nicht verborgen bleiben. Sein Herz gehörte
immer dem Griechentum, dessen Ideale , soweit es die Zeit zuliefs, zu
erneuern und zu erhalten, ihm als höchstes Ziel vorschwebte.
Die Gründe seines Philosophenhasses sind uns bekannt: der trau- RekAmpruog
rige Zustand der damaligen Philosophie, der alte , auch ihm von seinen ^*' ^^^^^
Lehrern eingeimpfte Hafs der Rhetoren gegen die Philosophen, endlich
sein eignes sinnlicher Anschauung mehr als begriffhchem Denken zu-
neigendes Naturell. Die Hofphilosophen der römischen Grofsen^ deren
Reden so hochtönend trotzig und deren Benehmen so zahm und bettel-
haft war, erinnerten ihn an die zahmen, hündisch wedelnden Löwen der
Kirke. Es kommt hinzu, dafs er den höüschen Kreisen nahe stand, die
gerade damals auf die Gefährlichkeit der stoischen und kynischen Secte
aufmerksam geworden waren. Helvidius Priscus, der Schwiegersohn
des unter Nero hingerichteten Thrasea Paetus, jetzt das Haupt der
für stoische Ideale begeisterten antimonarchischen Partei, hatte durch
fortgesetzte rücksichtslose Demonstrationen den Kaiser schliefslich zum
Eingreifen gezwungen. Er wurde verbannt und hingerichtet. Hiermit
stand wohl die Verweisung sämtlicher Philosophen aus Rom in Zusammen-
hang, zu welcher Mucian im Jahre 71 den Kaiser zu bestimmen wufste.
Nur Musonius Rufus wurde von dieser Mafsregel ausgenommen. Man
150 Zweites Kapitel.
wird kaum irregeheo, wcdd man die aus Synesius bekanoten Reden
Dios ^^gegen die Philosophen** (xora tcSv (piXoaoqxov) und „an Huso-
nius** (nqbg Movaciviov) mit jener philosophenfeindlichen Stimmung
in Zusammenhang bringt, die in der ersten HäUle der siebziger Jahre
die Hofkreise beherrschte.
Reden Aus der Schilderung des Synesius geht hervor, dafs Dio als Haupt-
xard "r^*" Yfoiifixiirer der antiphilosophischen Strömung aufgetreten war. Kein
^ d ^'T'^^^^^^^ Sophist hat, nach Synesius, mit gröfserer Unverschämtheit die
Movat&' Philosophen und die Philosophie angegriffen als Dio. Als eine ent-
vtov. schiedene Natur, der jede Halbheit zuwider war, machte er Ernst mit
dem rednerischen Beruf. Er war wirklich, wie es sich für den Redner
und Sophisten geziemt, von der Oberzeugung durchdrungen^ dafs es dem
Menschen besser sei^ den gesunden Menschenverstand zur Richtschnur
des Lebens zu machen, als die Philosophie. Darum waltet in seiner
Rede xara tuv q)ckoa6q)(ov und in der inhaltlich verwandten ngog
MovaoivLOv solch ein rücksichtsloser Kampfeseifer, der keine redne-
rische Waffe ungebraucht läfst. Wer einiges Stilgefühl besitzt, kann
nach der Meinung des Synesius bei der Leetüre dieser Reden nicht im
Zweifel sein, dafs es dem Dio Ernst mit seinen Angriffen ist, dafs er
hier nicht, wie in anderen sophistischen Erzeugnissen, mit dem Stoffe
spielt und nur sein rednerisches Können zeigen will, sondern aus
innerer Oberzeugung redet. Männer wie Sokrates und Zenon beschiefst
er mit den Witzespfeilen der Komödie {ßakket %oig Ix JtowaLcjv axoi/i-
^aac) ; ihre Nachfolger in der Gegenwart sollte man (so verlangt er) in
Acht und Bann thun zu Wasser und zu Lande, als die schlimmsten
Feinde und Verderber des staatlichen Lebens {wg ovxag xrJQag Ttokecov
x€ xai nokitelag).
Offenbar hatte Dio in diesen Reden alle die alten Vorwürfe der
Rhetoren gegen die Philosophie, von denen im ersten Kapitel die Rede
war, zu einer leidenschaftlichen Invective zusammengefafst. Uns interes-
sirt hier am meisten, was aus den Worten des Synesius sich unzweifel-
haft ergiebt, dafs diese Invective eine politische Zuspitzung hatte. Als
Anhänger der verfassungsmäfsigen Monarchie des Vespasian greift er die
stoische Oppositionspartei an, die um utopistischer Ideale willen Frieden
und Ordnung des Reiches durch ihre Umtriebe leichtfertig bedroht. Es
hat die gröfste innere Wahrscheinlichkeit für sich, dafs diese Reden
dem Jahre 71 angehören. Nirgends anders als in Rom selbst werden
wir sie uns gehalten denken. Denn gerade hier hatte der Gegenstand
ein actuelles Interesse, zumal in der Zeit, wo die Bestrafung des Hei-
Dio als Sophist 151
vidius die öfleotliche MeinuDg erregte und die VerweisuDg sämtlicher
Philosophen aus Rom geplant wurde.
Nach dem sachverständigen Urteil des Synesius war die Rede xara
%wv q>Uoa6(pa)v die beste unter den sophistischen Reden Dios. Nir-
gends fand sich bei ihm eine gleich efTectvolle, den Hörer bestrickende
Rhetorik. Synesius mifsbilligt zwar die ganze Stilrichtung, in der sich
diese Rede wie die übrigen aus Dios FrUhzeit bewegte, als der Schlicht-
heit und Natürlichkeit entbehrend« Aber innerhalb dieser Stilrichlung
hat sich Dio hier selbst übertroflen. Ein sonderbares Schicksal, meint
Synesius, scheint es so zu fügen, dafs es den Dichtern und Rednern
immer gerade dann besonders gut gelingt, wenn sie gegen die Philo-
sophie zu Felde ziehen. So hat Aristophanes in den „Wolken^, Aris-
teides in der Rede ^^ngog nkdrcjva v7C€q twv zsaaaQwv^^ Dio in der
Rede „xara tcSv q>Lloa6cpa)v^^ den Höhepunkt seines Könnens erreicht.
Der Titel „xara tuiv q)ckoa6q)iov^ legt die Vermutung nahe, dafs
Dio die Form einer gerichtlichen Anklagerede gewählt hatte. Denn in
diesem Sinne ist xaTci cum gen. gebräuchlich. Dagegen deutet der Titel
nQog Movociviov auf eine mildere Form der Polemik. Der berühmte
Philosoph, ungefähr 20 Jahre älter als Dio, genofs allgemeine Achtung.
Er gehörte nicht zu dem politisch radicalen Flügel der stoischen Partei.
Unter Nero, im Jahre 66, war auch er verbannt, unter Galba zurück-
berufen worden. Als im Jahre 71 die erneute Ausweisung der Philo-
sophen erfolgte, wurde nur er von ihr ausgenommen. Die schon hier-
durch nahe gelegte Vermutung, dafs Husonius dem verfassungsmäfsigen
Regimente Vespasians nicht ablehnend gegenüber stand, ündet erwünschte
Bestätigung durch die Nachricht bei Themistius or. XHI p. 173 Hard.,
nach der Musonius zu Titus in einem ähnlichen Verhältnis stand ^ wie
Areus Didyrous zu Augustus und später Dio zu Trajan. Titus, der bei
Lebzeiten seines Vaters stets zu scharfen Mafsregeln gegen die Oppo-
sitionspartei drängte, könnte ein solches Verhältnis zu Musonius nicht
gehabt haben, wenn dieser Philosoph nach der Thronbesteigung Ves-
pasians in der Opposition gegen die Monarchie verharrt wäre. Da auch
Dio, wie wir schon sahen, sich eine Zeit lang in der Umgebung des
Titus befunden hat, wird er dort mit dem Philosophen zusammengetroffen
sein. Dafs die Rede ngog Movawvcov einen polemischen Charakter
trug, dafs auch in ihr Dios antiphilosophische Gesinnung zum Ausdruck
kam, geht aus der Erwähnung bei Synesius hervor. Aber man darf
daraus nicht auf persönliche Feindschaft der beiden Männer schliefsen.
Bekanntlich nimmt Dio schon in der rhodischen Rede auf ein Erlebnis
152 Zweites Kapitel.
des Musonius in einer aufrichtige Hochschätzung yerratenden Weise
Bezug. Er bezeichnet den vornehmen Römer nicht nur als den be-
rühmtesten Philosophen der neueren Zeit, er gesteht ihm auch zu, dafs
er mehr als irgend ein anderer in der Weise der Alten Leben und
Lehre in Einklang zu setzen gewufst habe. Wir werden uns daher die
Rede tcqoq Movadviov als eine sachliche, wahrscheinlich an eine be-
stimmte Rede oder Schrift des Musonius anknüpfende, aber von persön-
licher Verunglimpfung des Gegners freie Polemik zu denken haben.
'YTiäp Von den verlorenen Schriften Dios könnte man noch die bei Sui-
'Ofnjpov das s. V. Jlwv erwähnte „Verteidigung Homers gegen die AngrifTe
^e^^ Piatons" in 4 Büchern (vTciQ 'Of^^Qov Ttgog nkaTWva 6') hierher
^'"•'"'ziehen, wenn es nämlich feststünde, dafs diese Verteidigung vom Stand-
punkte der gewöhnlichen Meinung mit Zurückweisung der philosophischen
Oberhebung geführt war. Aber die Art und Weise, wie in or. 53 §2 f.
dieser Gegenstand berührt wird, legt die Annahme näher, dafs die Ver-
teidigung vermittelst der stoischen (allegorischen) Interpretationsmethode
das sittlich anstöfsige . aus dem Homer wegzudeuten suchte. So wird
auch der grofse Umfang der Schrift leichter verständlich. Ist unsere
Vermutung richtig, so gehörten die Bücher vTtiQ ^Ofii^qov nQog IHd-
twva Dios philosophischer Periode an.
wohnsits in Wie lange Dio in Rom geweilt hat^ ob er mehr als einmal dort
'*hi*ii«*he ^^w^sen ist, läfst sich nicht ermitteln. Aber die Wahrscheinlichkeit
Kunstreisen. spricht dafür, dafs er nicht viele Jahre ununterbrochen von Prusa ab-
wesend war. Er war ja kein armer Schlucker, der in die Welt hinaus-
zog, um irgendwo, gleichviel an welchem Orte, ein Saugeröhrchen des
guten Auskommens ausündig zu machen und an ihm sich festzusaugen.
Er war ein behäbiger Bürger, der in seiner Vaterstadt ansehnlich leben
konnte. Seit der Vater gestorben war, mufste er selbst nach dem Sei-
nigen sehen. Es ist daher, wie schon bemerkt, anzunehmen , dafs Dio
während dieser Periode in Prusa seinen dauernden Wohnsitz halte und
von dort aus Kunstreisen unternahm, die ihn in die Hauptorte der
griechisch redenden Welt und bis nach Rom führten. Die Kunstreisen
der Sophisten sind uns aus Lukian und Philostratos bekannt. Sie ge-
hören noch jetzt ebenso notwendig zum sophistischen Leben, wie zur
Zeit des Gorgias und Protagoras. Auf solchen Reisen müssen wir uns
die sophistischen Erzeugnisse Dios vorgetragen denken, die uns teils
noch erhalten, teils nur von Hörensagen bekannt sind. Ich brauche
mich auf eine detaillirte Schilderung des sophistischen Treibens um so
weniger einzulassen, als das mit Meisterhand gezeichnete Bild dieser
Dio als Sophist. 153
Zustände in Erwin Rohdes „Griechischem Roroan'^ allen meinen Lesern
geläufig ist.
Wenn ein namhafter Sophist auf solcher Reise eine Stadt berührt, ^^^ *"•*?•"
'■ Tischt Tbl-
in der ein gebildetes, in die Mysterien schöner Rede eingeweihtes ugkeit der
Publicum vorhanden ist, so hiefse es dieses Publicum beleidigen, selbst Sophisten.
aber eine Gelegenheit zur Ausbreitung seines Ruhmes versäumen, wenn
er vorüberziehen wollte, ohne eine Probe seiner Kunst gegeben zu
haben. Für das kunstliebende Publicum sind die Resuche berühmter
Sophisten die Ereignisse der Saison. Entweder tritt der Sophist im
Stadtthealer öffentlich, namentlich bei festlichen Gelegenheiten, vor dem
ganzen Volke auf, oder er folgt der Aufforderung eines reichen Privat-
mannes, in seinem Hause vor einem Kreise geladener Gäste zu reden.
Im Gegensatz zu der schlichten Tracht der Philosophen tritt der So-
phist im Schmuck der reichsten Gewänder auf. Der Reifall des für das
Verständnis rednerischer Schönheiten durch den Jugendunterricht ge-
schulten und daher höchst empPanglichen Publicums begeistert ihn und
feuert ihn an. Mannichfaltig sind die Gegenstände und Formen der so-
phistischen Vorträge. Entweder haben sie Rezug auf eine Gelegenheit
oder sie sind rein um ihrer selbst willen da. Neben eigentlichen Reden
stehen die Recitationen schriftstellerischer Erzeugnisse z. R. Dialoge.
Die Reden können Improvisationen sein oder auf schriftlicher Vor-
bereitung beruhen. Sie können, obwohl alle epidei k tisch , die Form
der Gerichtsrede, der beratenden Rede annehmen, oder auch auf dem
im engeren Sinne epideiktischen Gebiete sich bewegen. Eine epideik-
tische Quasi-Gerichtsrede war z. R. Dios Rede xara twv q)ikoa6q>a}v^
eine quasi-symbuleutische ist der'Podiaxog. Sehr zahlreich sind wiederum
die Formen der im engeren Sinne epideiktischen Gattung. Der Redner
kann erzählen oder beschreiben, beweisen oder widerlegen, loben oder
tadeln. Die Reschreibung (€xq)Qaaig) kann Natur- oder Kunstgegen-
stände vergegenwärtigen. Das Reweisen und Widerlegen {xaraaxevd^ecv
und avaaxevd^eiv) kann sich auf allgemeine Themata, sogenannte ^^-
aeiQy namentlich ethischen Inhalts, beziehen, oder auf Gegenstände der
mythischen oder geschichtlichen Cberlieferung. Das Loben und Tadeln .
endlich, das auf Menschen, Tiere, Natur- und Kunstgegenstände An-
wendung findet, gipfelt noch jetzt, wie in der alten Sophislik, in der
Fertigkeit das Kleine grofs, das Grofse klein zu machen. Eine beson-
ders beliebte Art dieser letzten Gattung bilden die sog. ado^oi ino-
d-iaeig^ in denen sich der Redher bemüht, einem geringen, unansehn-
lichen Gegenstand Interesse und Redeutung zu leihen.
154 Zweites Kapitel.
Weitere Diese Aufzählung bekannter Dinge, die auf Vollständigkeit keinen
iophisiische ^QgpruQli erhebt, soll uns dienen, die sophistischen Erzeugnisse Dios,
von denen wir Kunde haben, einzuordnen. Es ist uns nicht überliefert,
ob Dio die quasi>gerichtliche Gattung der „Controversien^S die Behand-
lung fingirter Rechtsfälle, gepflegt hat Nur der freiere Gebrauch ge-
richtlicher Formen für einen nicht juristischen Gegenstand ist durch die
Rede xaza twv q)iXoa6q)(iiv belegt Es fehlt auch, soviel wir sehen,
die gebräuchliche Form der Suasorie, in welcher eine geschichtliche
Situation der Vergangenheit zur Grundlage einer Gctiven Slaatsrede ge-
macht wird. Der 'FodiaKog bezieht sich auf die gegenwärtige Wirk-
lichkeit
TBfinmv Die Form der eyKpgaaig ist durch die „Beschreibung des Tempe-
fxy^aüis, ih^les'"' vertreten. Wenn unter dem Mifivcov die klingende Memnons-
'^''"*''*^' Säule in Ägypten zu verstehen ist,*) so gehörte auch dieses Stück zu den
hcq>Qaa€ig. In beiden, sagt Synesius, brüstet und ziert sich der Redner,
wie ein Pfau selbstgeßiUig sein Gefieder mustert, und schwelgt gewisser-
mafsen in der Zierlichkeit der eigenen Rede; denn auf diese allein
kommt es ihm an, das Ziel, das er sich setzt, ist vollkommener Wohl-
klang. Im „Memnon^^ ist sogar die Ausdrucksweise ein wenig bom-
bastisch {vTtOTvcpog iativ ij eQfirjvela). Die Widerlegung einer mythischen
Oberlieferung (avaanevi^) ist uns im TgcoCuog (or. 11) erhalten. Am
reichsten endlich ist die Lobrede in verschiedenen Spielarten vertreten.
K{&v(u7toe Zu den ado^ot vnod'iaeig gehört der yujjvuijtog enaivog, das Lob
inaivos, der Mücke, ein Gegenstück zu dem erhaltenen ^viag lyyuo^tov des
Lukian; ferner das durch Synesius erhaltene „Lob des Haupthaars'^
(Ko^rjg iyxcifÄLOv), wenn es als acht anzusehen ist Das „Lob der Mücke"
rechnet der Kenner Synesius zu den besten der sophistischen Erzeug-
nisse Dios. Er nennt es in einem Athem mit der „Rhodiaca^' und der
„Trojana" als Beispiel für Dios Stärke in der rhetorischen „inventio".
Auch auf solche nalyvia, meint er, verwandte Dio die ganze Kraft
seines Talentes, als ob es sich um die ernsthafteste Sache von der Welt
handelte. Im iTttxeiqeiv^ d. h. in der Auffindung der Beweisgründe ist
er allen übrigen Sophisten überlegen. Wir können uns danach vor-
stellen, dafs Dio hier, wie in der „Rhodiaca", durch die grofse Zahl der
Argumente zu glänzen suchte.
Köfitis Das „Lob des Haupthaars'' scheint mir Dios durchaus unwürdig.
4yn€ofiwv. Der Eingang erinnert stark an die Eingangsworte der or. 52 (Ver-
1) 1d diesem Sinne gebraucht den Ausdruck z.B. Lukian im Toxaris cp. 27.
Dio aU Sophist 155
gleichuDg der drei Philoktete) und scheint iDsofern für Echtheit zu
sprechen. Aber die Ausführung ist unglaublich dürftig. Die Wieder-
holung der Übergangsphrase {donovoi öi fnoi xal ^cmeöaifiovioi fii]
cifiekeiv tov toiovtov TCQayfiarog — doyc€i di fioi xal ^'OfÄijQog
nkelarrjg iTCifiekelag a^iovv t6 toiovtov) in kürzestem Zwischenraum
ist ungeschickt, die Aneinanderreihung der Homerstellen hölzern. Vor
allem aber fällt es auf, dafs der er6nderische Dio über ein solches
Thema nicht mehr sollte zu sagen gewufst haben. Man würde glauben,
ein Bruchstück oder Excerpt zu lesen, wenn es nicht Synesius für ein
vollständiges Ganze hielte. Die Einleitung, die bis zu den Worten
figadeig tb xal aq)vkaxTOvg reicht^ ist unverhältnismäfsig lang. Sie
nimmt über ein Drittel des Ganzen ein. Ich kann daher nicht glauben,
dafs die Declamation in der vorliegenden Gestalt von Dio herrührt.
Vielleicht haben die Abschreiber des Synesius, um sich die Arbeit zu
kürzen, nur Anfang und Schlufs des fremden Einschiebsels mitgeteilt.
Verwandten Charakters ist das „Lob des Papageien^' (ipiTTaxov Wirraxoe
£7taivog). Endlich findet sich noch bei Suidas s. v. ,Jia)v der schwer- fntuvos
lieh richtig überlieferte Titel: 'EyxcifÄiov^HQaxliovg xal IIldTfDvog. Dafs '^^^^/^
ff/) ff ff Aif »
Dio damals Plato sollte gepriesen haben, ist unwahrscheinlich; noch ^ .
unwahrscheinlicher, dafs er ihn mit Herakles verkoppelte; wie denn m^^^av^^^
überhaupt solche Verkoppelung der Natur des Enkomions widerspricht.
Die kleine Rede tvsqI 'O/hi^qov xal ^wxgaTOvg (or. 55) ist kein Enko-
mion. Vielleicht sind zwei Titel mit einander vermischt Ein kyxci-
fiiiov ^Hgaxliovg würde gut für die sophistische Periode passen; ein
kyxw^LOv TlkaTUivog pafst für Dio zu keiner Zeit.
Zur Gattung der Enkomien gehören auch or. 75 negl vofiov und ne^lvö-
or. 76 negl %d^ovg. Ihre Erhaltung ist bedeutungsvoll für das Ver- ^<>v, ne^i
stdndnis von Dios Entwicklung, weil sie sich inhaltlich mit vielen ^^^^'
Erzeugnissen Dios aus seiner späteren Zeit berühren und dadurch
besonders deutlich die Umwandlung veranschaulichen, welche Dios „Be-
kehrung'^ in seinem Stil und in seiner Denkweise hervorgerufen hatte.
Die Lobreden auf Gesetz und Sitte dürfen als Musterbeispiele gelten für
die nicht philosophische, sondern sophistisch - rhetorische Behandlung
ethisch-politischer Gegenstände. Wenn wir nicht ohne Not den Autor
als einen völlig haltlosen, um Widersprüche unbekümmerten Schön-
redner hinstellen wollen, so müssen wir schliefsen, dafs diese Decla-
mationen seiner ersten Periode angehören.
Beide Stücke beginnen übereinstimmend mit eoTt öi. Beim Vor-
trag hatte Dio vermuthch nach Sophisten brauch eine auf persönliche
156 Zweites Kapitel.
Verhaltoisse bezügliche rcQoXaXid vorausgeschickt, die bei der Publi-
cation abgetreoDt wurde. Solche TCQoXahal standen oft in zu losem
Zusammenhang mit dem Vortrag, dem sie voraufgeschickt wurden, um
auch in der Publication mit ihm vereinigt zu bleiben. Sonderpublication
der ngoXalial ist uns aus der lukianischen Sammlung geläu6g. Ein
Zusammenhang zwischen or. 75 und 76 besteht nicht Sie können nie
Teile eines gröfseren Ganzen gewesen sein, weil sie sich wiederholen
und widersprechen. In or. 75 wird der Begriff vofiog so weit gefafst,
dafs er auch das ^e&og mit einschhefst. In or. 76 wird das }l&og auf
Kosten des vofiog gelobt. Die Sicherheit der Parlamentäre, die Zulassung
der Totenbestattung im Kriege werden in of. 75 dem vofiog als Ver-
dienste angerechnet, in or. 76 dem ^&og. Das beweist, dafs es zwei
selbständige, zu verschiedener Zeit gehaltene Declamationen sind.
Für den Kundigen bedarf es kaum besonderer Beweise für ihre
Unvereinbarkeit mit der Denk- und Stilrichtung des späteren Dio. Be-
zeichnend ist zunächst in or. 75, dafs die verschiedenen Bedeutungen
von vofiog ohne Disposition durcheinander geworfen sind : das geschrie-
bene Gesetz, das blofse Herkommen, das Natur- und Weltgesetz. Ob
diesen Dingen ein gemeinsamer Begriff zugrundeliegt, ist dem Verfasser
ganz gleichgültig. Ihm genügt der Gleichklang des Namens, um sie
alle in sein vofxov iyycwfiiov einzubeziehen. — Die Verherrlichung der
menschlichen Bräuche und Gesetze, des Conventionellen im Menschen-
leben, kennzeichnet den sophistischen im Gegensatz zum philosophischen
Standpunkt. Man vergleiche nur die Äufserungen über ariq>avoi und
KTiQvyiiiaTa in § 7 mit denen in or. 66 § 1 — 5. Hier wird dem vofAog
die Kraft zugesprochen, diesen an sich wertlosen Dingen einen Wert
zu verleihen, dort werden sie als wertloser Plunder verspottet. Hier
herrscht die gewöhnliche Meinung (xoivi] vTtokrixpig), dort das kynisch-
stoische Schuldogma. In or. 75 wird sogar die Tugepd § 8 auf den
vofÄog zurückgeführt: ovrog lariv — 6 ttjv aQerrjv av^wv^ und in
§ 1 der vo^og als einziger Leitstern richtiger Lebensführung gepriesen.
Dagegen wird in or. 69 § 8 über die Leute gespottet, welche nicht
glauben wollen, dafs es ein Wissen vom rechten Handeln und Leben
geben könne, aXka rovg vofiovg aitolg havovg elvai nqog tovto rovg
yeyqafxfjiivovg. Wer solche fundamentalen Widersprüche der Lebens-
anschauung nicht aus dem Fortschritt Dios vom sophistischen zum philo-
sophischen Standpunkt erklären will, sondern meint, er habe zu der-
selben Zeit je nach Willkür und Laune heute so und morgen so reden
können, der sündigt gegen die psychologische Wahrscheinlichkeit. Nicht
Dio als Sophist. 157
ohne zwingenden Grund werden wir uns zu Annahmen verstehen,
welche dem Autor unbegreifliche und unnatürliche Widersprüche auf-
bürden.
Der Stilcharakter der 75. Rede stimmt zu dem Inhalt. Der Hiat
ist im allgemeinen sorgfältig vermieden. Selbst von den ziemlich all>
gemein als zulässig erachteten Freiheiten wird kein oder nur ein spar-
samer Gebrauch gemacht. Nur einmal ist am Ende der Periode vor
einer längeren Pause Hiat zugelassen, innerhalb der Periode, am Ende
eines Kolon nirgends. Abgesehen von den Fällen, wo er durch die
Elisionsfähigkeit des Auslautes entschuldigt ist, wird der Hiat nur nach
TLaL und den vocalisch auslautenden Formen des Artikels geduldet, nicht
' nach den Formen des Relativpronomens, nach den Präpositionen mit
nicht elisionsfähigem Endvocal, nach ri, fir^, drij, %L, 6%i, %oci, Ttaw,
Ein solches Streben nach Wohlklang und Glätte ist den meisten Wer-
ken Dios fremd. Namentlich ist zu beachten, dafs auch die legi-
time Elision nur sparsam verwendet wird. Es Ondet sich nur ein
schwerer Hiat (§ 9 7coXi^(t) ivavrlog), der sich nicht wohl vermeiden
liefs. Die Wortwahl beschränkt sich auf das in der attischen Prosa
übliche Sprachgut; nirgends werden Ausdrücke der Dichlersprache ent-
lehnt. Die Zierlichkeit des Stils ist hauptsächlich durch den Bau der
Sätze und Perioden bewirkt. Es herrschen die kurzen leichten Kola
vor. Auch die Perioden sind entweder ganz kurz oder, wo sie aus
einer grüfseren Anzahl Kola bestehen, so aufgebaut, dafs man schnell
den Hauptgedanken auflafst, der dann durch weitere Zusätze näher er-
läutert oder ergänzt wird. Man braucht daher nicht mit Spannung auf
das letzte Kolon, als das die ganze Periode erst zu einem vollständigen
Gedanken abrundende Glied, zu warten, sondern jedes einzelne Kolon
ist an seiner Stelle vollkommen verständlich. Die Darstellung steht der
elQOfiivjj Xi^ig näher als der xarearQafifiivr]. Von den Kunstmitteln
der Isokolie, der ofioiaQTCTa und ofioioTiXevta ist reichlicher Gebrauch
gemacht. Besondere Vorliebe zeigt der Redner für eine dreigliedrige
Composition, bei der dem dritten Gliede stets ein vollerer Klang ver.
liehen wird; z.B. § 1 iari di 6 vofxog tov ßlov fiiv rjyeficiv, raiv
TcoXeiav dk iTtiarair^g xoivog, zwv dh ^cgay^arojv xavwv öUaiog.
§ 3 tovvavrlov yccQ a/tavzwv ofiolwg xT^derat xai oxokrjv ayec ^cQog
za Tüjv aXkiüv Ttqoty flava xai ovöhv idiov ovo' l^alqetov laxiv avTij).
§ 6 waT€ xal rolg a%vxovai x^ija^^oire^og xad-iarrjxe laiv yivei
TtQoOTjxovTwv xal TOlg adixovfÄivoig laxvQoxBQog rrjg avTuiv ixelvcav
^(jifirjg xal narqaaiv vlicjv evvovareQog xal Ttaial yoviwv xal adek-
158 Zweites Kapitel.
(folg adeXq^uiv , wo das dritte Glied durch eine neue Trichotomie ge-
gliedert ist. § 6 %al yovevai fcaga jcaldcjv rag ofioLag xofAi^ofievog
aal loig Idiq tivojv evegyhaig naqa tcuv ev fta&ovTwv xal rolg
Y.OLvij (fiXorifiovfxivoig naQot rfig ftolewg. § 9 olxog inUovgog
yi^QCjg, öiödoTcakog veoTTjrog, nevlag avveqyog, q)vka^ Jtlovrov, rf]
lA€v elqrivTß avfifxaxog^ rip dh 7coXifX(i) Ivavrlog, wo die Begriffe in
drei Paaren geordnet sind. Eine Periode mit genau durchgeführter Ent-
sprechung nicht nur der Kola, sondern auch der einzelnen Begriffe, Ondet
sich § 1 üJOTtSQ öh Twv TtXeovriov u.8.w. Durch die an den Schlufs der
Kola gestellten gleichauslautenden Verbalformen evQlaxovaiv — rvyx^'
vovaiv wird diese Entsprechung auch dem Ohre vernehmlich gemacht.
Dio hat also hier von den gorgianischen Figuren ausgiebigen Ge-
brauch gemacht. Der Gesamtcharakter des Stils ist durch das Streben
nach Zierlichkeit, Leichtigkeit und Wohlklang bestimmt. Das berech-
tigt uns, in Verbindung mit dem über den Inhalt Bemerkten, die Decla-
mation seiner FrUhzeit zuzuweisen.
Or. 76 Ttegi e&ovg stimmt im Stilcharakter mit or. 75 überein.
Auch hier findet sich einmal ein wirklicher Hiat (§ 4 ael inofiifiyr}-
axeiv). Die Kola sind auch hier kurz und leicht, längere Perioden
finden sich fast garnicht. Es ist hier noch mehr als dort der Charakter
der eigofxivi] Xi^ig ausgeprägt. An Stelle der dort beliebten drei-
gliedrigen Composition überwiegt hier, weil eine avyxQiaig den Inhalt
bildet, die zweigliedrige Antithese.
Ente und Auch die beiden ersten Reden Ttegl rvx^jg sind kyxojfÄia und
xweite Rede ^Qrden , wenn sie von Dio herrührten , in diesen Zusammenhang ge-
'hören. Ich glaube, dafs Emperius recht gethan hat, beide dem Dio ab-
zusprechen. Wenn wir vom Inhalt zunächst ganz absehen, so spricht
gegen or. 63 schon die völlige Vernachlässigung des Hiatusgesetzes. Es
giebt zwar auch von Dio Stücke, in denen der Hiat nicht gemieden
wird. Aber diese sind teils Dialoge, in denen der Hiatus legitim ist,
teils gehören sie seiner philosophischen Epoche an. Die erste Rede
rt€Qi Tt;^!;^ gehört zu derselben Redegattung wie die Stücke Tceql vofiov
und Ttegl e&ovg. Sie müfste auch, wenn sie von Dio wäre, wegen
ihres Inhalts in dieselbe Entwicklungsperiode wie jene gesetzt werden.
Wir sind also berechtigt, Beobachtung der gleichen stilistischen Grund-
sätze wie dort zu erwarten. In einem solchen Stück würde ein Rede-
künstler wie Dio auf Wohlklang und äufsere Formvollendung das
Hauptgewicht gelegt haben. Statt dessen finden wir den Verfasser von
or. 63 so gleichgültig gegen Wohlklang, dafs er den Satz schreiben
Dio als SophisL 159
konnte: noXXa 61 avrr^ exovaa XQiofxaxa iotxoxa ci(pQ(^ ^fxayfiivq)
lq)riQ(xooe tfj yQaq)fj %6 xQwna, Die Deciamation ist aber auch in-
haltlich ein untergeordnetes Machwerk, nicht nur in dem Sinne, wie
uns alle Erzeugnisse dieser sophistischen Epideiktik untergeordnet er-
scheinen, sondern durch völligen Mangel an Geist und Erflndung.
Dafs aller Erfolg und alles Erwünschte durch die %vxri zustande
kommt und mit ihr ausbleibt, wird durch trockne Aufzählung einzelner
Fälle nicht sowohl erwiesen und veranschaulicht, als immer von neuem
behauptet. Nur die hübsche Anekdote vom Gemälde des Apelles macht
hierin eine Ausnahme. Ganz müfsig ist die Aufzählung der Arbeiten
des Herakles, da nirgends der Versuch gemacht wird, die Mitwirkung
der rvxr] zu ihrem Gehngen anschaulich zu macheu. Auch was über
die Attribute der Tyche, Scheermesser , Kugel, Steuerruder, Füllhorn
gesagt wird, erhebt sich nicht über die Trivialität. Wir dürfen getrost
behaupten^ dafs Dio etwas so absolut geistloses nie gemacht haben kann.
Nicht viel besser ist or. 64. Der Eingang bis § 5 avkkdßoi ge-
hört entweder nicht dazu oder es ist ein grofses Stück ausgefallen.
Denn das Folgende enthält nicht die versprochene Verteidigung der
Tyche gegen ihre Ankläger, sondern eine Schilderung ihrer Macht.
Der Rest von § 5 an gehört zu einer in Neapel gehaltenen Rede. Nur
auf Neapel passen die Angaben des Redners in § 12 fr. Die Stadt führt
ihren Ursprung auf altische Colonisten zurück, die zunächst nach Euboia,
von dort übers Meer nach ihrem jetzigen Wohnsitz gegangen waren.
Es ist eine reiche, in fruchtbarer Gegend, nicht auf einer Insel gelegene
Stadt, gröfser als Athen, die der Redner, wenn ihm die Wahl gelassen
wäre, vor allen Städten der Welt zum Wohnsitz wählen würde. Der Hiat
ist auch hier nicht sorgfältig gemieden, am Ende des Kolon oder der
Periode häu6g zugelassen. Der Stil zeigt besondere Vorliebe für lange,
polysyndetisch oder asyndetisch verbundene Begriffs- und Kolenreihen.
Die auf diese Weise aneinandergereihten Kola pflegen alle ganz kurz
und unter einander gleichgewichtig zu sein, z. B. § 5 !doavQiovg f^ixQ^
Trjg ^agdavoTcakkov TQV(pfjg, Mrjdoig ^i^Qt rrjg Kvqov TQoq)7Jg,
niqöag f^ixQi rrjg öiaßdaewg, ^Ad^rjvalovg fiixQ'^ '^^^ akwaecag,
Kqolaov i^ixQ^ ^oXcovog. § 10 atTtj aioKei xal tov vooovvza kv
%(p rikec xal %6v vrjxoficvov iv rij d-aXaöOiß xai tov u4yaf4€^ivova
krcl twv xt^Xiojv vewv xal tov ^Oövaaia hcl r^g ax€diag (peQOfievov.
§ 14 ovT* evTiXeiav Trjv u4TTixt]v, ovt€ KgoTwva' TtivovTac yag'
ovTB 2vßaQiv OTi ov Ttovovacv , ovT€ ^xv&ag OTi ov y€ü)Qyovaiv,
ovre Alyv7t%Lovg otc aXXoig yeioQyovacv, § 18 Tovg dovXevovTag
160 Zweites Kapitel.
niQaaig xai tov iv KoQiv&oi Jiovvolov xai tiji' ^cjxQarovg xaza-
dixrjv xai Ttjv SsvoqxivTog q>vyr]v ytai rov Wegsuvdovg d'avaxov xai
ri]v dvadai/dovlav ttjv u4va^aQxov und gleich darauf: q^vydöa 0€
iTtolr^aev, eig ^Adrjvag i]yayev, iAvTia&ivec nQOv^ivrjaev, elg Kgi^tr^v
iTtojXrjoev. Id den folgenden Paragraphen bis zum Schlufs wird diese
Compositionsweise bis zum Überdrufs immer wieder verwendet. Sie
giebt dem Stil etwas einförmig Aufgeregtes. Die aufs äufserste gestei-
gerte Manier verfehlt schliefsüch ihren Zweck, den Hörer aufzustacheln,
wirkt langweilig und ermüdend. Würde und Haltung gehen ganz dabei
verloren. Wir haben es hier mit einer der stilistischen Verirrungen
zu thun, welche die atticistischen Theoretiker als „asianisch^ bekämpft
haben. Dafs Dio in so krasse Geschmacklosigkeit jemals verfallen sei,
wird der nicht wahrscheinlich finden, der den mafsvollen und discreten
Gebrauch der gorgianischen Figuren io den Declamationen 7t€Qi vo^ov
und 7t€Qi i&ovg zur Vergleichung heranzieht. Inhaltlich verbietet das
Fehlen des argumentirenden Elements an Dio zu denken. Wir wissen
aus den erhaltenen Declamationen, vor allem aus der „Trojana'^ und
der „Rhodiaca^, und aus Synesius' Schilderung des yuovwTtog irtaivog,
dafs Dio im €7tix€iQ€iv seine Stärke halte. Dies geistigere Element fehlt
in or. 64 fast ganz. Dagegen prunkt der Verfasser mit mythologischer
und geschichtlicher Gelehrsamkeit, was für Dio wiederum nicht pafst.
Vielleicht würde die Untersuchung der Sprache noch weitere Anstöfse
ergeben. Aber das Gesagte genügt wohl, um die Echtheit der Decla-
mation als unwahrscheinlich zu erweisen,
vergiei- Zu den Lieblingsformen der sophistischen Rhetorik gehört auch die
drei" Phiiok- ^^^^^*^'^' '™ iyy-ojfuov gilt CS alle rühmenswerten Eigenschaften des
tele. Gegenstandes aufzufinden und ins beste Licht zu setzen. In der avy-
xQiatg werden die Vorzüge zweier Gegenstände gegen einander abge>
wogen. Diese namentlich unter Plutarchs Schriften mehrfach vertretene
Gattung können wir auch aus Dio belegen. Wie Plutarch eine ^vy-
XQiatg !dQiaTO(pavovg ymI MevavdQOv geschrieben hat, von der ein
Auszug erhalten ist, so Dio die der drei Philoktete (or. 52). Mit der Ver-
gleichung littcrarischer Persönlichkeiten oder Werke betritt der Sophist
ein fremdes Gebiet. Denn es giebt in dieser Zeit besondere Fachmänner
für das Fach der ästhetischen Kritik, die sich xgiTixoi nennen. Herodes
Atticus halte besondere Lehrer für dieses Fach. Bei Theagenes von Rnldos
und bei Munatios von Tralles hörte er zovg xQcrixovg xciv Xoycnv,'^)
1) Philostr. Vit. soph. II 1, 14.
Dio als Sophist. 161
Ursprünglich als höchste Leistung zum Beruf des Grammatikers gehörig,
hatte sich die nglaig allmählich losgelöst und verselbständigt.
Aber auch der Rhetor konnte, seit die filfÄrjaig ein Bestandteil des
rhetorischen Lehrsystems geworden war, nicht umhin, sich mit den
yiQiTLxol XoyoL zu beschäftigen. Er mufsLe die stilistischen Vorzüge
und Mängel nicht nur der Redner und der übrigen Prosaiker, sondern
auch der Dichter kennen, um zu wissen, worin jeder einzelne nach-
ahmenswert sei und worin nicht. Diese Beziehung der an Dichtern
geübten ästhetischen Kritik auf die praktischen Zwecke des Redners ist
auch in Dios Vergleichung der drei Philoktele deutlich erkennbar, ob-
gleich sie nicht im Vordergrunde steht. Was der x^irtxo^ als Specialität
betreibt, ist darum nicht minder ein Bestandteil des sophistischen Ideals.
Die Vergleichung der drei Philoktete ist nicht, wie Tceql koyov
aGyLTjaecog, eine für Studirende der Rhetorik bestimmte Lehrschrift, son-
dern, wie schon die Einkleidung beweist, ein epideiktischer Vortrag.
. Die Einleitung, in der der Verfasser von seiner Krankheit redet und
seinen Tageslauf schildert, wäre in einer ursprünglich zum Lesen be-
stimmten litterarischen Publicalion unbegreiflich und zweckwidrig. Nur
wo ein Interesse des Publicums für die Person des Autors schon vor-
handen ist, für den Gegenstand erst geweckt werden soll, ist es zweck-
mäfsig, zunächst von sich selbst zu reden. Das ist aber nur beim
mündlichen Vortrag der Fall. Diese Einleitung ist der sophistischen
nqoXaXLa verwandt, die sich in der Regel irgendwie auf die Person
des Redenden bezieht. Dio konnte so nur anheben, wenn das Thema
seines Vortrags weder von anderer Seite ihm gestellt noch den Hörern
vorher angekündigt war.
Es ist ferner klar, dafs ein solcher Vortrag nicht für ein grofses
Publicum bestimmt war. Er konnte nur verstanden und gewürdigt
werden von einer litterarisch feingebildeten Gesellschaft, der die drei
Tragödien bis in die Einzelheiten bekannt waren. Ästhetische Erörte-
rungen müssen stets Bekanntschaft mit dem besprochenen Kunstwerk bei
dem Hörer oder Leser voraussetzen. Auch die stilistische Form zeigt,
dafs der Redner sich an einen kleinen Hörerkreis wendet. Es ist die
Form der Plauderei, der zwanglosen Mitteilung. Wo es gilt ein weites
Volksgetose durch die Macht der Rede zu beherrschen, ist nach antiken
Begriffen der Gebrauch rhetorischer Kunstmittel unerläfslich. Vor einer
kleineren, dem Redner persönlich näher stehenden Zuhörerschaft kann
auf den rednerischen Apparat verzichtet werden. In der „Vergleichung
der Philoktele" ist der Hiatus in erheblrchem Umfange zugelassen. Aus-
T. Arnim, Dio. \\
162 Zweites Kapitel.
drock und Satzbau strebeD nicht nach rednerischem Effect. Sie spiegeln
in ihrer Einfachheit nnd Ruhe die behagliche StioHnuDg des Redners
bei seiner genufsreichen LectUre wieder. — Der Redner ist krank.
Wenn er in der LectUre der Tragiker ein neues Mittel begrUfst, sich
ttber die Krankheitszeit hinwegzutäuschen/) so hört man heraus, dafe
er durch die Krankheit an seiner gewohnten Lebensweise gehindert ist.
Er ist Reconvalescent und mufs seine Zeit zwischen hygienischen Cbungen
and Ruhe teilen. Da ist er gewifs nicht vor einer grofsen Versammlung
aufgetreten, sondern höchstens vor einem Kreise von Freunden. Der
Bericht ttber seinen Tageslauf, mit dem er anhebt, ist am leichtesten
verstflndlich, wenn er etwa als Gast im Hause eines vornehmen Gönners
weilte. Natürlich erwartete man da von ihm, dafs er durch sein Talent
* zur Unterhaltung der übrigen Gäste beitrage. Längere Zeit durch Krank-
heit daran verhindert, führt er sich hier, als noch nicht völlig Genesener,
auf die ungezwungenste Weise mit einem Bericht über den heutigen
Tag ein, den Tag eines Reconvalescenten, der aber doch Früchte der
Mufse gezeitigt hat, von denen er den Freunden eine Probe geben kann.
So scheint mir der zunächst befremdliche Eingang die natürlichste Deu-
tung zu finden. Das Gespann, mit dem der Redner seine Lustfahrt im
Circus unternimmt und dessen ruhige, gleichmäfsige Gangart er lobt,
ist nicht sein eigenes, sondern von seinem Wirt ihm zur Verfügung
gestellt. Weil er ein freundliches Interesse an seinem Gesundheitszu-
stand bei den Hörern voraussetzen darf, erwähnt er sein (wohl ärztlich
empfohlenes) Frühaufstehen, verweilt bei der Spazierfahrt und der tt^^i-
TvaTTjGig und gelangt durch Schläfchen, Bad, Imbifs endlich zur Nach-
mittagslectüre, über die er sich ausführlich verbreiten will.
Der Inhalt des Vortrags ist so allgemein bekannt, dafs es unnötig
wäre, lange dabei zu verweilen. Aber wichtig ist es, ihn als Erzeugnis
der sophistischen Periode Dios zu erweisen. Gelingt dies, so ist damit
für die Biographie ein neues wertvolles Moment gewonnen, da er mehr
als die bisher besprochenen Stücke die eigne Gesinnung des Verfassers
offenbart.
In dem ganzen Vortrag ist nirgends eine Andeutung zu finden, dafs
der Redner Philosoph ist oder als Philosoph gelten will. Er zeigt ein
feines Verständnis und eine warme Bewunderung für die drei grofsen
Tragiker. Der spätere Dio, der alle Dinge vom moralischen Gesichts-
l) § 3 i^aif'öttTjv iuavrcp ndvv tQvfpav xai rijs &ad'£te(a£ naL^aftvd'lav
r.airT}v iy^eiv.
Dio als SophisL 163
punkt betrachtet, wäre zu so uobefangeoer WUrdiguDg der dicbterischeo
Schöoheit gamicbt im Stande gewesen. Er würde damit gegen seine
Berufsprincipien zu verstofsen gefürchtet haben. Später sind ihm die
Dichter nur noch die Wortführer der gewöhnlichen, unphiiosophischen
Lebensanschauung, deren Aussprüche er bald bekämpft, bald willkürlich
umdeutet, bis sie zu seinem Schuldogma zu stimmen scheinen. Wenn
er damals den Preisrichter gespielt hätte, so würde er unwillkürlich den
moralischen Mafsstab anstatt des künstlerischen angelegt haben. Aus
der Beurteilung des euripideiscben Stücks hört man deutlich den Rhetor
heraus. Der grofse Nutzen, den es nach § 10 jedem Leser zu gewähren
vermag, ist ein Nutzen für die rhetorisch - poHtische Bildung im Sinne
der Sophistik. Der spätere Dio würde niemals schlechtweg die Nütz-
lichkeit solcher Leetüre zugegeben haben. Auch die Anerkennung der
TtQog aQeTrjv naQaxkrjaig in den euripideiscben Chorliedern klingt
nicht nach einem philosophischen Verfasser. Will man sich den Ab-
stand vergegenwärtigen, der Dios späteres Verhältnis zur Dichtung von
dem in unserm Stück vorwaltenden trennt, so vergleiche man die in
der Sammlung folgende Rede n€Qi ^OfirJQov (or. 53) und beachte, wie
hier trotz aller begeisterten Anerkennung der dichterischen Schönheit
die Nützlichkeit im Sinne der Moralisten den entscheidenden Gesichts-
punkt der Beurteilung bildet.
Ich halte für sicher, dafs die „Vergleichung der Philoktete^ in
Dios Frübzeit gehört und dafs wir berechtigt sind, auch das Persönliche,
das sie enthält, für diese Zeit zu verwerten. Obgleich Dio jeden der
drei Tragiker in seiner Art unübertrefTlich Ondet, ist seine persönliche
Vorliebe für Aischylos nicht zu verkennen. Den Euripides lobt er
wegen seiner „Nützlichkeit", aber Aischylos gefüllt ihm. Wenn er den
archaischen Charakter der aischyleischen Poösie rühmt, das Hochgemute
und Stolze in Gedanken und Sprache, die heroische Simplicität der
Charaktere, die bei aller Einfachheit treffende und zureichende Motivi-
rung, so fühlt man, dafs ihn diese Poösie erwärmt und erhoben hat
Diesem Kunstgeschmack, der von der allgemeinen Klassikerverehrung
der Zeit wohl zu unterscheiden ist, liegt ein ethisches Gefühl zugrunde,
die Unzufriedenheit mit den sittlichen Zuständen der Gegenwart und
der Glaube an die „gute, alte Zeit" als eine menschlich und sittlich
wertvollere. Gerade weil Euripides, selbst in sophistischer Bildung
wurzelnd, dem . Verfasser und seinem Bildungszuschnitt am nächsten
steht, ist er ihm unter den drei Tragikern der am wenigsten anziehende.
Auch im sophokleischen Philoktet zieht ihn die edle ankorrjg des Neo-
11*
164 Zweites Kapitel.
ptolemos am meisten an. Im Aischylos offenbart sich ihm am reinsten
eine von der Gegenwart grundverschiedene Cultur, die durch Wahrheit
und Gröfse aufwiegt, was ihr an freier Beweglichkeit noch abgeht.
Diese Empfindung ist es, in der die ganze Entwicklung Dios zum
Moral Philosophen wurzelt Er hatte sie, als er die ^Vergleichung der
drei Philoktete^ verfafste, noch nicht zum beherrschenden Princip seiner
Lebensanschauung gemacht. Sonst hätte er als Preisrichter anders ge-
urteilt, hätte dem Aischylos die Palme zugesprochen und die Nützlich-
keit der EuripideslectUre nicht ohne Vorbehalt anerkannt. Darin beruht
die Bedeutung dieses Stückes für das Verständnis von Dios Entwicklung.
Schon als er noch ganz mit dem Strom der sophistischen Zeitbildung
schwamm, hat er für das, was seiner Zeit fehlte, ein lebendiges Gefühl
gehabt. Aber erst allmählich ist er dahin gekommen, in der Philosophie
das Heilmittel zu erblicken.
Paraphrase Bekanntlich ist in der dionischen Schriflensammlung noch ein
''deischeii' ^^^^^res Stück enthalten, das von der Beschäftigung des Autors mit dem
Phiioktat- euripideischen Philoktet Zeugnis ablegt: die Paraphrase des Prologs und
pro ogi. gjijgp weiteren Scene dieser Tragödie (or. LIX). Da auch in der „Ver-
gleichung^ der Prolog hauptsächlich, ja fast ausschliefslich besprochen
wird, dürfen wir annehmen, dafs beide Stücke in ihrer Entstehung zu-
sammenhängen und derselben Zeit angeboren. Die Paraphrase hält sich
bekanntlich nicht in allen Einzelheiten genau an das Original. Dafs
Diomedes den Odysseus nach Lemnos begleitet, mufste in dem euripi-
deischen Prolog vorkommen. Auch konnte in der Tragödie das Zusam-
mentreffen des Odysseus mit Philoktet sich nicht unmittelbar an die
Prologrede anschliefsen. Der Dialog ist dem auf die Parodos folgenden
Epeisodion entnommen. Diese Abweichungen beweisen, dafs es dem
Paraphrasten nicht nur darauf ankam, von der kunstgerechten Verwand-
lung des dichterischen Stils in den Prosastil ein Musterbeispiel zu geben.
Die Paraphrase sollte ein selbständiges, einheitliches Ganze bilden. Giebt
man diesen Schlufs zu, so kann man auch die weitere Folgerung nicht
abweisen, dafs die Paraphrase nach der Absicht Dios nicht an dem
Punkte abbrechen konnte, wo sie in der Oberlieferung abbricht. Hätte
er keine weitere Scene folgen zu lassen beabsichtigt, so würde er in
der Prologrede aufser der Erwähnung des Diomedes auch die der troi-
sehen Gesandtschaft getilgt haben. Wenn er sie stehen liefs, so zeigt
dies, dafs er die Absicht hatte, auch den berühmten aycjv koycov zwischen
Odysseus und dem Führer der troischen Gesandtschaft wiederzugeben.
Gerade diese rhetorisch hochberühmte Partie wird den Rhetor zur
Dio als Sophist. 165
Nachbildung gereizt haben. Auf diese Weise konnte die Paraphrase zu
einem in sich geschlossenen, für epideiktischen Vortrag geeigneten
Ganzen abgerundet werden. Auch weiterhin folgte der Paraphrast nicht
sclavisch dem Gang der Tragödie, sondern hob nur dasjenige heraus,
was für seinen Zweck nötig war, und verband es zu einem neuen
Ganzen. Wenigstens mufs dies der Plan der Arbeit gewesen sein. Ob
sie wirklich zu Ende geführt wurde, können wir natürlich nicht wissen.
Es ist wohl denkbar, dafs die Bruchstück gebUebene Arbeit nach Dios
Tode an die ÖfTentiichkeit gelangte. Es ist auch denkbar, dafs sie, wie
so manches andere Erzeugnis Dios, vom Autor vollendet, aber vom
Herausgeber nicht vollständig aufgenommen wurde. Nur durch diese
Hypothese kann ich mir die Beschaffenheit des erhaltenen Stückes ver-
ständlich machen. Man kommt eben um die Alternative nicht herum:
entweder ist es nur ein Schulbeispiel der Stilwandlung; dann lag kein
Grund vor, den Diomedes wegzulassen; oder es ist zu epideiktischem
Vortrag bestimmt gewesen; dann konnte es nicht da abbrechen, wo
das erhaltene abbricht. Dann lag auch die Leistung, in der der Rhetor
seine Kunst bewähren wollte, nicht nur in der Paraphrase selbst, son-
dern ebenso sehr in der Auswahl und Verbindung der paraphrasirten
Abschnitte des Originals.
Eine Paraphrase scheint auch das in der Sammlung unmittelbar ^x«jli«i$e.
voraufgehende Stück, der j^;(£A>l€tg (or. LVHI), zu sein. Dafs Dio die
anmutige Scene selbst gedichtet habe, ist unwahrscheinlich. Eine ver-
steckte moralphilosophische Tendenz in ihr zu wittern^ geht nicht an.
Wenn überhaupt eine Tendenz darin ist, so ist es sicherlich keine
moraipbilosophische. Der junge Achilieus, der sich weigert, bei Cheiron
Bogenschiefsen zu lernen, weil es keine ritlerhche Kunst sei, ist der
Typus eines hochfahrenden Junkers, der an mittelalterlichen Idealen,
die ihm im Blute liegen, eigensinnig festhält, den Fortschritten moderner
Civilisation einen kindisch ohnmächtigen Widerstand leistet Darum
wird er, wie der erzürnte Cheiron ihm prophezeit, mit seiner altfränki-
schen Schwärmerei für den Nahkampf des Hopliten im modernen Kriegs-
wesen nie die führende Rolle spielen können, auf die er durch seine
vornehme Geburt Anspruch zu haben glaubt, und wird zugulerlelzt selbst
vom Pfeil des Bogenschützen sterben. Das ist sicherlich zu Dios Zeiten
kein Problem von actueller Bedeutung gewesen. Er kann also die Scene
nicht selbst gedichtet haben, weder zur Ergölzung seiner Zuhörer, noch
zur Darstellung einer ethischen Tendenz. Wohl aber wissen wir durch den
ipoyog und enaivog to^otov im Herakles des Euripidrs (v. 157 — 164.
166 Zweites Kapitel.
188—203), dafs als der Dichter dieses Stück schrieb, die Frage nach
dem Wert der Schützencorps in Athen lebhaft erörtert wurde. Die
Gründe, mit denen der Streit geführt wird, sind dort im wesentlichen
die gleichen wie hier. Z. ß. v. 199 %vq>l.olg oQÜprag ovzaaag ro^ev^
fiaaiv berührt sich nah mit den dionischen Schlufsworten : anod'avfj
Ohdk iöutv avTov, In diese Zeit möchte man das Original setzen, das
Dio paraphrasirt. Es mufs ein Satyrspiel gewesen sein und es liegt
nahe an d\^ ItixiXXiwg Igaazal des Sophokles zu denken. Auch bei
Dio ist Cheiron iQaarrjg des Achilleus ; und der Vers 6 d' IV^' OTtXoig
a^^cj^iv ^Hq>alaxov tixrjfi könnte wohl in einer Erörterung über den
vergleichsweisen Wert verschiedener Waffengattungen vorgekommen sein.
Ich habe natürlich auch an die kynische Tragödie gedacht. Unter den
angeblichen Tragödien des Diogenes befand sich in der That em^x^^'
kevg. Der Spott über die Schändung der Leiche Hektors trägt kyni-
sches Gepräge, auch Cheirons Frage: diaq>iQ€i olv %l ßaaikeveiv fj
naiöeveiv; stimmt zu der kynischen Auffassung des Königtums. Aber
der Kyniker würde sich schwerlich für die Kunst des Bogenschiefsens
erwärmt haben.
rojanaund Nachdem die kleineren Werke aus Dios sophistischer Epoche, die
v^eriie^'de^ ^'^^ unter einander nicht chronologisch ordnen lassen, besprochen sind,
•ophisii- bleiben noch ihre zwei Hauptvertreter in der erhaltenen Sammlung übrig,
Periode ^^^ troische (or. 11) und die rhodische Rede (or. 31). Beide stammen,
wie ich beweisen werde, aus der Zeit vor Dios Bekehrung. Die troische
Rede prägt den Typus der sophistischen Epideixis rein aus, während
die rhodische unverkennbar zwischen der sophistischen und der moral-
philosophischen Epideixis in der Mitte steht.
iieTrojano. Dafs jemals Leser der troischen Rede naiv genug sein würden,
das Ganze für bitteren Ernst und von aufrichtiger Überzeugung getragene
geschichtliche Kritik zu hallen, hat sich Dio offenbar nicht träumen
lassen. Natürlich bedient er sich der Maske unbeirrter Wahrheitsliebe.
Das gehört zur Kunstform. Der Wahrheit will er zum Siege verhelfen
und zugleich die Göttinnen des Parisurteils von dem Schimpf entlasten,
den die allgemein geglaubte Sagenform ihnen anhängt. Sollte das wirklich
Dios Motiv gewesen sein? Ich meine, kein antiker Hörer und Leser konnte
zweifeln, dafs es dem Verfasser lediglich um Darstellung seines eigenen
rednerischen Könnens und Unterhaltung des Publicums zu thun war.
Die sophistische Kunst %6v tJttu} Xoyov xgeltzta nouiv begegnet
uns hier in einer neuen Spielart. Gegenstand der Widerlegung ist
diesmal eine poetisch-mythische Überlieferung. Die von jeher geglaubte
Dio als Sophist. 167
Geschichte soll durch die Allgewalt des koyog auf deo Kopf gestellt
werden. Die homerische Darstellung hat seit vielen Jahrhunderten mit
unwiderstehlicher Macht die Gemüter beherrscht und die Cberheferung
der Sage bestimmt« Der Sophist nimmt mit dem Dichter den Kampf
auf. Er will zeigen, dafs seine Macht über die Geister noch stärker ist.
Aus dem Homer selbst erweist er die Unglaubwürdigkeit der homeri-
schen Erzählung; und nicht zufrieden mit diesem negativen Ergebnis,
setzt er eine positive neue Überlieferung an die Stelle der alten. Von
einem ägyptischen Priester in Memphis, der sich auf uralte Stein-
urkunden berief, will er den wirklichen Verlauf der Begebenheiten er-
fahren haben. Schon diese, auch für den antiken Hörer durchsichtige
Fiction zeigt, dafs die Rede der Unterhaltungslitteratur angehört. Seit
dem dritten Jahrhundert v. Chr. waren diese Fictionen zu einem ständigen
Kunstmittel der Romanlitteratur geworden. Euhemeros mit seiner 7e^a
ldvayQaq>ri^ Dionysios Skytobrachion mit seinem Argonautenroman und
seiner trojanischen Geschichte bieten nahe liegende Parallelen. Nicht
lange vor der dionischen Rede war vermutlich das griechische Original
des Dictysromans zum Vorschein gekommen. Der Verdacht betrügerischer
Absicht, der beim Dictys nach der Analogie anderer „ausgegrabener
Bücher^^ nahe liegt, ist bei Dio ganz ausgeschlossen. Dio rechnet da-
rauf, dafs seine Hörer die für pragmatisirende Umdichtung mythischer
Überlieferungen herkömmhche Form ohne weiteres erkennen. Indem
er zwei Formen sophistischer Darstellung, Argumentation und Erzählung,
zu einem Ganzen verbindet, entfaltet er nach zwei Seiten sein sophis-
tisches Können. Beschränkte er sich auf Widerlegung der homerischen
Erzählung und argumentirende Entwicklung des wirklich Geschehenen, so
könnte man die Rede eher für einen ernstgemeinten Versuch rationa-
listischer Sagenkritik halten. Die ZuhUlfenahme romanhafter Einkleidung
macht diese Auffassung unmöglich.
Dafs Dio ein solches Prunkstück sophistischer Sagenbehandlung
nur in, seiner Frühzeit verfassen konnte, wird aus der Betrachtung
seiner späteren Ansichten und Grundsätze deutlich werden. Verfehlt
wäre es, ein solches Erzeugnis mit kynischen Bestrebungen in Verbindung
zu bringen, um seine Abfassung in Dios kynisirender Epoche wahr-
scheinlich zu machen. Die Kyniker haben sich mit dem Homer in
mannichfacher, aber niemals in dieser Weise beschäftigt. Von Anti-
sthenes stammt die später von Zenon fortgesetzte allegorische Inter-
pretationsmethode, die von der Voraussetzung höchster Vollkommenheit
Homers ausgehend die Anstöfse und Widersprüche durch die Annahme
168 Zweites Kapitel.
zu heben sucht Sri ra fikv ^oSt], ta dh aXr^&elif eiQrjTai %(^ noirjT^.
Zoilos, der Schüler des Haupthundes Diogeoes, hat eiue feindselige Hal-
tung gegen den Dichter beobachtet, während ein anderer Schüler des
Diogenes, Menandros 6 iuixakov/Äevog jQVfxog als d'avfiaav^g ^Ofii^QOv
bezeichnet wird. Jedenfalls mufs die kynische Polemik gegen Homer
anderer Art gewesen sein als die der dionischen Rede. Sie mufs sich
gegen theologische und ethische AnstOfsigkeiten in der homerischen Er-
zählung gerichtet haben. Nun erwähnt ja freilich auch Dio Homers
lügenhafte Darstellung der Gotterwelt, aber nur ganz nebensächlich.
Die bekannten AngrifTe eines Xenophanes, Herakleitos, Piaton gegen die
homerische Theologie verwendet er, um die Unglaubwürdigkeit Homers
im allgemeinen darzuthun. Sein eigentliches Thema bilden die Un-
wahrscheinhchkeiten der homerischen Erzählung, nicht ihre VerstOfse
gegen Gotterlehre und Sittlichkeit. Der Versuch, die homerische Sagen-
version auf Grund von Kritik und angeblicher Oberlieferung umzubilden,
würde nur dann in den Rahmen kynischer Schriftstellerei hineinpassen,
wenn die Umbildung selbst ein tendenziös kynisches Gepräge trüge.
Dies ist bei Dio offenbar nicht der Fall. Überdies besitzen wir ja io
der dionischen Sammlung mehrere Beispiele kynischer Homerstudien,
die uns ihren Unterschied von den sophistischen anschaulich machen,
vor allem die Xgvarjtg (or. 61). Auch die kritische Umbildung einer
dichterischen Sagenversion ist durch ein Beispiel vertreten : or. 60. Es
thut nichts zur Sache, dafs hier statt Homer Sophokles und Archilochos
die Umbildung erleiden. Es genügt zur Verdeutlichung des Unterschiedes,
dafs die Umbildung im Sinne der kynischen Ethik vorgenommen wird.
Dasselbe Verfahren der Sagenbebandlung wird das eine Mal sophistisch
zu epideiktischem Zweck, das andere Mal philosophisch zu dogmatischem
Lehrzweck benutzt. Das Verfahren ist Gemeingut des Sophisten und des
Philosophen; nur Art und Zweck der Benutzung unterscheiden den einen
vom andern.
Aus den beiden Stellen der Rede, die in ungünstigem Sinne von
Sophisten reden (§ 6 und § 14) darf nicht geschlossen werden, dafs
der Verfasser selbst, als er so redete, nicht zu den Sophisten gehörte.
Auch Isokrates polemisirt gegen die Sophisten, zu denen er doch selbst
gehört. Es kommt hinzu, dafs die Erwähnung der Sophisten in 4 6,
die besonders feindselig klingt, höchst wahrscheinhch interpolirt ist!^
1) §6 TiQoXiyuf Sk {fjLttp Sn rovs Xöyovi rovrovs Avdyxrj xai naf) irioocs
^(/dijiai xai Tiollois Ttv&ia&at' Toürofr bä ol ttiv rtreG od aviTJoovaii' , ol (Vi
Dio als Sophist. 169
Die Worte sind ao der Stelle, wo sie überliefert sind, grammatisch an-
stofsig, da man statt des Accusativ den Nominativ erwartet, olfiai pflegt
in diesem Sinne parenthetisch ohne Einflufs auf die Satzconstruction
eingeschoben zu werden. Die Fortlassung 'des Pradicatsinfinitivs, der
aus dem voraufgehenden Satze ergänzt werden müfste, ist dem rheto-
rischen Stil nicht angemessen. Es geht aber auch nicht an, durch
Umstellung zu helfen, indem man die Worte hinter nv^ia&ai einschiebt.
Überhaupt ist die Erwähnung der Sophisten hier überflüssig und stOrend,
weil die Aufnahme der Rede von Seiten des Publicums, in llion und
an andern Orten, besprochen wird. Der Gedanke ist: „anderwärts werde
ich gewifs kein Glück mit meiner Rede machen, aber leider kann ich
mir auch bei euch keinen grofsen Erfolg versprechen '^ Dieser einfache
Gegensatz würde verschoben durch die Erwähnung der Sophisten, die
ja in llion so gut wie anderwärts vertreten waren. — Die Stelle in
$ 14 0 ^^^t^ such nicht beweisen, dafs der Redner selbst nicht mehr
zu den Sophisten gehörte. Dio sagt hier: „es ist mir sehr gleicbgühig,
wenn einige Schulmeister in ihren Auditorien gegen mich declamiren
und mich ihren Schülern als Frevler gegen die Majestät Homers denun-
ziren^^ Die Erwähnung der dvoxriva fÄeiQcixia zeigt, dafs er hier vor-
wiegend an die Inhaber von Rhetorenschulen denkt. Wenn er von
diesen verächtlich spricht, so liegt darin nicht, dafs er selbst kein So-
phist war, sondern nur dafs er keine Schule hielt.
Irgendwelche Momente, die eine genauere Zeitbestimmung ermög-
lichten, enthält die Rede nicht. Es mufs uns vorläuGg genügen, sie
als rein sophistisches Erzeugnis zu erkennen. Das Selbstgefühl, mit
dem der Redner auftritt, zeigt wohl, dafs er nicht mehr Anfänger ist. —
Der Hiat ist mit gröfserer Freiheit zugelassen, als in den Declamationen
7C€Qi vo^ov und nagl e^ovg. Fast auf jeder Seile Qnden sich mehrere
schwere Hiate. Trotzdem glaube ich , dafs es eine wirkliche Rede ist,
die zuerst in llion gehalten, später an anderen Orten wiederholt wurde.
Zunächst ist es nach allem was wir von dem Charakter dieser sophisti-
schen Epideiktik wissen, immer das nächstliegende und natürlichste, was
sich der Form nach als Gelegenheitsrede giebt, auch als solche hinzu-
Ti^oonoi^aarrai xara^povetr, oi xara^poroCfTse avr&Vy ol 8i rtves im^eiQrj-
aovair iieJdyieiv, [udXiora Sk oluai rots xaxoSa/uo^'ae ao^tOTde*] iycb Sh ini-
orauat aaif&s ön oiSk ^fiXv Tipde ijdovT^v ioovrai.
1) § 14 &XX dfioae lÖTii^ rrjXtxoi&Teov övroe ro€ Xöyov rivks rdh/ oofpioroäv
Aoeßätv UB ^aovoiv *Oitfjp(p dvnXiyovra xcu i7n%ei^rjaovai Staß&XXsiv n^ÖQ rä
S^OTfjva ftgt^dMiOf div iftoi iXdmov Xöyoe iarlv ^ TiiO^xtov.
170 Zweites Kapilel.
D«hmen. Das Gegenteil mufs m jedem Fall erwieseo werden. DeoB
auf das persöoliche Auftreten legt der Sophist das grttfste Gewicht. Die
oben mitgeteilte Stelle: Sti tovq Xoyovg tovtovq ivayxi] xal naq
kxiQOig ^rjd^vac xai TCoXkovg nvd'ia^ai ist eine Ankündigung des
Redners, dafs er seinen Vortrag in anderen Städten wiederholen will.
Dafs er diese Absicht ausgeführt hat, davon hat vielleicht die Über-
lieferung noch eine Spur bewahrt. Ein Abschnitt der Rede (§ 22 — 24)
ist in den Handschriften in doppelter Fassung erhalten. Ich habe in
meiner Ausgabe diese Abschnitte in Columnen nebeneinander gedruckt,
um ihre genaue Entsprechung zu veranschaulichen und ihre Gleichbe-
rechtigung zum Ausdruck zu bringen. Der Gedanke an spätere Inter-
polation scheint ausgeschlossen. Es liegt kein Grund vor, an dem
dionischen Ursprung beider Abschnitte zu zweifeln. Vergleicht man sie
im einzelnen, so zeigt sich, dafs mit wörtlich übereinstimmenden Sätzen
solche abwechseln, die den genau gleichen Gedanken in Worten und
Satzbau modificiren, und dafs aufserdem der zweite der beiden Parallel-
abscbttitte ein p>aar unerhebliche Erweiterungen enthält, denen nichts
entsprechendes aus dem ersten gegenüber gestellt werden kann: die
Vergleichung Homers mit einem Dolmetscher gleich am Anfang und die
Bemerkung über das (liiXv. Ferner enthält der Abschnitt b zwei Sätze,
die an falscher Stelle in den Text eingeschachtelt sind, unter sich aber
im Verhältnis von Dubletten stehen. Ich meine die Worte xal jcork
^kv aioXl^ovta rtoxl di öwglCoyra Ttakiv ök Id^ovia öiakiyead-ai
und die folgenden von Wiiamowitz athetirten : xa&d7t€Q olfxai d^BTzaXi-
tovxa Tj xQtjrl^ovtaj olovel rijv ayogav ixalei kifxiva, QetraXüßv
dxovaag. Es ist klar, dafs diese beiden Satzglieder nicht auf die Worte
akkd xal TOlg dai^ovloig XQV^^^*^ ovofxaaiv folgen konnten, die als
positiver Ausdruck des Hauptgedankens den Schlufs der Periode bilden
mufsten, sondern sich anschliefsen sollten an die Worte: fii] fiovov vag
zdv ^EkXrjvwv q>cjvag ^Lyvieiv, die sie durch Beispiele erläutern. Es
ist ferner klar, dafs diese beiden Satzglieder sich unter einander aus-
schliefsen.
Das geschilderte Verhältnis scheint mir durch folgende Annahme
am einfachsten erklärt werden zu können. Der Herausgeber und Re-
dactor, der den Text so zurechtgemacht hat, wie wir ihn in den Hand-
schriften lesen, benutzte mehrere Textquellen; wo diese von einander
abwichen, konnte er entweder einer den Vorzug geben, oder die ab-
weichenden Abschnitte neben einander stellen. Das letzlere hat er in
unserm Falle gethan. Aber weit entfernt bestimmte textkritische Grund-
Dio als Sopbist 171
Sätze zu befolgen, hat er diese gewissenhafte Sorgfalt alsbald wieder
aufgegeben, und ist in) Verfolg der Arbeit immer nur einer der Text-
quellen gefolgt. Die beiden Satzglieder, die in Fassung b an falscher
Stelle eingesehachtelt sind, waren wohl ursprünglich am Rande beige-
schrieben; der Abschnitt b selbst kann entweder auch ursprünglich am
Rande gestanden haben oder er stand im Texte selbst, durch irgend-
welche Lesezeichen als Dublette des vorausgehenden Parallelahschnittes
gekennzeichnet. Wenn ursprünglich alle Dubletten am Rande standen,
so könnten sie in der Originalausgabe in gröfserer Anzahl vorhanden
gewesen und erst in den Apographa fortgeblieben sein. Während diese
Annahme den Befund einfach und mühelos erklärt, kann man von der
Interpolationshypothese nicht das gleiche behaupten. Ein Interpolator
könnte hinzufügen, was er vermifst, ändern, was ihm unverständlich
oder mifsfcillig ist. Aber schwerlich würde er einen längeren Abschnitt
am Rande, teils umgebildet^ teils in wörtlicher Wiedergabe wiederholen.
Den Ausschlag giebt für die von mir empfohlene Hypothese, dafs ähn-
liche Erscheinungen, die uns in andern dionischen Werken begegnen
werden, ebenfalls nur durch Annahme mehrerer von dem Herausgeber
benutzter Textquelien erklärt werden können.
Es erhebt sich hier zum ersten Mal eine für die Beurteilung der ErkUruog
dionischen Werke höchst bedeutungsvolle Frage, die Frage, wie das^^" ^n^lT'
Vorhandensein mehrerer im Wortlaut abweichender Rephken der gleichen nitchen
Werke, das wir aus gewissen Spuren in der Oberlieferung erschliefsen, ^•'*''•"•
zu erklären ist und welche Schlüsse auf die Hervorbringungsart des
Autors es gestattet.
Wie schon angedeutet, finde ich den Erklärungsgrund dieser merk- wiederhol-
würdigen Erscheinung in der Gewohnheit mancher reisender Sophisten, d^p^Jeibeif
eine und dieselbe Rede an verschiedenen Orten zu wiederholen. Dafs Bede.
auch Dio diese Gewohnheit hatte, wird weiter unten an mehreren Bei-
spielen gezeigt werden. In der „Trojana'^ kündigt er ausdrücklich
wiederholten Vortrag der Rede in andern Städten an. Denn die Worte
OTL Tovg Xoyovg tovrovg avdyxrj xal Tcctg^ Irigoig ^d'^vai xal
TCoXXovg Ttvd'iad-ai können nicht von blofser litterarischer Verbreftung
▼erstanden werden, ^rjd-rjvai deutet auf mündlichen Vortrag. Es kann
dabei nicht an Recitation des publicirten Werkes durch andere gedacht
werden. Eine solche Recitation würde de scripta erfolgen; es würde
eine avayvwaig sein, ^rj&^vac pafst nur auf den freien Vortrag der
Rede durch den Redner selbst.
172 Zweites Kapitel.
Die tophi- Diese Gewohnheit, die gleichen Reden mehrfach und an verschie-
*dairit und *^^°^° Orten zum Vortrag zu bringen, hat zur Voraussetzung, dafs sie
ihre rutera- nicht sogieich nach dem ersten Vortrag vom Verfasser publicirt wurden,
n M-l^.f » E^inc ^^^ Publicum durch Leetüre bereits bekannte Rede würde bei
l'UDlieatlon.
erneutem Vortrag nicht mehr die erforderliche Wirkung hervorgebracht
haben. Wir erkennen hier deutlich, dafs für die sophistische Epideixis
die buchhändlerische Verbreitung nur eine secundäre Bedeutung hat.
Eine solche Epideixis hat, streng genommen, ihren Zweck erfüllt, wenn
sie dem Redner einen Augenblickstriumph bereitet bat. In sehr vielen
Fällen hatte es damit sein Bewenden und eine nachträgliche Publication
erfolgte überhaupt nicht. In andern Fällen erfolgte sie wenigstens er-
heblich später, nachdem der Sophist seine Tournee durch die Stätten
griechischer Bildung beendet hatte. Es liegt in der Natur der Sache,
dafs namentlich solche Vorträge, die der Redner ganz oder teilweise
improvisirt hatte, in der Regel auf litterariscbe Verbreitung verzichteten.
Die Improvisation hat den Vorzug, dafs sie unmittelbar aus der leben-
digen Persönlichkeit des Redners zu fliefsen scheint. Der Hörer kann
die schaffende Thätigkeit, die sich in seiner Gegenwart vollzieht, und
den mit ihr verbundenen Aufschwung der Seele sympathetisch mit-
empGnden. Dadurch wird auch er erwärmt, die verständige Kritik
zurückgedrängt. Unmöglich hingegen ist es, in einer Improvisation
diejenige gleichmäfsige Sauberkeit des Inhalts und der Form zu er-
reichen, die dem in aller Ruhe nachprüfenden Leser nirgends eine
Blöfse darbietet. Derselbe Vortrag, der die Hörer zu stürmischem Bei-
fall hingerissen hatte, konnte den Lesern frostig oder gar abgeschmackt
erscheinen. Ich bestreite natürlich nicht, dafs Vorträge, die ihrer Ent-
stehung nach Improvisationen waren, nachträglich mit oder ohne Zutliun
ihrer Verfasser zu Litteraturwerken werden konnten. Ich betone nur,
dafs dies nicht das Regelmäfsige und Normale ist. Die Abnormität
konnte gerechtfertigt sein durch besonderen Ruhm des Redners oder
besonderen Erfolg der einzelnen Declamationen.
Der Rhetor Seneca entschliefst sich als Greis Aufzeichnungen über
die Schulreden zu veröffenthchen, die er in seiner Jugend aus dem
Munde der bedeutendsten Redner und Declamatoren gehört hat. Die
Berechtigung dieses litterarischen Unternehmens erweist er unter anderem
durch die Bemerkung: die Leistungen dieser bedeutenden Redner würden
ganz der Vergessenheit anheimfallen, wenn nicht durch Niederschrift
ihr Andenken auf die jüngere Generation fortgepflanzt würde. „Denn
von den gröfsten Declamatoren giebt es fast gar keine comtnentarii oder.
Dio als Sophist. 173
was noch scbiimmer ist, fehlerhafte. So will ich denn, damit sie weder
ungekannt, noch in anderer Gestalt, als recht und billig ist, gekannt
bleiben, mit gröfster Gewissenhaftigkeit jedem das seine geben.^' Diese
Nachricht bezieht sich in erster Linie auf die lateinischen Declamatoren.
Doch sind wir berechtigt, sie auf die griechischen zu übertragen, die
ja auch von Seneca selbst neben den lateinischen mitberücksichtigt
werden. Denn das ganze Treiben der lateinischen Schulredner, das in
dem Buche Senecas so anschaulich geschildert wird, ist ja doch nur ein
Abklatsch der griechischen Schulberedsamkeit. Die „commentarii^^, von
denen Sfeneca redet, sind nicht litterarische Publicationen, die der Redner
selbst besorgt hat, auch nicht Aufzeichnungen, die er sich, ehe er
redete, gemacht hat und die nachher an die Öffentlichkeit gelangt sind,
sondern Nachschriften der Hörer oder eigens zu diesem Zwecke an-
gestellter ^^notarii". Das geht aus der Bemerkung über die ,,/a&t Faiti com-
unnmentarii'' hervor. Solche, die vom Redner selbst Irerrührten, konnten "*•"*""•
niemals „falsi'*^ sein. Die Notiz hat eine vollkommene Parallele in einer
bekannten Stelle bei Dio selbst. In der kleinen TtQokakia or. XLII, die
in den Handschriften didke^ig ev rfj naxQldt überschrieben ist — sie
stammt unverkennbar aus Dios philosophischer Epoche — giebt sich Dio
das Ansehen, nicht zu begreifen, warum die Leute so begierig sind, ihn
reden zu hören. Nachdem er verschiedene Erklärungen als unannehm-
bar verworfen hat, f^hrt er fort: „auch auf die Vermutung kann ich
nicht verfallen, dafs die Leute, weil sie von mir nichts kennen oder
gehört haben, so erpicht sind (wie es ja freilich oft genug vorkommt,
dafs man aus Unkenntnis eine Sache begehrt). Denn alle, so zu sagen,
kennen meine Reden und schleppen sie der eine hier-, der andre dort-
hin; wie Gassenhauer, die die Jungen des Abends auf den Strafsen
singen, so teilt auch meine Reden einer dem andern mit, nicht wie sie
gesprochen wurden, sondern nach Kräften verbessert; manche
verbessern sie freiwillig — sie schämen sich offenbar, so schlechte Reden
ihrem Gedächtnis einzuprägen und wissen vieles daran zum besseren
umzubilden — andere vielleicht auch unfreiwillig, weil sie sie nicht gut
behalten haben. Man kann daher meine Weisheit für ein paar Groschen
in der Marktbude kaufen; ja mehr noch, man braucht sich nur zu
bücken, um sie vom Strafsenpflaster aufzuheben. So geht es denn mit
meinen Reden ähnlich wie mit dem Thongeschirr von Tenedos: jeder,
dessen Schiff die Insel anläuft, nimmt etwas davon mit, aber nicht so
leicht bringt es einer heil nach Hause, sondern die meisten bestofs(en
und zerbrechen es, und wenn sie's bei Licht besehen, sind ihnen nur
174 Zweites KapiteL
Scherben gebiiebeD.'^ Mit der Deutung dieser für unsre Frage grund-
legenden Stelle brauche ich mich nicht lange aufzuhalten. Der Sinn
kann nur sein, dafs mit Dins Reden dasselbe geschehen war, was Seneca
von denen der lateinischen Declamatoren berichtet. Es war grofse Nach-
frage nach Texten derselben, auch waren sie allgemein verbreitet, aber
ausscbliefslich in fehlerhaften, vom Autor weder besorgten noch revi-
dirten Exemplaren (falsi cammentarii). Diese konnten nur auf tachy-
graphischen Nachschriften beruhen. Das ist eine Thatsache von grofser
Tragweite für die Beurteilung des dionischen Nachlasses. Wir entnehmen
daraus, dafs die betreffenden Reden Improvisationen waren, deren
authentische Publication entweder überhaupt nicht erfolgte oder doch
zunächst nicht erwartet werden konnte. Man würde sich nicht die Mühe
genommen haben, solche commentarii herzustellen, wenn man auf bal-
diges Erscheinen der Reden im Buchhandel hätte rechnen können.
Dank der Kunst der notarii wird den Augenbhckseingebungen des
Redners ein iitterarisches Halbleben verschafft. Sie werden dadurch
nicht wirkliche Litteraturwerke; die Nachschriften dienen nur zur Er-
innerung an den mündlichen Vortrag. Für das Verständnis von Dios
moraipliilosophischer Lehrthäligkeit wird diese Erkenntnis später auszu-
nützen sein. Sie betrifft aber ebenso auch seine sophistischen Vorträge.
Es erhebt sich die Frage, ob in der erhaltenen Sammlung dionischer
Werke vielleicht auch Improvisationen sich befinden, deren Archetypus
nicht auf eine vom Autor besorgte authentische Ausgabe, sondern auf
Nachschriften der eben geschilderten Art zurückgeht. Doch empfiehlt
sichs zunächst, noch ein paar weitere Belege für die durch Tachy-
graphie vermittelte Einführung von Improvisationen in die Litteratur
beizubringen, die wir, da die Erscheinung eine allgemeine ist, beiden
Litleraturen , der römischen wie der griechischen, und beliebigen Lit-
teraturgebieten entnehmen können.
Zeugnisse Wenn wir auch noch so vorteilhaft von der Gedächtniskraft des
für lachy- y^^^p Sencca denken wollen , wir werden es doch unwahrscheinlich
graphische ^
Nach- finden, dafs er das ganze in seinem Buche aufgespeicherte Material den
schrirten. ^dia^yi^ainniern seines nalüriichen Gedächtnisses entnahm. Sollte nicht
auch das schriftliche Gedächtnis bei dem Zustandekommen seines Buches
eine Rolle gespielt haben?
Für die Herausgabe philosophischer Vorträge auf Grund von Nach-
schriften haben wir zahlreiche Beispiele. Aber meist betreffen sie
Kathedervorträge der Schulphilusophen {axokai). Die für uns lehr-
reiclisten Beispiele sind die des Epiktet und des Musonius. Denn diese
Dio als Sophist 175
MäDner gebOreu nicht nur cler gleichen Zeit wie Dio an; als Lehrer
und Philosophen sind sie dem späteren Dio nah verwandte Gestalten.
Epiktet ist nicht SchriflLsleller, er hat nur mündliche Lehi thütigkeit
geübt. Arrian hat die bei ihm gehörten Vorträge auf Grund wörtlicher Arriant
Nachschriften herausgegeben. Der Brief an L. Geilius, den er seinem ^p******''
Buche vorausschickt, ist der locus chusicus für die Beurteilung dieser
Art von Litteratur. Er hat sie herausgegeben (das beweist uns der
Brief, der nur in einer von ihm besorgten Ausgabe stehen konnte), aber
erst nachdem die Nachschrift, die er für seinen persönlichen Gebrauch
gefertigt hatte, ohne sein Wissen und Wollen an die Öffentlichkeit ge-
langt war. Hören wir ihn selbst: „Ich habe die Reden Epiktets weder
schriftstellerisch bearbeitet, wie man einen solchen Stoff bearbeiten
könnte, noch hab' ich sie selbst der Öffentlichkeit übergeben — wie
sollt' ich auch, der ich mich nicht einmal als ihr Bearbeiter bekenne —
sondern was ich aus seinem Munde hörte, das hatte ich möglichst
wörtlich nachgeschrieben, um für spüter Memoiren {v7C0(xvri^aTa) seiner
Denkart mir zu erhalten. Diese sind natürlich beschaffen, wie beschaffen
sein kann, was einer aus augenblicklicher Eingebung (avto^ev oQfxii&elg)
zu einem andern spricht, nicht wie einer für spätere Leser schreiben
würde. Diese meine also beschaffenen Aufzeichnungen sind nun, ich
weifs selbst nicht wie, ohne mein Wissen und Wollen an die Öffent-
lichkeit gelangt.'' Hier haben wir die scharfe begriffliche Unterscheidung
zwischen dem eigentlichen Litteraturwerk {pvyyQa^^a) i von dem man
stilistische Durcharbeitung nach allen Gesetzen der Kunstlehre fordert,
und dem v7c6fAvr^f4a^ das die Erinnerung an einen mündlichen, impro-
visirten Vortrag (oder ein Gespräch) zu erhallen sich begnügt. Ob
Arrian eigenhändig mitgeschrieben hat oder sich der Geschicklichkeil
berufsmäfsiger notartt bediente, kann bezweifelt werdeu. Fast scheint
die Leistung zu grofs für einen, der nicht geschulter Tachygraph sein
konnte.
Quintilian erzählt uns im Vorwort des ersten Buches, dafs schon Quiotuian.
ehe er sich zur Ausarbeitung seiues grofsen Werkes entschlofs, zwei
rhetorische Lehrbücher unter seinem Namen in Umlauf waren, die von
ihm selbst weder herausgegeben noch zur Herausgabe vorbereitet waren.
Beide waren Nachschriflen mündlicher Vorträge: namque alterum ser-
monem per biduum hahitum pueri^ guibus id praestabatur ^ exceperatU^
alterum pluribus sane diebus, quantum notando consequi poiuerant^
interceptum boni tnvenes, sed nimium amantes tnei temerario edüionü
honore vulgaverant. Hier ünden wir die studirenden Jünglinge selbst,
176 Zweites Kapitel. .
die boni iuvenes, im Besitz der tachygraphischea Kunst. Aber in den
Worten „q^iantum notando consequi potuerant*' liegt, dafs sie nicht
ganz mitgekommen waren. Es waren ungenaue und fehlerhafte Nach-
schriften, falsi commentarii.
Musonius. Auch Musonius, den wir neben Epiktet als Geistesverwandten Dies
zur Vergleichung heranziehen wollten, hat, soviel wir wissen, eigene
Schriften nicht verfafst. Auch seine Vorträge sind lediglich durch
Nachschriften seiner Schüler, eines Pollio, eines Lucius auf die Nach-
welt gekommen. l^nofAvrjiAOvevfiaTa war die Schrift des Pollio be-
titelt. Man wird so wenig in diesem Falle wie in dem des Epiktet
anzunehmen haben, dafs die Niederschrift nachträglich aus dem Ge-
dächtnis stattfand. Eine treue, zur Publication geeignete Nachschrift
konnte wohl kaum ohne Hülfe der Tachygraphie hergestellt werden.
Galan. Galen 7t€Qi Twv lölwv ßißklcjv p. 14 K. erzählt uns von einem
Vortrag, in dem er, um den Erasistrateer Martialios zu ärgern, die Be-
rechtigung des Aderlasses gegen die Angriffe des Erasistratos in seiner
Schrift n€Qi ai^arog avaytüyrjg verteidigt hatte. Dieser Vortrag war *
eine Improvisation. Galen hatte sich anheischig gemacht, über eine
bestimmte Stelle aus den Schriften der alten Ärzte aus dem Stegreif
öffentlich zu reden. Das Thema wurde ihm gestellt, indem man einen
Schreibgriffel aufs gerathewohl in die Buchrolle hineinbohrte. Der Vor-
trag geGel aufserordentlich. Ein Freund Galens wünschte ihn schriftlich
zu besitzen, um ihn noch weiter gegen Martiahos, mit dem er verfeindet
war, ausnutzen zu können. Zu diesem Zwecke schickste er dem Galen
einen geübten Tachygraphen (öia orfixekov elg rdxog rjoxrjfxivog
ygdcpeiv), mit der Bitte, diesem seinen Vortrag in die Feder zu dictiren
{v7cayoQev€iv)> Das Verfahren bezweckt, dem Galen, der kein schrift-
liches Concept seines Vortrages besafs, die Mühe nachträglicher Nieder-
schrift zu ersparen imd ihm überhaupt möglichst wenig Zeitverlust zu
verursachen. Dem Tachygraphen konnte er ebenso geschwind, wie er
das erste Mal gesprochen, oder noch geschwinder dictiren. Ebenso gut
hätte die Aufzeichnung gleich beim ersten Mal erfolgen können, wenn
ein Tachygraph zur Stelle gewesen wäre.
Gerichu- Aus Quintilian haben wir ein Beispiel bereits kennen gelernt, das
QuinViiUDs ^*^^ ^^^ schulmäfsige Lehrvorträge bezog. Ich füge ein zweites hinzu,
das praktische Gerichtsreden betrifft. Quintilian hatte, wie er VII 2, 24
berichtet, nur eine seiner Gerichtsreden , die Verteidigung des wegen
Mord angeklagten Naevius Arpinianus, selbst herausgegeben. „Denn in
den übrigen,'' sagt er, „die unter meinem Namen in Umlauf sind, ist
Dio als Sophist. 177
durch nachlässiges Mitschreiben gewerbsmäfsiger Tachygraphen nur
wenig enthalten, was ich als das meine erkenne/^
In der Götterversammlung des „ludus de morte Claudii*^ redet der Ludns de
marktgewohnte Vater Janus mit solcher Volubihtät der Zunge, dafs der ^^^/ii
notarius nicht nachkommen kann. Dagegen wird von demselben Schrift- s|fn^4
steller epist. 90, 25 der Tachygraphie die Fähigkeit zugesprochen, selbst*^'** ^•^*
mit der schnellsten menschlichen Rede Schritt zu halten. Er erwähnt dort
als eine noch ziemlich neue Erfindung verborum notas, quihus quamvis
citata exdpüur oratio et celeritatem Unguae manus sequitur. Ans dem
Zusammenhang ergieht sich, dafs die Tachygraphen gewöhnlich Sclaven
waren. Ein Buchhändler^ der solche Sclaven besafs, konnte leicht
Nachschriften von den Vorträgen iraprovisirender Sophisten herstellen
lassen und unter Umständen gute Geschäfte damit machen. An Sclaven
denkt auch Plutarch, wenn er Cato 23, nachdem er die tachygraphische
Aufzeichnung von Catos Rede gegen die Catilinarier als etwas für jene
Zeit noch ganz neues und unerhörtes erwähnt hat, erläuternd hinzufügt:
ovTto) yag fjaxovv ovo' Ixhtrrjvro rovg xaXovfiivovg arnjtBtoyQoiq^ovg,
akka rore ngitirov eig l^rog ri yMTaOTrjvai Xiyovoiv, Der Ausdruck
ix^xTrjvTo zeigt, dafs Sclaven gemeint sind. Aufserdem zeigt die Stelle,
dafs zu Plutarchs Zeit der Gebrauch der Tachygraphie nichts seltenes
und ungewöhnliches, sondern allgemein verbreitet war.
Dafs ein Sophist tachygraphische Sclaven gut gebrauchen konnte, Alexander
zeigt die Nachricht bei Philostr. vit. soph. p. 249, Herodes Atticus •®p'*°"'
habe dem Alexander Peloplaton neben anderen wertvollen Gaben auch
dixa arjfuiwv ygacpiag geschenkt. Wenn diese zehn Tachygraphen
gleichzeitig einen Vortrag ihres Herrn oder eines seiner Freunde oder
Nebenbuhler mitschrieben, so liefs sich durch Collation der Wortlaut bis
ins einzelne mit voller Sicherheit feststellen.
Von dieser einzelnen Stelle abgesehen beweist das ganze Werk desPhtiostmos'
Philostratos, die „Lebensbeschreibungen der Sophisten", dafs es auch * ^^^ *"'
von den improvisatorischen Vorträgen der Sophisten Schriftexemplare
gab. Denn die Stilproben, die er seinen Charakteristiken der einzelnen
Sophisten beizugeben pflegt, sind grofsenteils improvisirten Reden ent-
nommen. Er nennt diese Proben axo^vrj^ovevfiaTa (p. 249). Der
Ausdruck zeigt, dafs es sich nicht um von den Verfassern selbst heraus-
gegebene Werke, sondern um Nachschriften der soeben geschilderten
Art handelt.
Die Geschichte p. 252, wie Philagros von den Anhängern desi^bUagros.
Herodes gefoppt wurde, läfst sich ebenfalls für die in Rede stehende
T. Arnim. Dio. 12
178 Zweites Kapitel.
Frage verwerten. Philagros kommt nach Athen, um seine schon in
vielen Provinzen des Reichs erprobte Kunst auch dort zu zeigen. Er
begeht die Ungeschicklichkeit, einen Lieblingsschüler des Herodes auf
der Strafse zu beleidigen. Dadurch gegen ihn erbittert, beschliefsen die
Anhänger des Herodes, ihm bei seinem ersten öffentlichen Auflreteo
eine Niederlage zu bereiten. Es handelt sich um eine fdekirti^ deren
Thema dem Redner aus der Mitte der Hörerschaft gestellt wird. Da
man in Erfahrung gebracht hat^ dafs Philagros nur über Themata, die
ihm zum ersten Male gestellt werden, wirklich improvisirt, bei solchen
hingegen, die er schon früher behandelt hat, die alte Rede zu wieder-
holen pflegt, stellt man ihm ein Thema, über das er schon in Asien
mit grofsem Erfolg geredet hatte. Man hat sich ein Exemplar der
Rede zu verschaffen gewufst, und als nun Philagros zu reden beginnt,
zeigt sich wörtliche Übereinstimmung der angeblichen Improvisation mit
dem Manuscript, das die boshaften Zuhörer laut mitlesen. — Die Rede
wird von Philoslratos ausdrücklich als iKdedofi^vij bezeichnet in den
Worten : tavtrjg ixdedofxivr^g rjdi] T^g inod-iaewg fnv'qfXTjv ^vveki^aTo.
Es ist aber undenkbar, dafs sie von Philagros selbst herausgegeben war.
Gerade er, der die Gewohnheit hatte, seine früheren Vorträge zu wieder-
holen, wenn ihm das Thema von neuem gestellt wurde, kann unmöglich
selbst Buchausgaben seiner fiekizai veranstaltet haben. Er hätte dadurch
Blamagen, wie die eben geschilderte, geradezu selbst ppovocirt. Wir
müssen annehmen, dafs er von der schriftlichen Verbreitung jener
fisliTT] keine Ahnung hatte. Das zeigt auch der Ausdruck Tavrr^g
-fxvri^n]v ^vvekiBaTOy der nur bedeuten kann, dafs Philagros von den
früheren Malen her die ^leXiTri auswendig wufste. fivrjinrjv ^vkXiyea^ai
pafst nur, wenn der Redner ohne Vermittlung der Schrift, durch blofse
innere Meditation das damals Gesprochene sich vergegenwärtigt und
seinem Gedächtnisse dauernd eingeprägt hatte. Denn nur in diesem
Falle findet in der Seele ein Sammeln der Erinnerung statt. Hätte er
gewufst, dafs die /aelhrj bereits IxdeSofiiv)]^ also für ferneren Gebrauch
unverwendbar geworden war, so würde er sich diese Mühe gespart
haben. Nur durch diese Annahme wird auch verständlich^ was Philagros
auf den Hohn der Hörer erwidert: wg öeiva nuaxoi tütv iavrov
eigyofievog. Er ist natürlich entrüstet über die Verletzung seines
Autorrechts durch die ohne sein Zuthun erfolgte litterarische Verbrei-
tung seiner Rede. Nach seiner Auffassung ist diese ein Eingriff in
sein geistiges Eigentum, der ihm die freie Verfügung über dasselbe
raubt. — In der ähnlichen Geschichte bei Lukian ttsq! rfjg oTtotpQa-
Dio als Sophist 179
Sog wird leider kein Schriftexemplar zur Entlarvung des Simulanten
benutzt.
Beide Geschichten zeigen, dafs die laei-hrj bestimmt ist, die im-
provisatorische Fähigkeit des Redners zur Schau zu stellen. Darum
erfährt der Redner das Thema erst kurz vor dem Beginn seines Vortrags,
darum ist es in dieser Galtung verpönt ewXa xai kavxt^ nQoeiQfjfxiva
vorzubringen. Lukians Timarchos ist ein Betrüger, der einen schriftlich
ausgearbeiteten und noch dazu mit fremden Federn aufgeputzten Vor-
trag für improvisirt ausgieht. Durch einen einverstandenen Freund hat
er sich das Thema stellen lassen, auf das er vorbereitet ist. Dagegen
handelt Philagros bona fide. £r hat seinen Vortrag nicht ausgearbeitet
und auswendig gelernt. Dennoch genügt der von seinen Neidern ge-
führte Nachweis, dafs er scoXa vorbringt, dafs er reproducirt statt zu
produciren, um ihn in den Augen des Publicums lächerlich zu machen.
Was von der ^eXixri gilt, darf man nicht ohne weiteres auf die andere
Hauptgattung sophistischer Vorträge, die diaki^eig, ausdehnen.
Bekanntlich unterscheidet Philostratos diese beiden Hauptgattungen. fieUrrj
jueXiTac l>ezeichnet bei ihm, was lateinisch „controversiae et suasoriae'' "?1
heifst, während dcaki^eig alle übrigen Arten sophistischer Vorträge
umfafst. In der fieXirr] behandelt der Redner fictive oder historische
Situationen, in der didke^ig redet er. ohne Maske als der, der er ist,
zu seinem Publicum und sucht es zu belehren oder zu unterhalten.
Die Themata der ^uXirat wurden dem Redner in der Regel von anderen
gestellt und es gilt als höchster Ruhm^ so wenig als möglich Zeit für
die Meditation zu brauchen. Manche Sophisten begnügen sich mit
wenigen Minuten der Vorbereitung, andere bitten sich einen halben,
andere einen ganzen Tag Bedenkzeit aus. Dagegen liegt es in der
Natur der didle^ig, dafs sie weder in der Wahl des Themas noch be-
züglich der Vorbereitung beschränkt ist. Es bleibt dem Redner frei-
gestellt, worüber er reden will. Es kann daher auch die Forderung
absoluter Neuheit und augenblicklicher, unvorbereiteter Hervorbringung
für diese Gattung nicht in gleichem Mafse wie für die juekirat. gegolten
haben. Denn niemand konnte bei einem selbstgewählten Thema die
Vorbereitungsart des Redners controliren. Wer seine Stiirke in der
Improvisation hatte^ wird auch hier ex tempore gesprochen haben, andere,
die auf dxQlßeia das Hauptgewicht legten, konnten eine schriftUch vor-
bereitete Rede zum besten geben. Es ist auch ein Mittelweg denkbar,
der die Vorzüge beider Richtungen zu vereinigen sucht. Jedenfalls
konnte das Vorbringen von ewka und TCQoeiQfjfiiva nur da als Schande .
12*
180 Zweites Kapitel.
gelten, wo das Thema aus der Hörerschaft gestellt und die Fähigkeit
achter, reiner Improvisation zum Mafsstab der Wertschätzung gemacht
wurde. Man darf also aus dem Erlebnis des Philagros bei Philostratos
und dem des Timarchos bei Lukian nicht den Schlufs ziehen, dafs die
Wiederholung des gleichen Vortrags auch in der Gattung der diali^eig
verpOiit gewesen sei.
Es ist dies von Bedeutung für die richtige Beurteilung der dio-
nischen Werke. Ich habe schon darauf hingewiesen, dafs die Gattung
der ^eXirai weder unter den erhaltenen noch unter den verlorenen
Werken Dios vertreten ist Wir dürfen annehmen, dafs er sie entweder
überhaupt nicht pflegte oder doch in ihr sich weniger auszeichnete als
in der der diaU^eig. Fast alle erhaltenen Werke Dios sind diaH^eig.
Dafs er als klassisches Vorbild der diake^ig galt, zeigt z. B. die Bemer-
kung des Philostratos über den Sophisten Hippodromos aus Thessalien
(p. 271): rjv dk avT(j) ra fikv Ttjg diak^^ewg JlXarwvog avrj^ifjLiva
xai Jlwvog, ra dh rfjg fickizrig xara tov UoXi^wva etc. Auch
sonst unterscheidet Philostratos öfter zwischen solchen Sophisten , die
mehr für die /nekirr], und solchen, die mehr für die dtaXe^tg begabt
sind. So ist des Aristokles von Pergamon Redeweise diak^yead^ai kfti"
TTjäela fiäkkov rj aycovlKead-aCf während Antiochos aus Aigai duliyero
(xhv oi'X. iTciTTjdelwg — ta di ajti(pt ^/eA^ijv kk^oyLinoiTOTog; und
von Proklos aus Naukratis heifst es: t6 jtdv ovv dialex^ijvot avrov
Iv OTtaviOTolg syieiro. An andern wird ihre gleichmäfsige Ausbildung
in beiden Gattungen gerühmt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, zu
welcher Gruppe Dio zu rechnen wäre.*) Auch der TQwixdg koyog,
von dem unsere Betrachtung ausging, ist eine diaXe^ig.
A^roayi- ^^" andrer Einteilungsgrund, der sich durch das Werk des Philo-
SMi ;.<^;'o« Stratos hindurchzieht, ist das Verhältnis der einzelnen Sophisten zur
""^ Improvisation. Wie Aristeides, den wir ja noch selbst seine Sache führen
^ütü.« hören, die Improvisationen, für die ihm die Begabung fehlt, gering
schätzt und seine ganze Kraft den (pQovtlofÄata widmet, so giebt es
andere — unter den von Philostratos behandelten bilden sie die Mehr-
zahl — die nur improvisiren und die ygarcrovg Xoyovg ygatpovreg
verachten, wie vor Zeiten Alkidamas. Auch hier giebt es endlich eine
vermittelnde Richtung, die neben den avTooxiSioi )<.6yoL auch den
(pgovfla/iiata einen gewissen Wert zuerkennt.
uara.
1) Vgl. Philostr. Vit. Apoll. V 37 p. 222 inixagis re ydp räe SicUi^eie
i8öxei etc.
Dio als Sophist. 181
Fragen wir, io welche dieser Gruppen Dio gehört, so ist von vorn-
herein klar, dafs er nicht der Richtung des Aristeides zuzurechnen ist.
Philostratus vit. Apoll. V 37 p. 222 rühmt ihn besonders als Improvi-
sator: TtQoafiv 6h avT(p xai x6 anooxBÖtaC^eiv a^iara av&QOJTCwv.
Wir werden dieses Urteil des Philostratos, der in den Stilcharakteristiken
der Sophisten durchweg eine höchst sachkundige Oberlieferung wieder-
giebt, gewifs nicht als wertlos beiseite schieben. Inwieweit es für die
Beurteilung des Erhaltenen von Bedeutung ist, mufs die Betrachtung
der einzelnen Werke lehren. Wir wissen jetzt, dafs wir unter den
Werken Dios auch Improvisationen zu finden erwarten dürfen. Denn
in der Epoche, welcher Dio angehört, ist die Stegreifrede die vorwie-
gende und unzweifelhaft am höchsten geschätzte Form sophistischer
Wirksamkeit; ein glaubwürdiges Zeugnis sagt uns, dafs auch Dio sie
gepflegt hat; und die litterarische Erhaltung und Verbreitung von Steg-
reifreden auf Grund tachygraphischer Nachschriften, liefs sich durch
eine ganze Reihe von Zeugnissen und Erwägungen als glaublich nach-
weisen. Dadurch haben wir eine Grundlage gewonnen für die Beut*-
teilung der einzelnen Werke und gewisser auffallender Erscheinungen
ihrer Oberlieferung. Da die W^ahrscheinlichkeit von vornherein dafür
spricht, dafs Dio sowohl (pQoviLo^axa als avroaxidioc \6yoi verfafst
hat, werden auch in der erhaltenen Sammlung beide Arten vertreten
sein. Die Aufgabe ist, aus der Beschaffenheit der einzelnen Werke zu
entscheiden, welcher Gattung sie angehören. Die Tragweite dieser
Frage wird sich erst in den folgenden Kapiteln ganz entfalten, wo sie
auf die moralphilosophischen Werke der späteren Epoche angewandt
wird. Auf ihnen beruht die Bedeutung Dios; für sie den richtigen
Standpunkt der Beurteilung zu finden, ist unser Hauptzweck. Aber
schon unter den Werken der sophistischen Epoche fand sich eines, die
„Trojana^y die uns nötigte, das Problem in Angriff zu nehmen.
Wir gingen von der Thatsache aus, dafs in dieser Rede ein Ab- Erklärung
schnitt in doppelter Fassung erhalten ist, und erklärten diese Eischei- j'g" ^„"^^der
nung aus der Benutzung mehrerer Textquellen durch den Herausgeber Trojana.
der Sammlung, der ja sicher nicht mit dem Autor identisch ist. Diese
verschiedenen Texlquellen werden schwerlich mehrere vom Autor selbst
besorgte Buchausgaben der Rede gewesen sein. Denn wenn dies der
Fall wäre, müfste sich nachweisen lassen, warum er die Stelle in der
zweiten Ausgabe geändert hat. Es läfst sich aber weder eine inhaltliche
noch eine stilistische Absicht der Abänderung entdecken. Die Abwei-
chungen, die, wie ich oben gezeigt habe, den Gedankengang nicht be-
182 Zweites Kapitel.
rubren, erscheinen als rein zufällige. Ebensowenig ist es (lenkbar, dafs
der Herausgeber neben der vom Autor besorgten Ausgabe, Nachscbriften
(commmtatit) benutzte. Wenn eine authentische Ausgabe existirt h<itte,
so würde diese allein für ihn Autorität besessen haben. Wir können
ihm nicht zutraun, dafs er Nachschriften, denen die Gewähr der Authen-
ticität mangelte, neben ihr als gleichwertige Quellen benutzte. Es bleibt
also nur die dritte Möglichkeit übrig, dafs sein Malerial ausschliefslich
in solchen Nachschriften bestand, die der Beglaubigung von Seiten des
Verfassers entbehrten.
Sollte Jemand die Annahme einer doppelten Buchausgabe glaublich
machen, indem er eine mir verborgen gebliebene Absicht der Umwan-
delung nachwiese, so würde ich die Möglichkeit solcher Erklärung für
diesen einzelnen Fall zugeben, zugleich aber betonen, dafs ein endgül-
tiges Urteil nur auf Grund aller ähnlichen Erscheinungen in der Ober-
lieferung des Diotextes gefällt werden kann. Die Erklärungs weise, welche
alle diese Erscheinungen aus einer und derselben Ursache ableitet, wird
die höhere Wahrscheinhchkeit beanspruchen dürfen. Es wird sich auch
zeigen, dafs die Annahme einer doppelten Buchausgabe noch aus einem
anderen Grunde unwahrscheinlich ist. Da nämlich Dio die sophistische
Stilrichtung, der die „Trojana'^ angehört, bald verlassen und fortan den
Erzeugnissen seiner früheren Periode selbst keinen Wert mehr bei-
gemessen hat, so müfsten die beiden Buchausgaben schneller auf ein-
ander gefolgt sein, als man glaubhch finden wird. Wenn ferner richtig
ist^ was ich oben über die in Fassung b an falscher Stelle einge-
schobenen Satzglieder bemerkt habe, so würden nicht zwei, sondern
mindestens drei abweichende Texte dem Sammler vorgelegen haben.
Die abweichenden Nachscbriften können nicht gleichzeitig, bei
demselben Vortrag der Bede nachgeschrieben sein. Das ergiebt sich
ebenfalls aus der Art der Abweichung zwischen den Parallelabscbnitten.
Für diese Annahme ist nämlich die Abweichung im Wortlaut zu stark.
Diese Abweichung ist genau von derjenigen Art, welche eintreten mufs,
wo der Bedner eine früher bereits gehaltene Bede aus dem Kopf mög-
lichst genau wiedergiebt. Ich schliefse also, dafs Dio die Bede wirklich,
wie er ankündigt, an verschiedenen Orten wiederholt hat. Ich scheue
mich auch nicht, den weiteren Schlufs zu ziehen, dafs er sie frei, aus
dem Kopfe vortrug, ohne sich streng an einen schriftlich ausgearbeiteten
und memorirten Text zu binden. Ich meine natürlich nicht, dafs die
Bede eine Stegreifrede im eigentlichen Sinne ist. Dies ist unmöghch,
«veil die Nachweisung der Widersprüche und Unwahrscheinlichkeiteo
Dio als Sophist. 183
der homerischeD ErzähluDg eine sachliche Vorbereitung erforderte.
Zweifellos hatten andere nach dieser Richtung dem Redner vorgearbeitet
Dasselbe gilt von der Erzählung, die an Stelle der homerischen gesetzt
wird. Sie ist aus der homerischen entwickelt, an die sie sich anschliefst,
soweit nicht der Zweck des Ganzen eine Umbildung oder Verschiebung
forderte. Das war selbst für den firmsten Homerkenner nicht ohne
vorbereitendes Studium möglich. Aber damit ist keineswegs erwiesen,
dafs die Rede ein qiQovTiafia im Sinne des Philostratus ist, eine für
die Edition vorbereitete und stilistisch ausgefeilte Arbeit. Schon die
Sorglosigkeit in der Zulassung des Hiatus spricht dagegen. Die rhodische
Rede z. R. befolgt in dieser Hinsicht weit strengere Grundsätze. Es
kommt hinzu, dafs die Rede nachweisbar schon in sehr alter Zeit durch .
Interpolationen erweitert worden ist. Diese Interpolationen können
nicht von mittelalterlichen Lesern herrühren. Sie müssen noch aus
dem Altertum seihst stammen, da sie zum Teil in tadelloser Sprache
den von Dio angesponnenen Faden weiter spinnen. Es liegt auf der
Hand, dafs derartige Interpolationen leichter in den Text Eingang ßnden
konnten, wenn eine authentische, vom Autor selbst besorgte Ausgabe
der Rede nicht existirte. Ich erinnere an Dios eigene Klagen über die
Leute, die absichtlich seine Reden „verbessern" akXdrTOVTeg xai fieva-
TiS^ivTsg TtoXXa xai xgelTiova. Damit sind doch offenbar solche ge-
meint, die auf eigne Faust mit seinen Reden hausiren gehen und sich
dabei eigene Zusätze und Abänderungen erlauben. Rekanntlich führt
auch Galen Klage darüber, dafs von ihm herrührende medicinische Vor-
ti*äge, deren Hanuscripte er Schülern als vTCOiAvri^iaxn übergeben hatte,
in entstellter Form ins Publicum gekommen sind (Vol. XIX p. 9 Kühn);
er redet in diesem Zusammenhang von aXXoi Y.ca Skia xuiv i&vwv
avayivwaxovreg wg Xdta, ^tta tov %a /ahv atpaigelv, tcc dk Ttgoari-
^€vai, ra dh vTtallazTeiv. Man versteht, dafs eine Rede wie die
Trojana schon wegen der Stellung, die Homer im Jugendunterricht ein-
nahm, in sophistisch geschulten Kreisen das lebharteste Interesse erregte
und als Substrat eigner Übungen und Versuche sich vorzüglich eignete.
Ich will versuchen die Thatsache der rhetorischen Interpolation im ein-
zelnen nachzuweisen.
Das Thema der Rede ist nicht, „dafs Ilion nicht erobert worden Analyse der
sei", wie der Titel angiebt, (der so wenig wie alle übrigen vom Autor inlg^Mia-
herrUhrt), sondern die Unrichtigkeit der homerischen Erzählung vomtioneouod
trojanischen Krieg in allen Hauptpunkten. Die Ursachen des Krieges, ^"***'"*"-
sein Verlauf und Ausgang, seine Folgen und Nachwirkungen sind von
184 Zweites Kapitel
Homer unrichtig dargestellt worden; die ganze Geschichte von Anfang
bis zu Ende will der Redner berichtigen. Dies Thema wird zwar nir-
gends ausdrückHch formulirt, aber wer die Rede liest, kann nicht im
Zweifel bleiben. Als Gewährsmann der allgeraein'geglaubten Sagenform
wird Homer als Verfasser der Ilias gedacht, daneben einzelne Stellen
der Odyssee zur Ergänzung herangezogen. Aber Dio beschränkt sich
nicht auf den Teil der trojanischen Geschichte, der in der Ilias darge-
stellt ist; er will die ganze Geschichte in berichtigter Form geben, auch
die Teile, die vor und nach der Ilias liegen. Für diese Teile werden
die gelegentlichen Anspielungen in Ilias und Odyssee berücksichtigt, da-
neben aber, wie es sich kaum vermeiden liefs, auch Thatsachen, die
nicht bei Homer vorkommen. Dennoch sollte das Ganze als eine Ausein-
andersetzung mit Homer erscheinen. Das zeigt schon die Einleitung, die
ausschliefshch von Homers Glaubwürdigkeit handelt. Wo also Züge des
troischen Sagenkreises berichtigt werden sollten, die bei Homer nicht
vorkommen, mufste Dio dies zu verdecken suchen, ohne doch geradezu
dem Homer zuzuschreiben, was ihm fremd ist. Wo das letztere geschieht,
Hegt der Verdacht der Interpolation nahe. — Den Kern der ganzen
Rede bildet die Erzählung des thatsächlichen Verlaufs der Begeben-
heiten, welche Dio von einem ägyptischen Priester, der sich auf uralte
Steinurkunden berief, gehört zu haben vorgiebt. Diese Erzählung wird
durch argumentirende Abschnitte, die ihre höhere Wahrscheinlichkeit
gegenüber der homerischen darthun sollen, unterbrochen und gegliedert.
Natürlich mufste dabei die Ökonomie beobachtet werden, dafs in den
argumentirenden Abschnitten jedesmal nur diejenigen Züge der home-
rischen Erzählung widerlegt werden, welche dem voraufgehenden Teil
der dionischen Erzählung sachlich entsprechen. Wo gegen diese selbst-
verständliche Forderung verstofsen wird, liegt ebenfalls der Verdacht
der Interpolation nahe. — Anfänglich wird die Fiction durchgeführt, dafs
der Priester dem Dio die Geschichte erzählt. Er wird mehrfach in
directer Rede sprechend eingeführt und von Dio mehrfach durch zu-
stimmende Erwägungen unterbrochen (§ 45, 47, 57). Auch der erste
argumentirende Abschnitt, der sich auf den Raub der Helena bezieht,
wird als directe Rede des Priesters gegeben (§ 54 (f.). Im weiteren Ver-
laufe der Rede tritt diese Einkleidung mehr in den Hintergrund. Es
wird nicht mehr zwischen der Person des Priesters und Dios unter-
schieden. Wir werden nicht mehr immer von neuem daran erinnert,
dafs der in directer Rede erzahlende der Priester ist. Es flndet sich
noch eine Stelle, die dies voraussetzt: § 68 Tatra fxlv ovv firj aAAct>g
Dio als Sophist. 185
vofii^e TtQax^vat ^ wg iyw kiyo). Aber die Erwägungen^ die auf
den letzten Teil der Erzählung folgen (von § 124 med. an), werden
nicht mehr dem Priester in den Mund gelegt. Dafs hier Dio selbst
redet, zeigen die Worte § 124 ov fiovov ol ^'Ei.krjV€g, aXka xal ifieig.
Selbst § 135, wo von Menelaos Aufenthalt in Ägypten die Rede ist, wird
nicht auf den ägyptischen Priester zurückgegriffen und § 140 die Er-
zählung von den Auszügen troischer Colonisten mit einem q>aoi,v ein-
geführt. So redet denn auch weiterhin bis zum Schlufs der Rede Dio
in eigener Person. Die indireete Rede in § 93 — 95 kann unmöglich
bedeuten , dafs hier Worte des Priesters mitgeteilt werden , zumal mit
§ 96 wieder zu direcler Rede übergangen wird. Es mufs im Anfang
ein Verbum ausgefallen sein, von dem die InGnitive abhingen.
Wenn ich auf Grund dieser Vorbemerkungen nunmehr die Inter-
polation im einzelnen nachzuweisen suche, so wird es dabei nötig sein,
auch den andern nahehegenden Erklärungsgrund etwa vorhandener
Störungen stets im Auge zu behalten: die Annahme aus verschiedenen
Fassungen der Rede herrührender Dubletten. Denn offenbar können
beide Vorgänge, Interpolation und Duphrung — wenn dieser Ausdruck
gestattet ist, — ähnliche Störungen des Textzusammenhaiigs verursachen.
Der erste Abschnitt der Erzählung (§ 43 — 53) stellt dar, wie He-
lena von Paris nicht etwa geraubt, sondern unter freudiger Zustimmung
der beiderseitigen Familien in rechtsgültiger Form geehelicht wird. Der
dazu gehörige argumentirende Abschnitt (§ 54 — 61 med.) sucht den
Raub der Helena als unwahrscheinlich zu erweisen. Der Beweis geht
der Reihe nach alle beteiligten Personen durch, zuerst die nächst-
beteiligten, Paris und Helena, dann die Angehörigen des Paris, dann
die der Helena. Im Anschlufs an die letzteren wird auch Aithra be-
sprochen, die nach der Sage die Entführte nach Troia begleitet hatte.
Der zweite Abschnitt der Erzählung (§ 61 med. — 65 iuixeigovv-
rag) berichtet, wie die abgewiesenen griechischen Freier, von Agamemnon
und Menelaos veranlafst, teils aus gekränktem Ehrgefühl, teils aus Er-
oberungsgelüst die Troer mit Krieg überziehen. Der zugehörige argu-
mentirende Abschnitt (§ 65 med. — 67) weist nach, dafs die Troer nur
weil sie im Recht waren, den Mut fanden, die Gefahren eines lang-
wierigen Krieges auf sich zu nehmen. Andernfalls würden sie die He-
lena ausgeliefert haben, entweder sogleich, oder doch nach dem Tode
des Paris. Die Heirat der Helena mit Deiphobos ist weder vom Stand-
punkte der Troer, noch von dem der Helena begreiflich, wenn zwischen
Paris und Helena nicht eine rechtsgültige Ehe, sondern nur eine illegi-
186 Zweites Kapitel.
time Liebschaft bestandea hatte. — Die Richtigkeit der Erzählung, die
den Griechen Angriff und Rechtsverletzung zuschiebt, wird also aus dem
Verhalten der Troer und der Helena erwiesen, die sich so nicht hätten
verhalten können, wenn die Rechtsverletzung von ihnen ausgegangen
wäre. — Auf diesen Abschnitt folgt ein weiterer, ebenfalls argumen-
lirender (§ 68 — 70 trjv Ttoliv), dessen Inhalt und dessen Verhältnis zu
dem voraufgehenden eine nähere Untersuchung fordert.
Er enthält keinen neuen Gedanken, sondern wiederholt nur bereits
gesagtes in folgender Form: es ist viel wahrscheinlicher, dafs Tynda-
reos sich mit der asiatischen Königsfamilie gern verschwägert hatte und
dafs dann Menelaos und Agamemnon und die übrigen Fürsten aus den
und den Gründen — es werden dieselben wie oben aufgezählt — zum
Kriege schritten, als dafs Alexandros und seine Angehörigen und Helena
und ihre Angehörigen nebst Aithra die und die Unbegreiflichkeiten
— es werden alle aufgezählt, die wir aus beiden argumentirenden
Abschnitten schon kennen — sollten begangen haben. — Soll also
(lieser Abschnitt eine Recapitulation aller bisher vorgebrachten Argu-
mentationen vorstellen ? Auf den zweiten Abschnitt der Erzählung pafst
er nicht, weil er Züge berücksichtigt, die im ersten Abschnitt stehen.
Es wäre jener Fehler der Ökonomie begangen, den wir als unzulässig
erkannt haben. Wohl aber wäre es denkbar, dafs er zu beiden Ab-
schnitten gehörte, als endgültige Zusammenfassung aller die Entstehungs-
geschichte des Krieges (in ihrer alten und in ihrer neuen Form) be-
treffenden Wahrscheinlichkeitsmomente. Ob diese Auffassung richtig ist;
stellt man am leichtesten fest, indem man weiterliest. Ist sie richtig,
so mufs auf die Recapitulation die Fortsetzung der Erzählung folgen.
Dies ist nicht der Fall. In §§ 70 med. — 74 med. lesen wir einen
Abschnitt, der weder zur Recapitulation gerechnet werden kann — denn
er bringt neue Argumente — noch die Erzählung weiterführt. Die neuen
Argumente betreffen das Verhalten von Helenas Vater und Rrüdern nach
der Entführung, gehören also unverkennbar zum zweiten Erzählungs-
abschnitt, in dem berichtetet wurde, was nach der Heirat geschah. Vor-
trefflich würden sich diese Argumente, wenn die ganze Recapitulation
fehlte, an § 67 anschhefsen, wenn man die >Vorte tovtojv ovölv elxog
oide dwarov zum voraufgehenden Abschnitt zöge und ^ari statt Uti
schriebe: eari de xal zode Ttgog voig sigr^fiivoig. So wird auch or. 31
§ 147 zu einem neuen Argument übergegangen: stl de xaxelvo loxiv.
In dem überlieferten Zusammenhang dagegen schliefsen sich die Worte
ixt dl xai %6de nicht besonders gut an das Vorausgehende an.
Dio als Sophist 187
Durch die bisherige Beweisführung scheint mir gesichert, dafs der
Abschnitt § 68 — 70 med. nicht in der überlieferten Form von Dio für
diese Stelle der Rede bestimmt war. Ebensowenig ist es möglich, ihn
durch Streichung einzelner Sätze für diese Slelle geeignet zu machen.
In meiner Ausgabe habe ich einen Versuch dieser Art gemacht, den
ich jetzt als mifsglückt erkenne. Es bleibt also nur die Wahl, den
ganzen Abschnitt entweder als Interpolation oder als Dublette in dem
oben bezeichneten Sinne zu betrachten. Die Auffassung als Dublette
würde zu der Annahme fuhren, dafs in einer der verschiedenen Fassungen
iler Rede die beiden ersten Erzählungsabschnitte vereinigt waren und
dieser einen, durch keine Argumentation unterbrochenen Erzählung auch
nur ein argumentirender Abschnitt, § 68— 70 med. folgte. An § 53
xal f^cJv schlofs sich dann § 6t med. krtel dk cu^ eq)rjv unmittelbar
an und auf § 65 med. ijtix^iQovvrag folgte § 68 If. Zwei Gründe
sprechen gegen diese Annahme und geben die Entscheidung für
Interpolation. Erstens ist der Abschnitt § 68 — 70 med. zu dürftig, um
als einzige Darstellung aller die Entstehungsgeschichte des Krieges be-
treffenden Wahrscbeinlichkeitsmomeute zu genügen. Die einzelnen
Punkte werden in dieser knappen Aufzählung nicht anschaulich genug
und können daher nicht überzeugend wirken. Zweitens enthält der
Abschnitt formale Anstöfse, die nicht durch Wortverderbnis, sondern
durch Ungeschicklichkeit des Verfassers entstanden sind. Dafs im An-
fang vofiiC^e an den Priester erinnert, der also noch sprechend gedacht
* werden soll, ist kein Fehler. Aber lieber entbehren wir diesen Wink.
Denn wozu dient die Fortsetzung einer Fiction, von der ein künstle-
rischer Gebrauch doch nicht mehr gemacht wird? Sehr störend hin-
gegen ist das Fehlen des Subjectes zu TtokefAov^ivovg fifj &ikeiv (das
aus dem vorausgehenden rrjg Tgolag ergänzt werden mufs), zumal der
Parallelismus mit den übrigen Gliedern der Aufzählung die Hervorhebung
des Subjects auch in diesem Gliede zu einer rhetorischen Notwendigkeit
machte; noch störender ist vielleicht das Fehlen des Objects zu ixöotvat,
das doch aus yvvaixog Z. 5 kaum ergänzt werden kann. Dafs es falsch
wäre Tijy ^Ekivrjv hinter kxdovvai einzufügen, als ob es nur durch die
Nachlässigkeit eines Schreibers fehlte, zeigt der Anfang des folgenden
Satzes: Trjv dk ^Elivrjv. Der Verfasser selbst hat die Nachlässigkeit
begangen. Der störende Subjectswechsel am Anfang von § 70, wo
avTrjv seil. Tfjv ^Elivrjv zu ergänzen ist, verleitete mich in meiner Aus-
gabe die vorausgehenden Worte zu streichen. Ich glaube jetzt, dafs sie
unentbehrlich sind, weil ofifenbar beabsichtigt ist, alle bisher vorgebrachten
188 Zweites Kapitel.
Gründe zu recapituliren. Es ist die gleiche Nachlässigkeit des Stils, wie
oben. Ich oiöchte uunroehr auch die au sich sehr störenden Schlufs-
Worte des Satzes: Trjv 'Ekivrjv ßi<f, Ai^^t alufvai Trjy noXtv dem
Interpolator zutrauen.
Natürlich müssen bei der Beurteilung des Abschnitts auch sonstige
ähnliche Recapitulationen berücksichtigt werden, die etwa in der Rede
vorkommen. Es würde sehr zur Bestätigung der Interpolationshypothese
dienen, wenn sich eine Vorliebe des Interpolators für solche Recapitu-
lationen nachweisen liefse. Ganz dem soeben behandelten verwandt ist
nur ein Abschnitt der Rede § 125 — 129; ich werde auch seine
ünechtheit nachzuweisen suchen, folge aber zunächst dem Gang
der Rede.
Von § 74 med. iicel d* ovv — § 79 reicht der dritte Abschnitt der
Erzählung, der die Ereignisse der ersten Kriegsjahre umfafst und am
Schlufs den Streit der Könige und die Heeresversammlung des B er-
wähnt. In ihm ist ein directer Widerstreit mit der homerischen Auf-
fassung nirgends vorhanden. Es braucht ihm daher keine Argumentation
zu folgen, um abweichende Züge der homerischen Erzählung zu ent-
fernen. Vielmehr sind wir berechtigt, Fortsetzung der Erzählung zu
erwarten. Es mufste ein Abschnitt folgen, in dem die mit wechselndem
Glück geführten Kämpfe, welche die erste Hälfte der Ilias anfüllen, in
einer dem Zweck der Rede angemessenen Weise erzählt wurden. Natür-
lich konnte Dio nicht der homerischen Erzählung bis in alle Einzel-
heiten folgen. Alle retardirenden Momente mufsten wegbleiben, von
den Einzelkämpfen der Helden konnten nur die wichtigsten berichtet
werden. Aber die ganze Anlage der Rede forderte, dafs Dio selbst die
Kämpfe in grofsen Zügen vorführte; unmöglich konnte er sich mit
blofsem Raisonnement über die homerische Darstellung dieser Kämpfe
begnügen. Man darf nicht vergessen, dafs nach der eigenen Ankün-
digung des Redners § 43 die Erzählung den Kern der Rede, das
Raisonnement eine Zugabe zu der Erzählung bilden sollte. Nachdem
in den §§ 74 — 79 diejenige Periode des Krieges geschildert war, in der
grofse Feldschlachten zwischen den gesamten Streitkräften beider
Nationen nicht stattfanden, mufste im folgenden erzählt werden, dafs es
nun doch zu solchen Schlachten kam und wie sie verhefen.
Diesen berechtigten Erwartungen entspricht das Überlieferte nur
zum Teil. Erst von § 83 med. ^£ra dh zavra an kommt die Dar-
stellung auf den rechten Weg, indem die brauchbaren Züge aus der
homerischen Erzählung in einer Weise zusammengestellt werden, dafs
Dio als Sophist. 189
ein aDSchauliches und zusammenhängendes Bild von dem Gang der Er-
eignisse entsteht Die Quasi-Erzählung wird einmal unterbrochen durch
Bemerkungen über die Unwahrscheinhchkeit der von Homer berichteten
griechischen Siege § 86 med. xai raira — 87, dann in §§ 88 — 89
weitergeführt bis zum völligen Siege der Troer und zum Brande der
Schiffe. Nur an einer Stelle, gleich im Anfang, ist dieser Erzählung
ein fremdartiger Bestandteil eingefügt. Die Bemerkung über Zeus' Vor-
liebe für Ilion § 84 in. unterbricht den Zusammenhang. Denn nachdem
gesagt ist, Homer schildere Hektors Siege und die Niederlagen der
Achäcr, wenn auch widerwillig xal avarp^gwv €ig Tifiijv rov l4xM'io)g,
konnte unmöglich der Gedanke folgen: Zeus, der nach seinem eignen
Wort Ilios mehr als alle andern Städte hebte, kann es nicht um eines
JMannes Sünde willen jammervollem Untergang geweiht haben. Vielmehr
miifste sich an die Worte toi ^x^^^^^Q unmittelbar anschliefsen: o/ncog
di ovx olog ri iaviv u. s. w. Homer möchte zwar die Niederlagen der
Achäer zum Ruhme des Achilleus ausbeuten; dennoch ist er nicht im
Stande Hektors Heldenthaten zu verbergen. Der von mir als interpolirt
bezeichnete Satz müfste eine Einwendung Dios gegen Homers avaq)4Qeiv
elg Tifiijv Tov J^;f£>lA^wg enthalten. 0 372 wird in der That die Nieder-
lage der Achäer auf Zeus' Absicht, den Achill zu ehren, zurückgeführt.
Soll etwa jener Satz diesen Zug der homerischen Darstellung als un-
wahrscheinlich erweisen? Dann würde er wirklich an diese Stelle
passen. Aber diese Auffassung ist ganz unmöglich, weil bei den Worten
avatpfgwv elg Ttfuijv tov !dxt^)^io}g niemand genötigt ist an Zeus zu
denken und weil der Widerspruch der Trojanerfreundschaft des Zeus
nicht gegen sein gegenwärtiges Eintreten für Achill, sondern gegen die
Zulassung jammervoller Zerstörung llions hervorgehoben wird. Die
Nachweisung dieses letzteren Widerspruchs hat mit dem Gedankengang
der Stelle nicht das mindeste zu thun. Ob der Satz vom Interpolator
herrührt oder ein versprengtes Stück des ächten Textes ist, läfst sich
nicht entscheiden. Nach seiner Ausscheidung kann die ganze Partie
von § 83 med. iabtoi de ravra bis § 9t als wohl zusammenhängend
gelten. Sie umfafst die lliasbücher vom 0 bis zum 0, wenn auch in
»ehr vereinfachter und zusammengedrängter Form. Nur in dem ein-
gefügten Abschnitt über die ünwahrscheinlichkeit der griechischen Siege
werden Ereignisse aus früheren Büchern, aus dem E und H, behandelt.
Die Eingangsworte der Erzählung: juera de ratra för^ Td).r]d'rj liyei
sind sicherlich auf das 0 zu beziehen. Es müfste also, da in § 80 die
Erzählung bis zur Heeresversammlung des B geführt war, Dio in dem
190 Zweites Kapitel.
dazwischenliegenden Abschnitt § 81 (d^xQ'' — 83 wancQ (pLXiav mit
dem Inhalt der Bücher F — H irgendwie sich abfinden.
Prüfen wir nun, was dieser Abschnitt enthält, so finden wir nicht,
was wir auf Grund unserer Analyse des Zusammenhangs erwarteten.
Vor allem fehlt es an einer positiven Darstellung der auf die Heeres-
versammlung folgenden Ereignisse. Es ist doch unverkennbar Dies
Absicht, seinen Hörern den ganzen Verlauf des troischen Krieges, wie
sie ihn als geschichtlich glaubhaft statt der homerischen Sagenform an-
nehmen sollen, im Zusammenhange vorzuführen. Hier aber ist der Zu-
sammenhang unterbrochen. Was zwischen der Heeresversammlung des
B und den troischen Siegen des Q geschehen ist, wird nirgends er-
zählt. Man wende nicht ein, dafs zwischen diesen Ereignissen nichts
geschehen sei, was Dio seiner Erzählung einverleiben wollte und konnte^
und dafs die Erwähnung von Thatsachen aus dem E und Jf in § 86. 87
als eine genügende Abfindung des Redners mit diesem Teil der home-
rischen Erzählung gelten könne. Dieser Einwand wäre deshalb nicht
stichhaltig, weil die mit ^era de ravTa § 83 med. beginnende Erzählung
keinesfalls als directe Fortsetzung des § 80 endenden Erzählungabschnitts
gelten kann. Denn abgesehen davon , dafs doch mindestens das Zu-
standekommen der grofsen Feldschlacht mit ein paar Worten berichtet
sein mufste, ehe von dem Ausgang dieser Feldschlacht die Rede war —
abgesehen hiervon zeigen ja die Worte: ^era ök ravra ijdt] rakr^Oij
liyei^ dafs im vorausgehenden die homerische Darstellung bestritten
wurde. Nun ist aber eine solche Bestreitung weder in § 80 enthalten^
wo vielmehr die Richtigkeit der homerischen Darstellung zugegeben wird
{bfxoXoyei de ravra xal ^'Of^rjQog), noch in § 81, wo es heifst: (.lixQ^
/niv ovv TovTiov l(fe^r]g ov Ttavv (palverai twv avd-Qwnwv nara-
(pQOvwv "Of.irjQOQ', akka tqojcov riva exead-ai rakrjd'ovg. Allerdings
werden dem letzteren Urteil einige Einschränkungen beigefügt, die aber
den Hauptgedanken nicht so völlig aufheben^ dafs mit ^lera dh ravra
rjärj lakrj&rj Xiyei könnte fortgefahren werden. Es käme sonst fol-
gender logisch unmögliche Gedankengang heraus: bis hierhin hält sich
Homer im allgemeinen an die Wahrheit, aufser was den Raub der
Helena, den Zweikampf zwischen Alexander und Menelaos und deo
zwischen Aias und Hektor angeht, das weitere aber stellt er der Wahr-
heit gemäfs dar. Es kommt hinzu, dafs nach dem überlieferten Wort-
laut das relativ günstige Urteil über Homers Wahrhaftigkeit in § 81
((palverac — rgoTtov riva exeod-ai Takrj&oig) nur auf den vorauf-
gehenden Erzählungsabschnitt (§§ 74 — 80) bezogen werden kann, also
Dio als Sophist. 191
fiixQ^ 'tovTLJv bedeuten würde: bis zu der Heeresversammlung des B.
Daraus ergiebt sich die weitere Folgerung , dafs auch die drei Ein-
schränkungen, die sogleich hinzugefügt werden, Raub der Helena, Zwei-
kampf zwischen Menelaos und Alexandros, Zweikampf zwischen Aias und
Hektor, vorgebracht werden, als ob sie in den voraufgehenden Er-
zäblungsabschnitt hineingeborten, was doch nur für den Raub der
Helena zutrifft. Denn die Worte btl öh xbi tä ubqI Trjv fiovojucexlav
drücken eine vollkommene Gleichstellung dieser Einschränkung mit der
vorhergehenden aus, und desgleichen wird durch, die Worte: ipevöfig di
xal fi %ov uäiayrog xai tov 'EytroQog f40vo/iiaxicc die dritte Ein-
schränkung der zweiten coordinirt. Man könnte versuchen, diesem
Aostofs dadurch abzuhelfen, dafs man ^^x^t ^ihv ovv tovtuv {aal
TCüv) i(p€^^g schriebe. Aber es zeigt sich sogleich, dafs diese Änderung
nicht genügt, alle Anstöfse zu beseitigen. Es würde höchst auffällig
bleiben, dafs von jenen folgenden Dingen {twv iq)€^fig), also von dem
Inhalt der Rücker F — H, nur die Punkte mitgeteilt werden, in denen
Homer angeblich von der Wahrheit abweicht, nicht aber die, auf welche
das Gesamturteil: (paivetai tq/tiov riva ex^ad^ac Takrjd^ovg Anwen-
dung findet, dafs also eine „wahre Geschichte'^ von diesem Teil der
Ereignisse überhaupt nicht gegeben wird. Ich habe schon oben auf die
Forderung hingewiesen, dafs Dio seine „wahre Geschichte'^ vollständig
und zusammenhängend geben muffte. In der That wird auch dieser
Forderung sonst durchweg genügt. W'enn es an dieser Stelle nicht
geschieht, so ist dies ein Reweis, dafs uns der Text nicht in authen-
tischer Form vorliegt. Es fehlt etwas, das bei Dio selbst nicht fehlen
konnte, und es steht etwas da, was Dio so nicht sagen konnte. Vor
allem ist anstOfsig, dafs der Verfasser den Zweikampf des Alexandros
und Menelaos zuerst schlechthin ttjv fiovo/iaxlav nennt, als ob kein
weiterer Zusatz nötig wäre, um klar zu machen, welcher Zweikampf
gemeint ist, gleich darauf aber von einem andern Zweikampfe, dem
zwischen Hektor und Aias, redet. Auf den letzteren wird in § S6 noch
einmal Rezug genommen. Ferner sieht man nicht ein, warum in
diesem Zusammenhang bei Erwähnung des Helenaraubes so ge-
flissentlich hervorgehoben wird, dafs Homer nur gelegentlich auf ihn
Rezug nimmt, statt, wie sichs gehörte, selbst ausführlich davon zu be-
richten (o 7cdvTwv oacpioTara edei ^tj&ijvai xal fiera Tvkelairjg
anov^ijg). Dieser Gedanke wäre an seinem Platze, wenn es sich hier
darum handelte, die Glaubwürdigkeit der homerischen Erzählung vom
Helenaraube zu bestreiten. Das ist an einer früheren Stelle der Rede
192 Zweites Kapitel.
mit aller Ausführlichkeit geschehen, hier soll nur das Gesamturteil Ober
die relative Wahrhaftigkeit des homorischen Berichtes durch Hinweis
auf jenen längst erledigten Punkt eingeschränkt werden. Von diesem
Gesichtspunkte aus betrachtet erscheinen die Worte o navxwv aaq)ioxaxa
u. s. w. unangemessen. — Ich unterlasse eine weitere Prüfung der auf
die beiden Zweikämpfe bezüglichen Sätze, obgleich auch sie mehrere
Anstöfse enthalten. Das Gesagte reicht hin, um zu erweisen, dafs hier
ein Stück des dionischen Textes ausgefallen und die Lücke von einem
Interpolator in sehr ungeschickter Weise ausgefüllt worden ist.
Es folgt in § 92 die Ankündigung, dafs in der weiteren Erzählung
vom SchifTsbrande an, also in den Büchern 17 — ß, Homer sich gänzlich
von der Wahrheit entferne. Diese Ankündigung bildet den Übergang
zu der Fortsetzung der Erzählung § 93—97 med. ifirtg^aac vag vavg.
Bekanntlich läfst Dio statt des Patroklos den Achilleus selbst den
Griechen zu Hülfe kommen und im Kampfe von Hektor erlegt werden.
Um dies zu verhüllen, hat nach seiner Darstellung Homer den Patroklos
an Stelle des Achilleus unterschoben. Alles was Homer von dem Aus-
zug des Patroklos, seinem Kämpfen und Sterben erzählt, hat sich in
Wahrheit genau ebenso mit Achilleus selbst zugetragen. Auf die Er-
zählung folgt der zugehörige argumentirende Abschnitt § 97 med. tovtwv
öh ovTcog yevofiivwv — § 110, dessen Bestimmung ist, den ganzen Rest
der homerischen Erzählung bis zum Schlufs der Ilias, der ja in allen
seinen Teilen mit der dionischen Version unvereinbar ist, aus dem Wege
zu räumen. Das Hauptgewicht Hillt natürlich in dieser Beweisführung
auf die Nachweisung von Unwahrscheinlichkeiten in der Patroklie. Denn
wenn wir dem Redner glauben, dafs Patroklos hier an Achills Stelle
unterschoben ist, dafs in Wahrheit nicht Patroklos, sondern Achill
den Griechen schon damals zu Hülfe kam und von Hektor erlegt wurde,
so nillt damit der ganze Rest der Ilias in sich selbst zusammen. Dio
konnte dann alles weitere kurz abthun und zur Fortsetzung seiner Er-
zählung schreiten. Er konnte auch, wenn er wollte, in den letzten
Büchern der Ilias Unwahrscheinlichkeiten nachweisen und dadurch seine
Beweisführung verstitrken. Unbedingt nötig für den Zweck der Rede
war dies jedenfalls nicht.
Die Beweisführung verläuft ordentlich und, von Kleinigkeiten ab-
gesehen, in bestem Zusammenhange zunächst bis zu dem Abschlufs in
§ 102: „es kann daher keinem, der auch nur ein wenig Einsicht be-
sitzt, verborgen bleiben, dafs Patroklos untergeschoben ist, dafs Homer
ihn mit dem Achilleus vertauscht hat, um des letzteren Schicksal zu
Dio als Sophist 193
verhehlen/^ Dann folgt in § 103 noch ein Corollarium des Beweises,
das sich ebenfalls gut anschliefst : die Bemerkung über das Fehlen eines
besonderen Patroklosgrabes. Dagegen gehören die Worte von fiakiata
fikv ovv an nicht mehr zu dem Beweise; vielmehr geht Dio nunmehr
dazu über, den Inhalt der letzten Iliasbücher kurz zu erledigen. „Am
liebsten,'' sagt er, „hätte Homer den Tod des Achilleus ganz Terhehlt
und ihn überhaupt nicht vor lUon sterben lassen. Weil dies nicht an-
ging, da die Kunde verbreitet war und sein Grab gezeigt wurde, so hat
er ihn wenigstens nicht durch Hektors Hand sterben lassen, sondern
berichtet im Gegenteil, dafs jener von Achilleus erlegt wurde und noch
dazu sein Leichnam geschändet und um die Stadtmauern geschleift.
Und da er wiederum wufste, dafs es ein Grab Hektors giebt und dafs
ihm von den Bürgern göttliche Ehren erwiesen werden, so berichtet
er, dafs die Leiche auf Befehl des Zeus ausgeliefert wurde, nachdem
ein Lösegeld bezahlt war: bis dahin habe Aphrodite und Apollon für
Erhallung des Leichnams gesorgt.'' Offenbar ist es in diesen Sülzen
die Absicht des Redners, ganz kurz den Inhalt der letzten Iliasbücher
•
abzuthun, um dann in seiner Geschichte fortzufahren. Es werden nur
die Hauplthatsachen erwähnt und als weitere Lügen hingestellt, die aus
jener Hauptlüge sich mit Notw^endigkeit ergaben. Dem Zweck des
Redners würden diese Sätze vollkommen genügen. Er hat sich ja auch
sonst nicht die Pflicht auferlegt, der homerischen Erzählung bis in alle
Einzelheiten nachzugehen und sie zu widerlegen. Auch das folgende
bis § 106 7Coi7iaag rov ^dvarov möchte ich, im Widerspruch mit
meiner Ausgabe, jetzt für acht halten. Ich nahm damals Anstofs daran,
dafs hier unrichtig von Homer gesagt wird: rov üdXi^avdqov q>7]aiv
anoycT€ivai avrov. Es ist dies ein allzu ungenauer Ausdruck der
Thatsache, dafs X 360 der sterbende Heklor dem Achill weissagt: er
werde durch l*aiis und Phoibos Apollon ums Leben kommen. Jetzt
bin ich geneigt, dem Dio diese Ungenauigkeit zuzutrauen, wegen der
Schlufsworte von § 103 und der Anfangsworte von § 104, die anzu-
deuten scheinen, dafs wirklich von dem Tode Achills geredet werden
sollte. Bis zu den Worten noirjoag %ov ^dvarov § 106 reicht also
ein ununterbrochener Zusammenhang. Hier ist ein Ahschlufs der kri-
tischen Betrachtung gewonnen. Es könnte nun gleich milden Worten:
xa dk TtQayfiara ovriog elxBv zur Fortsetzung der „wahren Geschichte''
übergegangen werden (vgl. § llOexlr. § 111 ff.). Stattdessen folgt eine
neue, viel ausführlichere Wiedergabe der letzten Iliasbücher, die Dio
unmöglich neben der schon besprochenen geben konnte. Nachdem
V. Arnim, Dio. \^
194 Zweites Kapitel.
bereits der Tod Achills durch Paris berichtet war, geht es weiter:
Tikog di TtQoayei ijdrj Te&vrjxoTa tov ^x^kXia xai Ttoui fiaxo^evov»
Das Tikog dk zeigt, dafs diese Worte bestimmt waren, sich an die Be-
sprechung der homerischen Patroklie direct anzuschUefsen, die in § 103
endet. Sonst wtlrde ja auch ijörj ve^vr^xoTa auf den soeben berichteten
Tod Achills durch Paris bezogen werden müssen. Zu dem Abschnitt
§ 103 fidkiOTa fikv ovv bis 106 noitjoag xov d-dvarov stehen §§ 106
rikog di bis § 110 d^agQOvvTsg eygaq)ov im Verhältnis des Parallelismus.
Es sind Dubletten, wie sie durch Benutzung abweichender Nachschriften
von seilen des Herausgebers in den Gontext der Rede gelangen konnten.
Dafs diese Hypothese, die durch §§ 22 — 24 nahe gelegt wird, richtig
ist, lehren folgende Erwägungen. Neben einander konnten beide Ab-
schnitte nicht stehen, weil kein yernünftiger Grund den Redner ver-
anlassen konnte, den Tod Rektors und die Auslösung des Leichnams
zweimal zu besprechen. Der Zweck ist beidemal derselbe: die Unglaub-
würdigkeit dieser Geschichten darzulhun. Das leistet die erste kürzere
Fassung bei aller Knappheit ebensogut wie die längere. Das Verhähnis
der beiden Abschnitte ist auch nicht derartig, dafs man den kürzeren
als eine voraufgeschickte summarische Übersicht auffassen könnte, die
durch den längeren detaillirt und ausgeführt wird. Schon die An-
knüpfung mit Tslog de schliefst das aus. Es kommt hinzu, dafs sie
unter einander in Widerspruch stehen. Denn die erste Fassung läfst
den Homer die Tötung Achills durch Paris erzählen (§ 105 tov
^AXi^avÖQov cpriaiv aTcoxreivat avTov), während die zweite Fassung
§ 109 ausdrücklich hervorhebt, Homer habe den Tod Achills nicht er-
zählt; denn er habe sich geschämt, den Toten nochmals umbringen zu
lassen. Die beiden Fassungen, die sich so widersprechen, waren also
nicht bestimmt, neben einander zu stehen, sondern die eine sollte an
die Stelle der andern treten. Dadurch ist die Interpolationshypothese
von vornherein ausgeschlossen. Es bleibt nur die Annahme übrig,
durch die ich die ähnliche Erscheinung in §§ 22 — 24 erklärt habe,
die Annahme, dafs der Herausgeber verschiedene Nachschriften der
Reden neben einander benutzte, die deswegen so stark von einander
abwichen, weil Dio seihst bei der Wiederholung der Rede den W'ortlaut
modiGcirt hatte.
Es folgt ein ungewöhnlich langer Erzählungsabschnitt §111 — 124.
'Nach dem Tode Achills geben die Griechen die Hoffnung auf, Troia zu
erobern. Am liebsten würden sie sogleich in ihre Heimat zurückkehren.
Nur weil sie dann eine Offensive von seilen der Troer zu erwarten
Dio als Sophist. 195
hfttten, setzen sie den Krieg fort, um wenigstens einen leidlichen Frie-
den zustande zu bringen. In den erneuten Kämpfen, die nun folgen,
erleiden auch die Troer empfindliche Verluste, die sie zum Friedens-
schlufs geneigt machen. Der Friede kommt zustande. Es wird be-
schworen, dafs künftig weder die Griechen gegen Asien noch die Troer
gegen die an dem Vertrag beteiügten griechischen Landschaften einen
Angriffskrieg unternehmen werden. Das hölzerne Pferd wird als Sühne-
geschenk von den Griechen der ilischen Athena dargebracht Die Grie-
chen ziehen ab, Helena heiratet den Deiphobos, Priamos geniefst einen
friedlichen Lebensabend, stirbt eines natürlichen Todes und hinterläfst
die Herrschaft dem Skamandrios. — In dieser Erzählung ist an einer
Stelle eine deutliche Spur doppelter Recension geblieben ; ich meine die
zweimalige Erwähnung der tötlichen Verwundung des Memnon in § 117:
irgoid'r] dh xal airog 6 Mifxvwv vno tov uivTikoxov xal anoxofxi"
^fievog Tgav^arlag Tekevz^ naza Trjv odov. [avvißrj dk aal %oig
^uixotioig eirj^CQ^aai %6%b wg ov TiQOfBißOv. 6 te yoQ Mifxvwv fiiya
a^lwfxa 'ixiov eTQw^rj xaiQiaig] Tijv xe ^A^atjcva CL7ti%xeLve NeoTtto-
Jie^og etc. Die zweite Fassung, die ich in Klammern eingeschlossen
habe, ersetzte die ausgeschriebenen Worte vor der Klammer. Sie ist
die bessere von beiden. Aber auch die erste ist unanstofsig. Inter-
polation scheint mir ausgeschlossen.
Es folgt § 124 med. %av%a dk £%ovTa der zugehörige argumenti-
rende Abschnitt, der passend eingeleitet wird durch den Satz: „Ich weifs
wohl, niemand wird an die Wahrheit dieser meiner Erzählung glauben;
alle werden sie für erlogen halten, mit Ausnahme der Verständigen,
nicht allein die Griechen, sondern auch ihr. Denn gegen Verleum-
dung und lange Zeit eingewurzelten Irrtum ist schwer aufzukommen.
Doch überleget euch einmal, wie lächerlich die entgegengesetzte Dar-
stellung ist, sobald man einmal absieht von der herrschenden Meinung
und Voreingenommenheit.^ Der Ausdruck ravavTia ist zwar hier nicht
so angemessen wie in § 54 oi^otzbl ök rijv evrj-d-eiav tov evavriov
Xoyov. Doch will ich daraus keinen Verdacht gegen die Ächtheit dieses
Satzes ableiten. Dagegen unterliegen die folgenden §§125 — 129 den
schwersten Bedenken. Zunächst zerfällt das Ganze in zwei parallel laufende
Abschnitte, die sich zum Teil Satz für Satz entsprechen, zum Teil aber
auch widersprechen. Die Entsprechung läfst sich so veranschaulichen:
1. TtQOTBQOv dh €va avdga nav-
%wv fjTTWfiivwv Ixavov yeviö^ai
yvfxvov ifticpavivTa rij (ftjyfj tqi-
6 fihv i^x''^^^S TtQorjTTrjfiivwv
Twv lAxaidv ovx eig ana^ ovdk
%u}v akkwv fxovov, ctXXa %al zrjg
13*
196
Zweites Kapitel.
iavjov OTQaTcag, ptovog negiye-
vofxevog xal tooovtov ta ngay-
fdctva (letaßahiv.
xpaad^ai Toaavrag fivQiddag, xal
^eta TOVTO onXa oix Mxovra, hc
%ov oigavov Xaßovra vixfjaai Tovg
fii^ TCQoiBQOv ri^igif xQctfovrfag
xai dicixeiv aTtavzag eva ovra,
2. avzdv de ixelvov tooovtov
vnBQixovxa aTto&avelv y vno xov
TtavTüßv xaxlatov t^v ipvx^^v, dg
avTol q)aatv
3. akXov TB OTCod'avovTog akkov
axvXevdijvat
4. ^qv(^ dk kxelvof %vjv riye/ÄO-
rwv fjtri yeviad'ai zcKfov
5. akXov äi tiva rdjv agloTOßv
toaavra errj noXefAovvxa vnb fikv
%wv TtoXefjiiiDv fxrjdevog aTtod'a-
veiv' avTov dh oQyiad'ivTa amo-
aq>a^aL, xal zavra doxovvza oe-
fxvozavov xal TCQtjtoiaiov elvat
raiv ovfifxdxojv»
Diese fünf Punkte folgen sich in beiden Fassungen in gleicher
Reihenfolge. Der Umstand, dafs die zweite Fassung die Namen der
Personen nennt, die in der ersten fehlen, erweckt den Anschein, dafs
die zweite eine Erlituterung der ersten vorstellen soll, zumal sie mit
den Worten raira yag kaziv etc. § 127 causal angeknüpft wird. Aber
abgesehen von der rednerischen Ungeschickhchkeit eines solchen Ver-
fahrens ist die Erklärung zu verwerfen wegen des in einem Punkte
hervortretenden Widerspruchs zwischen beiden Fassungen:
(xvzbg dh ^'Exzoga fikv anoxiel-
vag, vTio dh ^AXe^avdgov ano-
&vfjOx(ov, og f]v vatoTog %wv
Tqwwv, wg avTol kiyovai
Tlargoxkov dh anod'avovzog
axvXevofjiBvog 6 ^AxiXkBvg xal zd
kxeLvov Xricp^ivza onXa
6 dh ndzQoxkog oh zatpelg
inBidri dh AXavzog rjv zdq>og xal
ndvzeg jjdeaav avzov Iv Tgolijc
zeXevrrjoavza, %va dh (lij Tcoii^af]
zov anoxzeivavza evdo^oVy avzog
avzov dvehiv.
xqvcpdrivai fxhv Iv zot %7i7C(i)
ozgdzevfia oXov, zwv dh Tgciiov
firjddva aia^dvea^ai zovzo jtitjdh
VTtOTVZBvoaiy xal raiza fidvzewg
ovarjg nag^ avzolg dipevdovg,
dXXd xofilaat zovg TtoXe^lovg di^
avzcüv elg zijv itoXiv,
Iv dh z(p %7t7t(^ zip ^vXivifi azgd-
zevfxa dv^gwnwv anoxgvfpd'iv, ol
dh Tgaieg VTtorczevaavzeg ^hv zd
Ttgdyfxa xal ßovXevad^evoi xorra-
xavaat zbv ^nrtov rj diazBfjtelv,
fiTjdhv dh zoiziüv Ttoir^oavzeg,
a),Xd TtLvovzeg xal xa&evdovzeg,
xal zavza TtgoetTtovarjg avzolg
zfjg Kaaadvdgag.
Durch den Widerspruch in diesem einen Punkte (der in der erstea
Dio als Sophist. 197
Fassung am Anfang, in der zweiten richtiger am Schlufs berührt wird)
ist bewiesen, dafs nicht beide Abschnitte neben einander stehen konnten.
Aufserdem giebt es drei Möglichkeiten: es können entweder beide Fas-
sungen oder eine oder keine von beiden von Dio sein.
Beide könnten nur in dem Sinne von Dio sein, wie wir dies bei
den Dubletten in §22 — 25 annahmen, nämlich so, dafs bei einer Wieder-
holung der Rede die zweite Fassung die erste ersetzte. In den beiden
andern Fällen müfste ein Interpolator (oder gar zwei?) im Spiel ge-
wesen sein.
Der Beweis, dafs weder beide Fassungen dionisch sind, noch auch
nur eine von beiden, läfst sich aus gewissen Mängeln, die beiden ge-
meinsam sind, erbringen. Vor allem ist die Wiederholung längst ab-
gethaner Dinge befremdlich. Der voraufgehende Ei^ählungsabschnitt be-
ginnt mit der Abfahrt der griechischen Schiffe nach dem Tode Achills.
Es folgt ihre Rückkehr, die Erneuerung der Kämpfe, der Tod des Aias
und Antilochos, der Amazone und des Memnon, endlich der Friedens-
achlufs, die Weihung des hölzernen Pferdes und die Heimkehr. Diesen
Dingen konnten als Tctvavxia nur gegenübergestellt werden der Schein-
abzug der Griechen nach Tenedos, die Überlistung der Troer durch das
hOkerne Pferd, die Eroberung und Zerstörung Troias. Der Tod des
Patroklos, Achills Auftreten als Rächer in den von Hephaistos geschmie-
deten Waffen, sein Tod durch Paris waren schon in der vorigen Argu-
mentation erschöpfend behandelt. .Ja sogar der Selbstmord des Aias,
der besser hierher zu passen scheint, war schon § 105 im gleichen
Sinne erwähnt. Unmöglich können wir dem Dio einen so plumpen
Verstofs gegen die in der ganzen Rede durchgeführte Disposition zu-
trauen. Besonders befremdlich ist es, dafs in beiden Fassungen von
Patroklos' Verlust der Waffen und dem Fehlen seines Grabes erst nach
der Erlegung Achills durch Paris die Rede ist. Höchst ungeschickt
wirkt in der ersten Fassung, dafs nach dem Satz über das hölzerne
Pferd mit Ttgozegov ök auf die frühere Zeit zurückgegriCTen wird.
Warum, fragt man unwillkürlich, hielt sich der Redner nicht an die
Zeitfolge der Ereignisse? Ferner steht der Schlufssatz der ersten Fas-
sung (rov öi TtoiTjrfjV TtQo&iixBvov — öuX&elv) in Widerspruch mit
dem regierenden Satz aller dieser Inünitive: axoTteire di Tavavrla
Tttag loxi yeXola. Denn dafs Homer die Eroberung Troias nicht er-
zählt, kann doch unmöglich eine der voraufgehenden Erzählung ent-
gegenstehende Thatsache genannt werden. Endlich hat sich die Form
recapitulirender Aufzählung schon an einer andern Stelle der Rede ver-
198 Zweites Kapitel.
dächtig erwiesen. — Während in dem Überlieferten allerhand Unwahr-
scheinlichkeiten hergezählt werden, die nicht an diese Stelle gehören,
wird der Gegenstand selbst, den man hier in erster Linie behandelt zu
sehen erwartet, die Eroberung Troias, in der ersten Fassung kaum ge-
streift, in der zweiten auch nicht erschöpfend behandelt. Natürlich
mufste die Rede in dem Beweis, dafs Troia nicht von den Griechen
zerstört wurde, ihren Höhepunkt erreichen. Hier mufste der Redner
seine Kunst im iTttxeiQBlv entfalten. Es ist undenkbar, dafs er diesen
Hauptpunkt in so dürftiger und stümperhafter Weise sollte erledigt
haben. Freilich sind ja mit § 129 die Erwägungen über die Wahr-
scheinlichkeit der Zerstörung Troias in keinem Falle beendet. Auch
die Nachgeschichte des Krieges, bei den Griechen wie bei den Troern,
wird in § 130 — 144 hauptsächlich betrachtet, sofern sie Rückschlüsse
auf den Ausgang des Krieges gestattet. Dieser Abschnitt kann also,
obgleich das erzählende Element in ihm überwiegt, mit zu dem Beweis
der Hauptthese gerechnet werden. Aber es ist nicht anzunehmen, dafs
der Beweis durch Rückschlüsse den aus der Sache selbst zu führenden
so stark und so einseitig überwog. Ich komme daher zu der Ansicht,
dafs das in § 125 — 129 Oberlieferte aus zwei Interpolationen besteht,
die an Stelle des ächten Textes getreten sind. Von einem einzigen
Interpolator kann das Ganze nicht herrühren, wegen des oben nach-
gewiesenen Widerspruchs. Die Verbindung der beiden Teile zu einer
scheinbar einheitlichen Gedankenreihe, d.h. der Satz: Tavra yag iotiv
U.S.W, in §127, mufste dann von einem dritten herrühren. Dem In-
halte nach könnten § 128. 129 dionisch sein, aber der Form nach er-
scheinen auch diese Paragraphen des Redners unwürdig.
Die Aufnahme dieser beiden Interpolationen in unseren Text und
das Fehlen der entsprechenden Teile des ächten Textes, kann auf dop-
pelle Weise erklärt werden. Entweder hatte der den Interpolatoren
vorliegende Text an dieser Stelle eine Lücke und ihr Bestreben war
durch Ausfüllung dieser Lücke den Zusammenhang herzustellen; oder
sie glaubten es besser machen zu können als Dio und ihre Interpolationen
verdrängten den ächten Text. Das erslere scheint zunächst glaublicher,
zumal es sich in § Sl — 83 offenbar um Ausfüllung einer Lücke han-
delt. Dagegen haben wir in § 68 — 70 med. einen Interpolator kennen
gelernt, der nicht um fehlendes zu ergänzen^ sondern aus eigenem
rednerischem Trieb den dionischen Text durch eine Einlage erweiterte ;
und gerade mit jener Stelle zeigt die uns jetzt beschäftigende auffällige
Verwandtschaft. Beide geben statt zusammenhängender Erörterung eine
Dio als Sophist. 199
Aufzählung der bei Homer angeblich Yorkommenden Un Wahrschein-
lichkeiten, in der jedes einzelne Kolon möglichst kurz formulirt wird
und die Form der Aufzählung dadurch dafs alle Kola mit di angeknüpft
werden, stark accentuirt wird. Diese Form, die den rhetorischen Zweck
bat, von der grofsen Zahl der Gründe dem Hörer ein lebhaftes Gefühl
zu erwecken, wird zwar auch von Dio selbst in den §§ 153. 154 an-
gewendet. Aber was dort augemessen ist, wo es gilt den Ton zu steigern
und der Rede einen efTeclvollen rhetorischen Abschlufs zu geben, ist an
den beiden anderen Stellen geschmacklos. In §68 ff. steht die Auf-
zählung nicht am Abschlufs eines Teils, sondern unterbricht eine ruhige
sachliche Erörterung. Ähnhch ist das Verhältnis bei §125 — 129.
Denn von § 130 an wird der Beweis, dafs Troia nicht von den Griechen
zerstört wurde, im Tone ruhiger Erörterung, ohne anaphorische Auf-
zählung, obwohl deren Verwendung auch hier nahe lag, fortgesetzt.
Es wäre eine rhetorische Unschicklichkeit, dieser ruhigen mit Raisonne-
ment vermischten Erzählung eine solche anaphorische Aufzählung vor-
angehen zu lassen. Weil beide Interpolationen diese Eigentümlichkeit
gemein haben, möchte ich sie aus dem gleichen Streben nach Steigerung
der rhetorischen Wirkung herleiten und nehme daher an, dafs es sich
auch an der zweiten Stelle nicht um Ausfüllung einer Lücke handelt.
Es ist dies, was ich rhetorische Interpolation genannt habe. Man mufs
sich dabei der oben mitgeteilten Klagen Galens und Dios selbst über
die willkürliche Abänderung ihrer Vorträge erinnern. Wenn der
Herausgeber auf die Benutzung solcher interpolirten Exemplare der
Rede angewiesen war, so spricht das wohl gegen das Vorhandensein
einer authentischen Ausgabe.
Natürlich wird durch diese letzten Betrachtungen der Zweifel nahe
gelegt, ob an den anderen Stellen, wo unser Text Dubletten enthält,
beide Fassungen dem Autor gehören. Ist dies nicht der Fall oder
wenigstens nicht sicher, so sind auch die Schlüsse ungültig, die wir
aus dem Zustand der Oberlieferung auf die Productionsweise des
Redners gezogen haben. Woran sollen wir erkennen, ob der Autor
selbst oder ein anderer die Rede in modiGcirter Form wiederholt hat?
Den anderen werden wir in vielen Fällen an den Incongruenzen er-
kennen, die er unbewufst in das fremde Werk hineinträgt. Aber es
kann ihm gelegen thch auch so gut gelingen, dafs dieses Kennzeichen
versagt.
Diesem Einwand gegenüber mufs ich zugeben, dafs nicht in allen
Fällen eine sichere Entscheidung möglich ist. Aber mit grofser Wahr-
200 Zweites Kapitel,
scheinlichkeil wird man dem Autor selbst solche ModificatioDen zut
schreiben dürfen, die zwecklos und doch durchaus unanfechtbar sind.
Wer die Rede eines anderen auf Grund einer schriftlichen Vorbge
wiederholt, wird Änderungen, Zusätze, Fortlassungen^ nur aus bestimniteii
GrOnden, zumeist uro der rhetorischen Wirkung willen, sich erlauben.
Dagegen ist eine rhetorisch zwecklose Variation des Wortlautes, wie wir
sie in § 22 — 24 beobachtet haben, nur dem Autor selbst zuzutrauen.
Darum bildet diese Stelle die festeste Grundlage unserer Hypothese.
In der Nachgeschichte des Krieges, die § 130 — 144 erzählt und
zum Beweis der These benutzt wird, dafs Ilion nicht von den Griechen
erobert wurde, ist der erste, die Griechen betreffende Teil in guter
Ordnung (§ 130—136). Dagegen ist der zweite, die Trojaner angehende
Teil (§ 137 — 144) vielleicht das merkwürdigste Beispiel des Nebenein-
anderstehens paralleler Fassungen, das uns bisher begegnet ist. Denn
wenn nicht alles täuscht, stehen hier nicht weniger als drei Darstellungen
derselben Sache hintereinander. Dafs unter Aineias, Antenor, Helenos
Colonieen von Troia ausgehen und fern von der Heimat mächtige Staaten
gründen, wird dreimal erzählt und als Beweis für den dem troischen
Volke günstigen Ausgang des Krieges ausgebeutet. Bei oberOächlichem
Lesen kann man sich vielleicht der Täuschung hingeben, dafs die
Wiederholungen nur aus einer gewissen Redseligkeit und Umständlich-
keit des Autors hervorgehen, beabsichtigt sind und nichts gegen die
Einheithchkeit der Darstellung beweisen. Aber bei näherem Zusehen
schwindet diese Täuschung. — Belehrend ist namentlich, was an ver-
schiedenen Stellen über die Ansiedelung des Helenos gesagt wird. An
der ersten Stelle (§ 137) heifst es, dafs Helenos elg fiiar]v aq)ix6fi€vog
T'^v ^EXXada König der Molosser und des Thessalien benachbarten Epi-
rus wurde. Gerade an die Erwähnung von Hellas knüpft sich die wei-
tere Betrachtung. „Ist es wahrscheinlich, dafs die Besiegten nach dem
Lande der Sieger fuhren und bei ihnen als Könige herrschten, oder
dafs im Gegenteil die Sieger zu den Besiegten kamen? Wie kommt es;
dafs Aeneas, Antenor, Helenos, wenn sie aus dem zerstörten Troia
flüchteten, nicht überallhin lieber flüchteten als gerade nach Hellas und
Europa, dafs sie sich nicht lieber begnügten, in Asien ein Gebiet zu
besetzen, statt gleich nach dem Lande derer ihre Fahrt zu richten, von
denen sie aus ihrer Heimat vertrieben waren? Wie kommt es, dafs sie
alle über grofse und berühmte Länder Könige wurden?" Auch Hellas,
geht es dann weiter, hätten sie in Besitz nehmen können. Doch ent-
hielten sie sich dessen aus Achtung vor dem beschworenen Vertrage.
Dio als Sophist. 201
Immerhin nahm Helenos ein nicht geringes Stttck davon hinweg, nftm-
lich Epirus. — Hier hegt wenigstens in den Worten ein Widerspruch,
den niemand hätte begehen können, der in einem Zuge den ganzen
Abschnitt schrieb oder sprach. Nachdem nicht nur berichtet, sondern
auch als das bezeichnende hervorgehoben war, dafs Helenos gerade nach
Hellas ging und dort, mitten im Lande der angeblichen Besieger seines
Volkes, ein Königreich gründete, konnte unmöglich fortgefahren werden:
,«sie hätten auch Hellas in Besitz nehmen können, unterliefsen es aber
wegen des Vertrages.'' Denn durch diese Fassung des Satzes wird ja
der Kernpunkt der voraufgehenden Betrachtung in Frage gestellt; und
daran ändert es nichts, dafs gleich über Helenos ein einschränkender
Zusatz gemacht wird. Die Incongruenz hegt im Ausdruck, nicht in der
Sache. Sachlich ist es kein Widerspruch, dafs Helenos ein aufserhalb
des Vertragsgebiets belegenes hellenisches Land besetzt, während das
Vertragsgebiet selbst von ihm wie von den andern troischen Colonisten
respectirt wird. Aber gerade das entscheidende Moment, dessen Er-
wähnung die Vereinbarkeit beider Thatsachen klarstellen wtlrde, nämlich
die Abgrenzung des Vertragsgebiets (vgl. § 122), wird hier nicht erwähnt.
Daher ist in den W'orten ein Widerspruch vorhanden. Helenos geht
elg ^iarjv r^v ^Ekkada und gründet dort ein Reich; und gleich darauf
heifst es: sie hätten auch Hellas in Besitz nehmen können, alX arcei-
Xovxo di^a Tovg ogxovg. Noch sUtrker macht sich die Incongruenz
fühlbar, wenn man die griechischen Worte ansieht. Die Participialcon-
struction: i^ov avToig xai rf^v 'Ekidda xaraaxslv konnte nicht so an
die voraufgehende directe Frage: nwg de ißaalkevaav u. s. w. ange-
schlossen werden. Das Particip kann weder causal noch concessiv ge-
fafst werden. Es ist überhaupt keine innere Beziehung zwischen dem
Inhalt der Participialconstruclion und dem des Fragesatzes vorhanden.
Dieser hat negativen Sinn: „wenn sie aus dem zerstörten Troia geflüchtet
wären, hätten sie nicht Könige über grofse Länder werden können.^
Er bildet ein Glied in der Kette indirecter Beweise, die die Zerstörung
Troias widerlegen sollen. Dagegen konnte der Inhalt der Participial»
construction nicht dieser Widerlegung dienen, also auch nicht dem
Fragesatz subordinirt worden. Die Thalsache, dafs Helenos von dem
eigentlichen Griechenland sich fernhielt, spricht nicht gegen die Zer-
störung Troias; und dafs er es um des Vertrages willen thal, konnte
im Zusammenhange dieser Widerlegung nicht vorausgesetzt werden, weil
es zum demonstrandum gehört.
Wenn so die beiden ersten Erwähnungen des Helenos nicht gut
202 Zweites Kapitel
zusammengehen, steht die dritte (§ 142) unzweifelhaft mit beiden in
Widerspruch. Denn die Behauptung: wg l(p eroif^ov ttjv 'Ellada
Tckevoai avTov aal xazaax^lv oXr^v ttjv %Y.onovdov stimmt
nicht zu den Angaben der ersten und zweiten Stelle, die das Herrschafts-
gebiet des Helenos auf Epirus und die Molosser beschränken. Nach § 122
waren aufser Epirus auch noch andere griechische Landschaften von dem
Vertragsgebiet ausgeschlossen. Diese dritte Erwähnung des Helenos gehört
zu einem wohl zusammenhängenden Abschnitt, der von § 140 — 144 med.
XOiQla reicht und die troischen Colonisationen ohne viel Raisonnement
in pragmatisirender Geschichtsdarstellung erzählt. An sich würde man
sehr geneigt sein, diesen Abschnitt neben dem früheren Bericht über
diese Colonisationen als weitere Ausführung gelten zu lassen. Der Ge-
dankengang wäre dann folgender: „Aeneas hat Italien, Helenos Epirus,
Antenor das Veneterland colonisirt (§ 137). Das wäre nicht möglich
gewesen, wenn sie das zerstörte Troia als Flüchtlinge verlassen hätten.
In Wahrheit hat sich die Sache folgendermafsen zugetragen.*^ Wenn
nur nicht der Widerspruch inbetreff des Herrschaftsgebiets des Helenos
diese Auffassung unmöglich machte ! Es kommt hinzu, dafs die Anknüpfung
des ganzen Abschnitts, § 140 in. tov öh'^'ExtoQa q>aatv u. s. w., nicht
zu ihr stimmt. Es müfste irgendwie ausgedrückt sein, dafs nunmehr im
Gegensatz zu der falschen Annahme^ die in § 139 widerlegt wurde, der
wirkliche Verlauf der Ereignisse erzählt werden soll. Dazu stimmt weder,
dafs Hektors Name emphatisch vorangestellt wird, noch das (paaiv^ das
ungeeignet ist, die geschichthebe Thatsächlichkeit zu der verbreiteten
falschen Ansicht in Gegensatz zu stellen. Es ist also auch hier, ganz
abgesehen von der Unvereinbarkeit des Inhalts, die Form der Anknüpfung
keine befriedigende und wie vor l^ov § 138, die Fuge kenntlich.
Ich komme daher zu dem Schlufs, dafs uns drei Fassungen des auf die
troische Colonisation bezüglichen Abschnitts vorUegen. 1.) § 137 — 138
med. avcjyvfiwv x^Q^^^' Diese Fassung scheint im allgemeinen voll-
ständig erhalten, nur dafs wohl, wie ich schon in meiner Ausgabe ver-
mutete, eine Erwähnung Antenors nach EvQOJTcrjg ausgefallen ist. Denn
es ist unschicklich, dafs der Name Antenors in dem erzählenden Teile
fehlt und dann in dem argumentirendcn unerwartet auftaucht, der doch
aus jenem seinen Stoff nimmt. Ein wiederholtes tovto dk konnte den
Ausfall veranlassen. Davon abgesehen hat dieser Abschnitt vollkommene
Autarkie. Er enthält alles wesentliche, was Dio über die troische Coloni-
sation zu sagen hatte. Unzweifelhaft konnte sich an die Worte avaivv-
fiiüv xo)qIü}v direct anschliefsen § 144 med. öoTig äk firj Tceld-evat Tovzoig
Dio als Sophist. 203
u. s. w. 2.) § 138 med. i^ov avxolg u. s. w. — 139 övvaxbv yevia^ac,
AVeno wir diesen Abschnitt an den Anfangssatz des § 137 tot fikv dfj —
iyivero anschliefsen , so entsteht ebenfalls eine in sich abgeschlossene,
alles wesentliche enthaltende Darstellung. Man wird nicht leugnen
können^ dafs die Parlicipialconstruction i^ov avtoig xal rfjv ^Ei.Xaöa
xaxaoxBlv sich an den Satz: xa öl zdv Tqcjwv — htixvöiateQa
iyivevo weit passender anschliefsen würde, als an den jetzt voraus-
gehenden Fragesatz. Sollte Jemand diesen Anschlufs nicht ganz be-
friedigend Gnden, so könnte ein S<itzchen, das die troische Colonisation
im allgemeinen ohne Namennennung charakterisirte , ausgefallen sein.
Nötig scheint mir diese Annahme nicht. Auch diese Fassung, wie die
erste, besteht aus Bericht und Argumentation. Erst wird das Schicksal
der drei troischen Fuhrer kurz angegeben (was ganz überflüssig gewesen
wäre, wenn § 137 vorausgegangen war), dann folgt die Beweisführung.
Den Worten: Ttcig — ovdi xojcov tlvcc rjyci/twv xatakaßovreg Tqg
uialag aus der Beweisführung der ersten Fassung entspricht hier: (eixog
Tjv) ayanav ei xig avrovg eXa xarotyieiv. Diese Wiederholung des
gleichen Motivs wäre befremdlich, wenn eine einheithche Darstellung
vorläge. Die Schlufsworte : akka ro yevofievov övvatov yevia&ai, die
wegen ihrer Abgeschmacktheit nicht von Dio selbst herrühren können,
scheinen mir bestimmt, zu dem folgenden Abschnitt eine Brücke zu
schlagen. Es ist wohl gemeint: „die Colonisation durch Flüchtlinge ist,
wie soeben erwiesen, unmöglich; das Geschehene hingegen (was sogleich
erzählt werden soll) ist möglich.^' Dafs sich Dio so albern und un-
logisch nicht ausdrücken konnte, ist ohne weitere Beweise klar. Wohl
aber konnte ein Interpolator auf diese Weise die Fuge zu verschmieren
suchen. — Diese zweite Fassung ist nicht allein die kürzeste, sondern
auch die schlechteste ; namenthch der Satzbau in § 139 läfst zu wünschen
übrig. Schwerlich rührt sie^ wie die beiden andern , von Dio selbst
her. 3.) § 140 — 144 med. x^Q''^' Dieser Abschnitt kann nicht ohne
weiteres an den gemeinsamen Kopf aller drei Fassungen § 137 za fikv
(Jj) — i/itxvöiaT€Qa lyiveto angeschlossen werden. Es ist dazu nötig,
ytxQ für öi herzustellen. Auch in $ 137 wird ja der Bericht über die
Colonisation mit rovto fxhv ydg angeschlossen. Das cpaaiv ist nun
nicht mehr anstöfsig. Aber Bedenken gegen die Autarkie dieses Ab-
schnitts könnten noch erwecken die Worte in § 140 ovtu) öe ttjv
anoixLav axeiXat. Denn da, nach unserer Hypothese, von dem Auszug
des Aeneas bisher noch nicht die Rede war, ist der bestimmte Artikel
unangemessen. Man könnte zwar r^v ajtoixlav als „die allbekannte
204 Zweites Kapitel.
Coionie des Aeneas'^ erkliiren. Dafs sich's um Aeneas handelt, ist ja
bereits gesagt. Aber ich würde doch vorziehen, den Artikel zu streichen.
Seine spätere Hinzufügung erklärt sich leicht, weil in dem überlieferten
Text schon an zwei frühereu Stellen von dieser Coionie die Rede war.
Mit diesen beiden Änderungen würde ich auch den dritten Abschnitt
für eine vollständige und dem Zweck des Redners genügende Dar-
stellung der troischen Colonisation halten. Es fehlt allerdings die den
beiden ersten Fassungen gemeinsame Argumentation, dafs Flüchtlinge
eine so erfolgreiche Colonisation nicht hätten ausführen können. Aber
die Worte in § 142: ovTwg dij Trjv anoixlav yevio&ai and laxvog
xal q)QOvi]fiaTog vno %e avd'QOJTtwv evtvxovvraiv enthalten implicite
dieses Argument und sind vollkommen verständlich, auch wenn die Un-
wahrscheinlichkeit der entgegenstehenden Auffassung nicht vorher jene
Besprechung gefunden hatte, auf die sie in dem überlieferten Text
zurückzudeuten scheinen.
Nachdem wir uns durch die sophistische Epideiktik unsers Autors
hindurchgearbeitet und bei Werken lange verweilt haben, deren abso-
luter litterarischer Wert gering ist und deren gerechte Würdigung aus
dem Zeitgeschmack uns schwer fällt, freuen wir uns, ihm auf einem
andern Felde zu begegnen und ihn Töne anschlagen zu hören, denen
wir heber unser Ohr leihen. Es bleiben uns noch zwei Werke zu be-
sprechen, die sich zwar durchaus im Rahmen der sophistischen Rede-
kunst halten, aber nicht jener spielerischen Epideiktik angehören, die
uns bisher hauptsächlich beschäftigt hat: die 46. und die 31. Rede.
Sie erinnern uns daran, dafs zum sophistischen Ideal mehr gehört als
jene Schönrednerei. Wenn diese auch in der Ausübung überwiegt, der
Theorie nach ist der Sophist vom TCohziTcdg avrJQ und von dem
„Redner^* Quintilians nicht verschieden. Dio war auch in seiner
rein sophistischen Zeit kein blofser Prunkredner. Er beteiligte sich an
der Verwaltung seiner Vaterstadt, bekleidete Gemeindeämter, war als
Sachwalter thätig, und nur wenn weder eigne noch städtische Angelegen-
heiten ihn in Prusa festhielten, führte er sein Talent spazieren. Es
mufs uns sehr willkommen sein, in der 46. Rede ein Erzeugnis seiner
sophistischen Zeit zu besitzen, das ihn uns von dieser neuen Seite zeigt.
9ie40.Rede. Die 46. Rede trägt den Titel 7CQd tov q}iXoaoq)€iv iv rfj Ttaigidi.
Natürlich kann man die Angabe des Titels nicht als Zeugnis für die
frühere Abfassung der Rede verwerten. Die Reden tragen notorisch
grofsenteils unrichtige Titel. Der Urheber jener Überschrift hat es
sicherlich nur aus der Rede selbst herausgelesen, dafs sie aus der Zeit
Dio als Sophist. 205
vor Dios Bekehrung stammt. So gut wie er, müssen auch wir die
Merkmale der ersten Epoche entdecken können; und wenn wir sie
nicht entdecken oder was ihm als solches erschien, anders deuten,
werden wir seine Vermutung verwerfen. Es zeigt sich aber, dafs die
Notiz von einem verständigen, fein beobachtenden Manne stammt; un-
zweifelhaft hat er richtig geschlossen.
Die Hauptstelle, die allein zur Entscheidung ausreicht, stelle ich
voran. In § 7. 8 sagt Dio: „Ich persönlich aber bin zwar kein über-
gewaltiger Redner, aber doch — das glaub' ich sagen zu dürfen —
nicht der allergeringste in dieser Kunst. Giebt es nun einen, dem ich
durch Reden Kummer bereitete? Hab' ich den friedlichen Bürger in
Händel verwickelt oder gegen ihn gehetzt? Hab' ich einen in Gefahr
gebracht, sein Vermögen einzubüfsen, weil es des Kaisers sei, oder als
Sachwalter an einem Clienten Verrat geübt?'^ Der Zusammenhang,
in dem sich diese Sätze finden, ist eine Beweisführung des Redners,
ilafs von früher her nichts gegen ihn vorliege, was ihm Hafs oder Mifs-
trauen des Demos zuziehen könnte. Unmittelbar vorher hat er betont,
dafs er als reicher Grundbesitzer sich niemals gegen seine Gutsnach-
barn ObergrilTe erlaubt hat. Weder .seine materielle noch seine geistige
Überlegenheit hat er zur Schädigung eines Mitbürgers gemifsbraucht
Die geistige Überlegenheit, um die sichs dabei allein handelt, ist sein
rednerisches Können. Es geht aus dem Zusammenhang klar hervor,
dafs sich Dio hier, wenn auch in bescheidener Form, wie es der An-
stand forderte, als einen anerkannt tüchtigen Redner bezeichnen will.
Wenn Dio, als er diese Worte sprach, bereits den Namen eines Philo-
sophen beansprucht hätte, so würde er sich nicht mit dieser Bestimmtheit
als Redner bezeichnet haben. Wenn er später als Philosoph mit Be-
scheidenheit von seinem rednerischen Können spricht — und er thut
es wiederholt — so spricht er sich nicht nur das höchste Mafs der
dsLvoTriQ^ sondern jede bemerkenswerte Fertigkeit im Reden ab. Er
will durch die Sache wirken und betrachtet Stil und Darstellung als
etwas, das sich aus der Sache von selbst ergiebt. Inwieweit dieses Vor-
geben aufrichtig ist, das ist eine andere Frage. Aber schwerlich trügt
das Gefühl, dafs eine selbstbewufste Äufserung über sein rednerisches
Können , wie es die vorliegende trotz aller scheinbaren Bescheiden-
heit ist, Dio dem Philosophen übel anstehen würde. Die Versicherung,
dafs er als Sachwalter nie an einem Clienten Verrat geübt habe, hat
nur dann Sinn, wenn Dio damals wirklich als Sachwalter thätig war.
Nach seiner Verbannung ist das nicht mehr der Fall gewesen, wie aus
206 Zweites Kapitel.
or. 43 § 6 hervorgeht. — Ein weiteres Indicium ist die Bemerkung
io § 13 rJQK€t öi fÄOt lijv yvvaixa xal %6 jtatdiov kaßovra anoxiagelv,
Sie zeigt, dafs Dio damals nur ein Kind hatte und dafs es sich noch
in zartem Alter befand. Da in anderen der bithynischen Reden
ein erwachsener Sohn Dios vorkommt, der schon alt genug ist, um
höhere Gemeindeämter zu bekleiden , so dürfke unsre Rede zum min-
desten zwanzig Jahre älter als jene andern sein. Als Dio einige Zeit
nach seiner Restitution die 47. Rede hielt, hatte er mehrere Kinder
(§ 6). — Ferner deutet die Auseinandersetzung des Redners über seine
Vermögensverhältnisse in § 5. 6 auf frühe Abfassung der Rede. Ich
will gleich den Hauptpunkt hervorheben: seine relativ ungünstige Ver-
mögenslage leitet der Redner ausschliefslich von den beim Tode des
Vaters obwaltenden Vermögensverhältnissen her. Gehörte die Rede der
nachexilischen Zeit an, so würde er nicht versäumt haben, die durch
Jange Abwesenheit des Herrn herbeigeführte Zerrüttung seines Vermögens,
wie in or. 47 §21.45 §11 und anderwärts, zu betonen. Als er die
46. Rede hielt, war zwar schon einige Zeit verstrichen, seit er und seine
Geschwister die Erbschaft des Vaters angetreten hatten, aber den auf
sein Erbteil entfallenden Teil der Schulden hatte er noch nicht ganz
abgetragen. Auch die in § 9 erwähnten Bauten , die dem Volke als
Beweise seines Reichtums gahen, passen nicht in die nachexilische Zeit.
Für den Weltmann ist es ein ganz richtiges Raisonnement, dessen sich Dio
bedient: „wenn ich mir auf meinem Grundstück, das ich für teures Geld
erworben habe, eine Säulenhalle baue, was gehts euch an?^^; dem „Phi-
losophen'^ würde man erwidert haben, dafs solche Luxusbauten dem übel
anstehen, der andern Einschränkung der Begierden auf das Mafs der natür-
lichen und notwendigen Bedürfnisse predigt. — Auch darauf ist zu achten,
dafs Dio so lange bei den Antecedentien seiner Familie verweilt. Als
der Sohn seines Vaters fordert er rücksichtsvolle Behandlung; eigne
Verdienste um das Wohl der Bürgerschaft macht er nicht geltend, oder
doch nur das negative Verdienst, weder von seinem Besitz noch von
seinem Talent einen gemeinschädlichen Gebrauch gemacht zu haben.
„Meinen Vater'S sagt er § 2, ,,lobt und preist ihr bei jeder Gelegenheit
als einen guten Bürger. Wisset, dafs ihm mit diesen Lobeserhebungen
ganz und garnicht gedient ist; sondern wenn ihr uns, seinen Söhnen,
Achtung erweist, dann ehrt ihr auch sein Andenken.'^ Wer hört nicht
hier den noch jungen Mann heraus, der Zutrauen fordert um seines
Vaters willen, aber noch nicht auf eigne Leistungen sich berufen kann?
Also hatte jener antike Leser oder Herausgeber Recht, der dem
Dio als Sophist 207
Titel die Worte TtQo zov g)ikoooq)€lv beifügte. Synesius (Vol. II p. 316, 13)
fand in seiner Ausgabe mehreren dionischen Werken solche Vermerke
beigefügt In unsern Handschriften hat sich nur diese einzige erhalten.
Wir dürfen wohl noch einen Schritt weiter gehen und behaupten^ dafs
die Rede einer relativ späten Zeit vor Dios Verbannung angehört.
Man merkt, dafs er kein jugendlicher Anfänger mehr ist, sondern ein
kraftbewufster Mann , der sich durch die Wut des Pobels nicht ein-
schüchtern läfst und im Verkehr mit dem Volke den rechten Ton zu
treffen weifs. Er ist bereits ein namhafter Redner, als Sachwalter
erprobt. Die Anspielung auf das Delatorentum (ly Tcegl Trjg oiolag
eTColrjaa xtvdvvevaal ziva, wg KalaaQi nqoarixovarig) hat nur unter
einer Regierung Sinn, die dieses Unwesen ermutigte oder duldete. Das
war unter Vespasian und Titus wohl kaum der Fall. Es führt auf die
Anlange der Regierung Domitians. — Schon oft hat Dio seit dem Tode des
Vaters selbst Leiturgieen geleistet (§ 6); er ist Gatte und Familienvater;
dafs er seit einer Reihe von Jahren im Besitz des väterUchen Vermögens
ist, zeigt auch die Angabe in § 8: nur selten in besonders fruchtbaren
Jahren sei er in der Lage gewesen, Getreide zu verkaufen.
Die Veranlassung der Rede ist im allgemeinen klar. Durch eine
Teuerung der Brotpreise kommt der Hafs des Proletariats von Prusa
gegen die Klasse der Reichen und Privilegirten zum Ausbruch. Beson-
ders richtet sich dieser Hafs gegen Dio und einen andern reichen Bür-
ger, dessen Name in der dionischen Rede vorkam, in <lem überlieferten
Texte aber getilgt ist. Man hielt sie für die Reichsten und insofern
für moralisch zur Hülfleistung verpflichtet oder man schrieb ihnen in
irgendwelcher Form eine Mitschuld bei der Verursachung des Notstan-
des zu. Die Rädelsführer des Aufstandes hetzten gegen Dio, indem
sie auf seine kostspieligen Bauten, besonders eine Säulenhalle wiesen,
die er sich vor kurzem hatte errichten lassen. „Er,^ hiefs es da, „kann
Prachtbauten errichten, während wir Hungers sterben." Ein Pöbel-
haufe rottete sich zusammen, um die Häuser Dios und jenes andern
Bürgers zu demoliren und sie selbst samt ihrem Hausgesinde zu mas-
sacriren. Wer in diesem Augenblick aus den bedrohten Häusern sich
hervorgewagt hätte, wäre mit Stein würfen begrüfst worden. Man rief
schon nach Feuer, um Dios Haus in Brand zu stecken, als eine plötz-
liche Panik sich der Menge bemächtigte. Im Eifer ihres Vorhabens
hatte sich die Volksmasse in eine sehr enge Gasse hineingedrängt, einen
sogenannten „angiportus" (oTevtanog) ^ der Dios Haus von dem des
Nachbars trennte. Da fiel es Jemandem bei: wenn die Verteidiger des
208 Zweites Kapitel.
Hauses Ernst machten, würde kein Mensch aus dieser Enge entrinnen;
wir wären gefangen wie in einer Mausefalle. Todesangst löste jetzt die
tobende Wut ab. Schnell räumte man die Gasse und das Haus war
gerettet. — Am folgenden Morgen beriefen die Autoritäten eine Volks*
Versammlung, um über die zur Abhülfe des Notstandes geeigneten Mafs*
regeln zu beraten {kTcifxekelOx^ai r^g ayoQag). In dieser Versammlung
ist die 46. Rede gehalten. Die Erbitterung gegen Dio und jenen andern
Bürger dauert noch fort und kommt in Zurufen und Rede zum Aus-
druck. Aber es ist doch bereits eine Ernüchterung eingetreten und
die Besseren schämen sich ihrer Beteiligung an dem gestrigen Krawall.
Diese Ernüchterung und Scham sucht Dio durch seine Rede zu ver-
stärken, um der Wiederkehr ähnlicher Auftritte vorzubeugen; die Er-
bitterung gegen seine Person sucht er als grundlos zu erweisen. Er
ist sich weder einer Mitschuld an dem Notstande bewufst, noch glaubt
er in erster Linie zur Hülfleistung verpflichtet zu sein. Es sind andere
da^ reicher als er, die noch keine Leiturgieen geleistet haben. Doch
deutet er an, dafs er die hcifxiXeia Trjg ayoqag übernehmen würde,
wofern er nur in ordnungsmäfsiger Weise durch Handmehr dazu er-
wählt würde. — Interessant ist, dafs er weit von sich weist, auch für
seinen Leidensgefährten zu reden (xor£ f^r^öeig i7thQ ixeivov fie q*^
liyeiv). i^lch meine zwar^, setzt er hinzu, „dafs man selbst gegen den
Ungerechten nicht mit solcher Hitze und Übereilung vorgehen dürfte;
doch will ich mich begnügen, für mich zu reden. ^ Man hört aus
diesen Worten heraus, dafs Dio die Schuld seines Leidensgefährten nicht
in Abrede stellen will. Er rechnet ihn wirklich zu den adiytovvTeg.
Auch in den Augen des Volkes ist jener der schwerer belastete. Nur
so erklärt es sich, dafs Dio seine Sache von der des andern reinlich
scheidet. Es liegt nahe, in jenem einen politischen Gegner und Neben-
buhler Dios zu vermuten.
Der Reiz, den diese Rede und die andern bithynischen auf jeden
sachverständigen Leser ausüben, beruht darauf, dafs wir uns unmittel-
bar in die concrete Wirklichkeit des antiken Lebens hineinversetzt
fühlen. Es werden nicht viel Worte gemacht. Kurz und treffend wird
vorgebracht, was die Gelegenheit fordert. Die Rede will natürlich und
unmittelbar scheinen. Darum fehlen agonistisch zugespitzte Enthymeme
und der Conventionelle Figurenschmuck wird sparsam verwendet. Die
Meisterschaft des Redners zeigt sich schon hier vor allem im Ethos, in
dem guten Klang, der durch Paarung der Stärke mit der Milde hervor-
gebracht wird. Der Ton hält die Mitte zwischen dem des Angeschul-
Dio als Sophist. 209
digten, der sich verteidigt, und dem des Führers und Lehrmeisters, der
durch überlegene Haltung imponiren will. Im Fortgang der Rede geht
die Verteidigung immer mehr in Vorwurf und Zurechtweisung über.
Die erste Hälfte der Rede (§2 7t€Ql filv yctq — §9incl.) enthält die
Verteidigung des Redners, die zweite (§ 10 — Schlufs) Vorwürfe gegen
das Volk. Aber durch die Voranstellung des in sehr überlegenem Tone
gehaltenen Prooemiums, das in eine an Dios spätere Weise anklingende
Sentenz ausläuft, wird auch dem ersten Teil der Schein der Demütigung
genommen; und durch den väterlich warnenden Ton des Epilogs wird
die Ritterkeit des zweiten Teils gemildert. Das Volk, zu dem der Red-
ner so zu reden wagt, ist ja nicht das souveräne Volk der Demokratie,
sondern das arme, rechtlose Volk der aristokratischen Verfassung, das
nicht nur von den privilegirten Standesgenossen des Redners regiert
wird, sondern auch noch vor dem Zorn der Reichsregierung beben
mufs und wenn es sich einmal zu leidenschaftlichem Handeln aufrafft,
alsbald wieder an seine Ohnmacht erinnert wird.
Man erkennt, dafs die praktischen Aufgaben, die ihm das Leben BedAutung
seiner Gemeinde stellte, schon damals in Dios Leben eine Hauptrolle **•/ *®*!^®**®
'^ für Diot
spielten. Sie bildeten für ihn die Wurzeln seiner Kraft und neben dem Eatwick-
Spiel der Kunst ein gesundes Element sittlicher Thätigkeit, das ihn ^""^'
davor bewahrte, in der Eitelkeit des sophistischen Treibens unterzugehen.
Hieraus entwickelte sich auch seine spätere, über das sophistische Ideal
hinauswachsende Thätigkeit. Die Erfahrungen des bürgerlichen Lebens
regten ihn an, tiefer über die Redingungen nachzudenken, von denen
das Wohl und Wehe der Staaten wie der einzelnen Menschen abhängt.
Schon in der 46. Rede spricht er einen Gedanken aus, der ohne philo-
sophisch zu sein, seine theoretische Reschäftigung mit den politischen
Problemen verrät. Mit Rezug auf den Krawall des vorigen Tages sagt
er: „vor allem lafst euch sagen, dafs ihr mit euren Steinen und eurem
Feuer, in denen ihr furchtbare Waffen zu besitzen glaubt, niemandem
imponirt; durch solche Mittel seid ihr nicht stark, sondern zeigt nur
eure Schwäche; oder haltet ihr die Macht von Räubern und Rasenden
für wahre Macht? Die Stärke von Staat und Volk beruht auf andern
Redingungen, vor allem auf Vernunft und Recht. '^ Man braucht nicht
einem philosophischen System anzuhängen, um das zu sagen. Aber wer
Dios spätere Gedanken über Moral und Politik kennt, wird hier ihren
Keim nicht übersehen. Es widerspricht aller Wahrscheinlichkeit, dafs
ein Mann in reifem Lebensalter blofs durch äufseres Schicksal, wie es
Synesius darstellt, zum Philosophen umgeschaffen wird. Die Entwicklung
V. Arnim, Dio. \\
210 Zweites Kapitel.
miiTs eine allmähliche gewesen sein. Mit zunehmender Reife erkannte
Dio die Hohlheit des sophistischen Treibens. Die Augenblickserfolge
befriedigten ihn nicht mehr. Er wollte et^'as dauernd wertvolles schaffen.
Dazu bot ihm in erster Linie seine Stellang in Prusa Gelegenheit. Aber
auch seinen rednerischen Vorträgen in alleren Städten suchte er all-
mählich einen tieferen Inhalt zu geben. Als ein Document dieser Ent-
wicklung betrachte ich die rhodische Rede.
Rhodiaca. Die rhodische Rede zeigt auf den ersten Blick viel Äluilichkeit mit
den andern Städtereden, die der philosophischen Epoche Dios ange-
hOren. So sieht auch die eben besprochene 46. Rede den andern bilhy-
nischen Reden äufserlich ähnlich. Bei genauer Untersuchung wird man
finden, dafs Reden wie die Alexandrina, die beiden tarsischen Reden,
die Rede in Kelainai in Phrygien oder die olympische und die athenische
Rede mit der rhodischen Rede nicht auf eine Stufe zu stellen sind.
Es ist wahr, auch in der rhodischen Rede tritt Dio einer ganzen
Stadt als pädagogischer Ratgeber gegenüber und sucht sie durch die
Macht der Rede zur Abstellung eines Mifshrauchs, den er in ihrem
Leben beobachtet hat, zu bestimmen. Dennoch zeigt sich in dem Auf-
treten des Redners, in dem Geist und Inhalt der Rede, in ihrer künst-
lerischen Form derselbe tiefgreifende Unterschied von den genannten
philosophischen Vorträgen, der überhaupt zwischen sophistischen und
philosophischen Vorträgen stattfindet. Das Bestreben an und für sich,
Gebrechen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens zu kritisiren,
ist auch den Sophisten nicht fremd. Von Polemon, der uns als Typus
der zweiten Sophistik gelten darf, hebt Philostratus ausdrücklich hervor
(vit soph. p. 227): lial firiv xal %olg afiaQTavofdivoig dr]fioai(f ifctr-
TtkrixTiav Y.al nuna öoipiav TtkelOTO vov&erwv (iKpilei, vßqiv %e
ofÄoitag iBfjQet na} aysQwxlav Ttaoav, Dieses Bestreben überschreitet
also durchaus nicht die Grenzen des sophistischen fdeais. Aber die
Ausführung ist eine verschiedene. Das zu zeigen , ist gerade die rho-
dische Rede Dios besonders geeignet.
Was zunächst das Auftreten des Redners betrifi't, so lehren uns
gleich die Anfangsworte der Rede, dafs er nicht als Philosoph auftritt.
„Wahrscheinlich, ihr Männer von Rhodos, denken die meisten unter
euch, ich sei gekommen, um mich in einer privaten Angelegenheit an
euch zu wenden [vtiIq iölov Tcvbg rtQaypiaTog htev^ofievov vfiiv
aqilx^i)-^ Das Xdiov ngay/ia kann hier nur verstanden werdea als
private Angelegenheit des Redners. Aus dem weiteren Verlauf des Pro-
oemiums geht unzweifelhaft hervor, dafs wir uns die Rede in der rbo-
Bio m\b Sophist 211
discheo Volksversammlung gehalten denken sollen. 9,Ihr werdet unge»
halten sein,^ sagt er, ^wenn ich, der ich weder Bürgerrecht bei euch
besitze noch ?on euch dazu aufgefordert bin, mir eriaube euch zu raten,
und zwar Ober einen Gegenstand, der garnicht auf der Tagesordnung
steht (avfißovleveiv , xal Tavra vftkq ovScvog (Sv cxetpofievoi ows-
Xfjlv^have).^ So heifst es auch in § 4: „wenn ich nun tlber einen
der auf der Tagesordnung stehenden Gegeostände spräche, so würdet
ihr nicht so grofsen Nutzen davon baben^* u. s. w. Durch diese Äufse»
mngen ist die Volksversammlung auf das bestifninteste als der Ort be-
zeichnet, für welchen die Rede geschrieben ist Wir sollen uns vor-
stellen, dafs Dio sich in ordnungsmäfsiger Weise durch Meldung bei
dem Präsidium Zutritt zu der Volksversammlung verschafft hat. Natürlich
k4)nnen nun die Bürger nichts andres annehmen, als dafs er dem Demos
ein eignes Anliegen vortragen will. — Es versteht sich von selbst, dafs
dies blofee Fiction ist. Das Volk, das zur Erledigung der laufenden
Geschäfte versammelt war, konnte unmöglich eine so langathmige Ex-
pectoration über einen nicht auf der Tagesordnung siehenden Gegenstand
sich gefallen lassen. Eine ähnliche Fiction findet sich in keiner der andern
Slädtereden. Überall tritt Dio ohne weiteres als philosophischer Prediger
vor dem Volke auf. Ich meine hieiin einen nicht blofs äufserlichen und
willkürlichen Unterschied 211 erkennen. Die Fiction hat ihren Grund
darin, dafs Dio noch nicht durch seinen Philosopbenberuf legitimirt ist,
der Bürgerschaft einer fremden Stadt ins Gewissen zu reden. Alle ande-
ren Städtereden Dios sind als wirklich gehaltene Vorträge zu denken, die
von dem persönlichen Auftreten des Redners unabtrennbar sind. Da-
ge<;en wird bei der rhodischen Rede durch die erwähnte Fiction die
Vermutung nahe gelegt, daCs sie von Haus aus nicht als ächte, leben-
dige Rede, sondern^ wenn der Ausdruck gestattet ist, als Leserede ge-
schaffen wurde. Wenn Dio als Philosoph, durch seine Tracht kenntlich
gemacht, in Rhodos auftrat, so wufste Jedermann, was er von ihm uad
seinen Vorträgen zu erwarten hatte. Niemand konnte auf den Einfall
kommen, dafs er vnk^ idiov TtQayinaTog ivtev^oftevog gekommen sei.
Warum sollte also Dio dann erst einen Umweg einschlagen und die
Maske eines fremden Privatmanns wählen, der sich Audienz beim Demos
verschafft hat und nun, statt des erwarteten privaten Anliegens, eine
Angelegenheit des rhodischen Staates zur Sprache bringt? Dies ist eine
Form, die dem sophistischen Schriftsteller besser ansteht, als den Philo-
sophen. Der Sophist und Redner pafst sich den geltenden Formen des
Staatslebens an; sie bilden für ihn ein« selbstverständliche Voraus-
14*
212 Zweites Kapitel.
Setzung, von der man nicht absehen kann. Der Philosoph hat das nicht
nötig. Er steht auf einer höheren Warte. Er darf als solcher jede
Frage des öffentlichen wie des privaten Lebens vor seinem Publicum
zur Sprache bringen. Er braucht sich dazu eine staatsrechtliche Le-
gitimation weder zu verschaffen noch zu fingiren.
Doch nehmen wir einmal an, die Fiction wäre rein willkürlich
gewählt, es müfste doch zum mindesten, wenn der Redner Philosoph
wäre, in dem Geist und Inhalt der Rede der philosophische Standpunkt
hervortreten. Dies ist offenbar nicht der Fall. Redarf es noch eines
besonderen Reweises, dafs die Rede durchaus vom Standpunkt der ge-
wöhnlichen Meinung ausgeht und auf den im herkömmlichen griechischen
Staatsleben herrschenden Anschauungen und Ideen beruht? Nun wohll
fassen wir den Grundgedanken ins Auge, auf den, von Einzelheiten ab-
gesehen, die ganze Rede aufgebaut ist. Es ist der Gedanke, dafs die
grofsen und vortrefTlichen Männer doch nur deshalb mit Einsatz aller
ihrer Kräfte und wenn nötig ihres Rlutes dem Vaterlande dienen, weil
sie dafür ewigen Nachruhm erhoff'en. Wenn der Leib in Staub zer-
fallen, lebt der grofse Name noch: rj yaQ aTrjkr] xal t6 Inlyqafx^ia
%aX t6 xaXuovv eardvai (liya öoxei rolg yevvaloig avögaat xal
fiia&og ovTog ä^tog rijg aQerrjg %b firj fxe%a tov aciftarog avjjQrjad-ai
To ovofxa fxrjd^ elg %oov xaraaTrvai rolg fxfj yevofxivoig, aXX^ ^x^og
TL Xi7tia&ai xal orifxelov, wg av Ütcoi rig Trjg avdgaya&lag. Darum
ist es, wie die Rede in unerschöpflichem Reichtum von Enthymemen
ausführt, ein so bitteres Unrecht gegen die verdienstvollen Männer
früherer Tage, wenn die Rhodier ihre Namen von den Postamenten
ihrer Rildsäulen wegmeifseln lassen, um diese durch neue Inschriften
andern zuzueignen. Denn so gehen jene Männer des Lohnes verlustig,
der sie zu all ihren Leistungen angefeuert hatte. Mit dieser Denkweise
vergleiche man die des Philosophen Dio, wie sie z. B. in der bei seiner
Rückkehr aus dem Exil gehaltenen 44. Rede §2 sich ausspricht: tovto
yaQ av&Qcinq) ixavciraTOv InieiviBl, to ayanäa&at vno twv avTOv
noXiTciv, xal 6 tolto €X(ov, tL av eVt TtQOodioiTO elxovwv rj xrjQvy-
fioTWv rj TtQoeÖQuov ; aXX^ ovök „XQ^^oiQ oq>vQrjXaTog*' loTafxevog
iv Tolg iTVKpaveoTaToig i€Qoig. Hier drückt sich Diu noch schonend
aus, um die Rürgerschaft, die ihm Ehren decretirt hat, nicht zu sehr
vor den Kopf zu stofsen. Weit schroffer kommt seine eigentliche Ge-
sinnung in der ersten Rede ttsq! ö6^7]g (or. 66) zum Ausdruck, wo von
dem Köder die Rede ist, den die Städte erfunden haben, um Narren an
der Nase herumzuführen. Dieser Köder besteht in OTiq^avoi, ngoeÖQiai,
Bio als Sophist. 213
xrjQvyfiara. Solchem wertlosen Tand zuiiebe geben oft ehrsüchtige
Narren ihr Lebensglück preis (§ 2). Es thut nichts zur Sache, dafs in
der Aufzählung die eixoveg fehlen. Auch die aufgezählten Ehrungen
pflegen ja durch Steininschriften auf die Nachwelt gebracht zu werden^
stehen also in dem entscheidenden Punkte den Aufschriften der Bild-
säuleu gleich. Der Philosoph hat sie für wertlosen Tand gehalten.
Kann ein grOfserer Gegensatz zu den Grundgedanken der rhodischen
Rede gedacht werden? Dieser Gegensatz beruht auf der persönlichen
Entwicklung Dios. Unmöglich kann er in der gleichen Periode seines
Lebens sich so widersprechend geäufsert haben. Die rhodische Rede
steht auf dem Standpunkt der gewöhnlichen Meinung. Darum mufs sie
der sophistischen Periode Dios angehören. Später hat er sich den
Paradoxa der Philosophen zugewandt. Ehrungen, die von der Mehrheit,
d. h. von den Thoren verlieben werden, galten ihm nun nicht mehr als
der schönste Lohn der Tugend.
Endlich möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers noch auf die
künstlerische Form der Rede lenken, die von der aller übrigen Slädte-
reden durchaus verschieden ist. Der Stilcharakter der rhodischen Rede
ist ein agonistischer , der mit den stilistischen Grundsätzen des Philo-
sophen Dio in Widerspruch steht Dafür ist schon die Behandlung der
Hiatusfrage bezeichnend. Der Hiatus ist in der ganzen Rede mit der
gröfsten Sorgfalt gemieden, nicht nur innerhalb des einzelnen Kolon,
sondern auch am Ende der Kola und im allgemeinen auch am Schlufs
der Perioden. Schon diese eine Eigentümlichkeit legt die Vermutung
nahe, dafs wirs hier mit einem qp^ovrca/ua, einem yeyQafUfxivog loyog
zu thun haben. Selbst der gewandteste Redner kann bei einer ganz
oder teilweise improvisirten Rede solche Glätte der Form nicht er-
reichen. — Ferner bewegt sich die Rede gröfstenteils in Enthymemen.
Darauf beruht ihr agonistischer Stilcharakter, durch den sie unter allen
erhaltenen Werken Dios einzig dasteht. Vermutlich würde dies nicht
der Fall sein, wenn uns mehr Werke aus seiner sophistischen Epoche
erhalten wären. Synesius, dem sie noch vollständiger vorlagen, be-
trachtet gerade das iftixsiQelv als die stärkste Seite Dios. Das wird
durch die erhaltenen Schriften, mit Ausnahme der rhodischen und zum
Teil der trojanischen Rede, nicht bestätigt. Es bezieht sich in erster
Linie auf die Werke der sophistischen Epoche. Die Rede xara tvSv
q>ikoo6(pwv wird in dieser Beziehung der rhodischen ähnlich gewesen
sein. Wer sich kein weiteres Ziel steckt, als den Hörer von der Wahr-
heit und Güte der Sache, die er vertritt, zu überzeugen, wird nicht zu
214 Zweites Kapitel.
dieser Form der Beweisführung greifen. Dero popalar-philosopbischeD
Vortrag ist sie nicht angemessen. Nur da ist sie am Platze, wo der
Wunsch zu überzeugen fon dem Wunsche zu glänzen begleitet oder
gar überwogen wird. Der gröfste Teil der rhodischen Rede tragt einen
sophistisch- epideiktischen Charakter. Der Redner will sein Können
zeigen in der breiten Entfaltung des an sich unscheinbaren Themas.
Alle Gründe aufzufinden, die seine These stützen können, die Gedanken
nach allen Seiten zu drehen und zu wenden und wenn der Hörer den
Gegenstand erschöpft glaubt, ihm immer wieder neue Seiten abzu-
gewinnen, ist unbestreitbar des Redners hauptsächliches Bestreben.
Nachdem über den Stilcharakter der Rede das für die Dalirung
nötige gesagt ist, suchen wir uns der Zeitbestimmung fon anderer
Seite zu nähern. Es soll versucht werden, aus den geschichtlichen An-
spielungen in der Rede selbst für die Datirung Anhaltspunkte zu ge-
winnen. Da ist vor allem wichtig, was man längst bemerkt hat, dafs
an mehreren Stellen der Rede Rhodos ausdrücklich als „cMfos libera
et foederata'*' geschildert wird. Es genügt, auf § 112 zu verweisen,
wo Dio sagt: „Fürchtet ihr denn wirklich, wenn ihr einem jener Tor-
nehmen Römer kein Erzstandbild errichtet, gleich die Freiheit zu ver-
lieren?'* Und weiter wird dann ausgeführt: wenn die seit so langer
Zeit bewährte Vertragstreue und Ergebenheit gegen das römische Volk
(nlatig und evvoia) und der im Zeustempel aufbewahrte Bündnisvertrag
nicht genügt, euch eure Verfassung zu garantiren, ohne dafs ihr euch
fortwährend vor den römischen Grofsen demütigt, so ist eure sogenannte
Freiheit von geringem Werte; dann haben ja die einfachen Unter-
tbanenstädte ein besseres Loos als ihr. Es geht aus diesen Erörterungen
hervor, dafs Rhodos damals im Besitz der Freiheit und das „/bedtis** noch in
Kraft war, freilich auch, dafs der Besitz der Freiheit ein precärer und dafs
man jederzeit darauf gefafst war, sie durch kaiserlichen Machtspruch zu ver-
lieren. Diese Besorgnis war den Rhodiern durch häufige Vorkommnisse
unter dem Kaiserregiment*) und noch mehr durch eigne Erlebnisse nahe
gelegt. Tacitus') berichtet, dafs schon unter Claudius die Rhodier ihre
Freiheit eingebüfst, aber durch Fürsprache Neros wiedererlangt hatten.
Er fügt hinzu, sie hätten die Freiheit mehrfach verloren und wieder
bestätigt erbalten ^.prout bellis extemis meruerant aut dornt Hditione
deliquerant.^' Auch diesmal sollten sie sich der wiedererlangten Freiheit
1) Moramsen Rom. Slaatsr. III 687. 2.
2) ab exe. d. Aug. XII 58. Vgl. Gass. Dio 60, 24. Soet. Nero 7.
Dio alt Sophist 215
nicht lange erfreuen dürfen. Aus Suelon Vespas. 8 wissen wir, dab
Kaiser Vespasian aufser verschiedenen anderen Staaten des Ostens auch
Rhodos dem Provincialregiment unterstellte. Höchst wahrscheinlich er-
folgte diese erneute Mafsregelung der Rhodier, die jedenfalls durch
innere Unruhen in Rhodos während des Dreikaiserjahrs hervorgerufen
war und sich gleichzeitig aus finanziellen Gründen empfehlen mochte,
gleich im Anfange der Regierung Vespasians. Wenigstens berichtet sie
Sueton in unmittelbarem Anschlufs an des Kaisers Rückkehr nach Rom,
die im November des Jahres 70 erfolgte, und stellt sie mit seinem Ver-
balten gegen die vitellianischen und eignen Truppen in Parallele. Die
Legionen waren durch den Rürgerkrieg verwildert, aber auch Provinzen,
Freistaaten und Königreiche hatten sich Unordnungen zuschulden
kommen lassen (tumuUuoiius inter m agibant). Bald gelingt es der
Strenge des Kaisers, unter den Vitellianern und unter seinen eignen
siegreichen Truppen die Disciplin herzustellen; die unruhigen Frei-
staaten, unter ihnen Rhodos, werden durch Entziehung der Freiheit be-
straft. Wer das Suetoncapitel im Zusammenhang liest, kann also nicht
zweifeln, dafs Unruhen während der Jahre 69 und 70 als Ursache der
Mafsregelung von Rhodos bezeichnet werden. Ist dies richtig, so mufs
auch die Entziehung der Freiheit im Jahre 70 oder spätestens 71 er-
folgt sein. Betrachten wir die damals erlittene Einbufse der Freiheit
als eine endgültige, der nicht wie in früheren Fällen, auf die sich
Tacitus bezieht, eine Herstellung des alten Vertragsverhältnisses folgte,
so müssen wir scliliefsen , dafs die rhodische Rede vor dem Ende des
Jahres 70 verfafst ist; und da sie den Tod Neros voraussetzt, so bleibt
als Spielraum ihrer Entstehung nur die Zeit vom Juni 68 bis zum
December 70. Einen Beweis, dafs Rhodos durch Vespasian seine Frei-
heit für immer verlor, könnte man in der Nachricht bei Sex. Rufus
brev. 10 finden: $ub Vespasiano principe insularum provineia facta eii.
Denn die Metropolis dieser Provinz war später Rhodos. Da aber diese
Provinz inschriftlicb erst in diocletia nischer Zeit vorkommt, so hat man
wohl mit Recht geschlossen, dafs hier ein Irrtum vorliegt.*)
Eine so frühe Abfassung der Rede ist aber aus verschiedenen
Gründen undenkbar. Dio war damals ungefähr 24 Jahre alt. Man
würde sich ungern entschliefsen , ein trotz alles sophistischen Brim-
borium von so reifer Beurteilung der griechischen Verhältnisse zeugendes
Werk dem kaum der Rhetorschule entronnenen Anfänger zuzutrauen.
1) Marqaardt Hörn. Verw. 1, 191.
216 Zweites Kapitel.
Es kommt hinzu, dafs die LobsprQche, die der Redner den Rhodiern
so reichlich spendet, kaum am Platze gewesen wären, ja als bitterer
Hohn erscheinen mufsten zu einer Zeit, wo innere Zwietracht den Staat
zerrifs. Unmöglich konnte Dio seine ausführliche Polemik gegen den
Statuenschwindel mit dem Wunsche rechtfertigen, Rhodos möchte sich
auch in diesem Punkt seiner sonstigen musterhaften Ordnung nicht
unwert erweisen (§ 157 onwg fxrjökv avä^iov iavr^g firjdh akko-
TQiov TfjQ aXXrjQ evxoofilag xal trjg fcoXtvelag q>alvrirac noiovoa),
wenn damals das Gegenteil von evxoaftla in Rhodos herrschte. Dafs
Ereignisse und Zustände der neronischen Zeit als der jüngsten Ver-
gangenheit angehörig (§ 110 eyyiOTa ig)^7j^wv) und als noch frisch
im Gedächtnis der Hörer (§ 149 lar« yag !kxQaTov hcelvov u. s. w.)
behandelt werden, empfiehlt freilich, die Rede nicht durch einen allzu-
grofsen Zeitraum von Neros Ende zu trennen. Aber dafs sie unmittel-
bar auf diesen folgte, ist dadurch nicht bewiesen. Eher möchte ich
glauben, dafs die Art, wie diese Dinge berührt werden, besser zu der
Annahme stimmt, dafs schon einige Jahre seit Neros Tod verflossen
waren. Doch dies ist vielleicht ein subjectives Gefühl. Der eigentlich
entscheidende Grund liegt in der Annäherung an philosophische An-
schauungsweise, die unsre Rede, wiewohl noch innerhalb der Schranken
des sophistischen Vorstellungskreises, vollzieht. Ich stelle den Punkt
voran, wo dies am greifbarsten wird. Der Philosoph aus ansehnlichem
römischen Geschlecht, von dem § 122 erzählt wird, dafs er die Athener
wegen der Zulassung der Gladiatorenspiele schalt und dadurch so gegen
sich aufbrachte, dafs er Athen zu verlassen genötigt war, ist, wie man
längst gesehen hat, kein anderer als Musonius Rufus. Wenn Dio von
ihm sagt, er habe so grofseu Ruhm als Philosoph, wie seit langer Zeit
kein anderer Mann geerntet und es sei allgemein anerkannt, dafs er
mehr als irgend ein anderer seit der Zeit der alten Philosophen Leben
und Lehre in Einklang gesetzt habe, so liegt darin eine warme Partei-
nahme. Nun hatte aber Dio, wie wir sahen, in der Rede tvqoq Mov-
aojviov den ehrwürdigen Mann heftig angegriffen und dieser Angriff
entsprang, wie die Rede xara rviv q)iXoö6cp(jJv ^ einer grundsätzlichen
Ablehnung aller Philosophie. Wir durften als wahrscheinlich bezeichnen,
dafs diese antiphilosophischen Kundgebungen Dios mit der in der ersten
Hälfte der 70er Jahre am Hofe Vespasians herrschenden philosophen-
feindlichen Stimmung in Zusammenhang standen. Wie leicht ersichtlich,
kann die rhodische Rede weder in die gleiche, noch in frühere Zeit
gehören. Denn als Dio so für Musonius Partei nahm, war er offenbar
Bio aU Sophist. 217
kein fanatischer Gegner der Philosophie; und dafs er es später erst ge-
worden sei, widerspricht aller psychologischen Wahrscheinlichkeit. Die
anerkennende Äufserung über Musonius mufs später sein als der
jugendlich hitzige Angriff. — Aber wenn diese Schlüsse richtig sind —
und ich sehe keine Möglichkeit, ihnen zu entfliehen — so kommen wir
mit der rhodischen Rede abwärts über den Zeitpunkt hinaus, wo Rhodos
seine Freiheit einbüfste; und doch setzt sie unfraglich den Fortbestand
der rhodischen Freiheit voraus.
Den einzigen Ausweg aus dieser Verlegenheit bietet die Annahme,
dafs Rhodos die durch Vespasian ihm genommene Freiheit später noch
einmal wiedererlangt hat.^) Dafs dies durch Vespasian selbst geschehen
sei, ist nicht wahrscheinlich ; Sueton würde kaum unterlassen haben,
dies zu erwähnen; wohl aber kann Titus die Restitution vollzogen haben.
In der rhodischen Inschrift I Gr Ins fasc. 1 no. 58 glaube ich eine Spur
davon zu entdecken, dafs Rhodos unter Titus Freistaat gewesen isL
Wenn hier unter den Ruhmestiteln des Hermagoras, des Sohnes des
Phainippos, die auf der Rasis seiner Rildsäule verzeichnet standen, unter
anderem auch angeführt wird, dafs er als Prytan die evvoia und tcIotiq
des rhodischen Staats gegen Titus und sein ganzes Haus und gegen
Senat und Volk der Römer zum Ausdruck gebracht hat, so scheinen
mir die Ausdrücke euvoia und Ttlorigy die ja auch Dio § 113 von dem
freien und verbündeten Rhodos gebraucht, nicht auf ein Unterlhanen-
Verhältnis, sondern nur auf das alte Rundesverhältnis zu passen. Die
Wiederkehr der gleichen Ausdrücke bei Dio als Charakteristik bundes-
genössischen Wohlverhaltens legt uns nahe, sie als formelhaft für dieses
Verhältnis anzusehen. Illozig {fides) kann auf Seiten des römischen
Volkes auch gegenüber der Unterthanenstadt vorhanden sein, nicht aber
auf Seiten der letzteren gegen das römische Volk. Wenn dem be-
herrschten Staate fides, d. h. Vertragstreue nachgerühmt wird, so zeigt
dies, dafs ein Vertragsverhältuis vorhanden ist, in welches der beherrschte
Staat als wenigstens formell gleichberechtigter Contrahent eingetreten
ist Vielleicht darf man noch aus einer andern Stelle der Inschrift den
gleichen Schlufs ziehen. Unter den Gemeinden, die den Hermagoras
geehrt haben, wird auch Amos, eine Ortschaft der rhodischeen Peraia,
erwähnt. Man darf wohl annehmen, dafs sich Hermagoras die Zu-
friedenheit der Amier als rhodischer Prytan erworben hatte. Also war
1) Ober die ebenfalls in diesem Sinne verwertbare Stelle der Alexandrina §52
wird im letzten Kapitel gehandelt werden.
218 ' Zweites KapiteL
Rhodos unter Titus noch im Besitz der Peraia. Denn da Arnos keine
nohg, kein selbständiges Stadtgebiet ist, so würde der rhodische Staats-
mann kaum Gelegenheit gehabt haben, sich um Arnos Verdienste zu
erwerben, wenn es nicht zur rhodischen Herrschaft gehört hatte. Es
ist aber unwabrscheinhch , dafs man Rhodos, als es seine Autonomie
verlor, im Besitz der Peraia beliefs. Das Rechtsverhältnis der lykischen
und karischen Gemeinden Rhodos gegenüber war das der Attributioo.')
Es giebt aber kein Beispiel dafür, dafs einer Unterthanenstadt Ortschaften
attribuirt wurden.
Die Inschrift selbst stammt aus der Zeit nach Titus' Tode. Denn
er wird bereits als ^heog (divus) bezeichnet Die Prytanie des Herma-
goras fällt noch unter Titus. Vielleicht hatten sich die gemeinnützigen
Ratschläge des Hermagoras und seine Vertretung der Stadt beim Kaiser
Titus eben auf die Wiederverleihung der Autonomie bezogen. Das
hocherfreuliche Schreiben (xdkkiora yQafxfxara)^ das er als Prytan vom
Kaiser empßng, könnte die Gewährung der rhodischen Wünsche ent-
halten haben. Doch ist ebensogut möglich, dafs es nur persönliche
Ehrenerweisungen für Hermagoras enthielt. Aber seine Geltendmachung
der rhodischen evvoia und nloTig würde kaum als sein Hauptverdienst
gepriesen werden, wenn sie nicht zu greifbarem Erfolge geführt hätte.
Dafs dieser Erfolg nicht deutlicher bezeichnet wird, kann aus der Scheu
erklärt werden, die für den rhodischen Staat beschämende Degradation
ausdrückhch einzugestehen.
Es ergiebt sich also, dafs die rhodische Rede frühestens unter Titus
gehalten ist Viel weiter wird man nicht gern hinabgehen und jeden-
falls ist, auch wenn sie in die domitianische Zeit gehören sollte, die
Verbannung Dios als terminus ante quem zu betrachten. Denn in die
Zeit der Verbannung kann die Rede nach allem, was wir von dieser
wissen, nicht gehören — den Beweis für diese Behauptung vrird das
folgende Kapitel erbringen — und unter Nerva oder Trajan kann sie erst
recht nicht verfafst sein. Denn § 150 gilt ihm Nero noch als 6 xwv
ßaoikicjv atpoÖQOTarog. Da sich später bekanntlich sein HaTs vor
allem gegen Domitian, den Urheber seiner Verbannung, den „alter
Nero'*^ richtet, so mufs unsere Stelle in eine frühere Zeit gehören.
Ich setze daher die rhodische Rede in die Zeit zwischen dem Tode Ves-
pasians (Juni 79) und der Verbannung Dios im Jahre 82.
So bestätigt die von den geschichtlichen Anspielungen ausgehende
1) Mommsen Rom. Staatsr. III 765 f.
Dio als Sophist 219
DatiroDg, was sich auch ans dem Geist und Charakter der Rede ergiebt:
dafs sie nämlich gegen Ende der sophistischen Epoche Dios verfafst ist.
Wir dürfen sie nun mit grorserer Zuversicht verwerten, als Urkunde der
persönlichen Entwicklung Dios, die seinen Berufswechsel vorbereitele.
Namentlich der Schlufsteil der Rede von § 157 an wird durch diese
Auffassung verständlich. Zum Schlufs soll eine Steigerung des Tons ein-
treten, aber nicht mit rhetorischen Mitteln wird sie bewirkt, sondern durch
Übergang in den Ton des Sittenpredigers. Der Redner erhebt sich Ober
das enge Thema, eröffnet einen weiten Ausblick über die ganze grie-
cbiscbe W^t, beklagt ihren tiefen sittlichen und politischen Verfall und
mahnt die Rhodier, als die letzte Hoffnung des Griechentums, griechische
Bürgertngend , Sitte und Humanität unter sich zu erhalten. Warum
wirkt dieser Schlufsteil als eine Steigerung? Weil an Stelle blendender
Gedankenspiele enthymematischen Scharfsinns der Ton aufrichtiger Über-
zeugung tritt Man fühlt, dafs Dio hier erst recht Ernst macht, dafs
er Dinge ausspricht, die ihm am Herzen liegen. Er zieht gewissermafsen
die Summe seiner bisherigen Lebenserfahrung und stellt zugleich ein
Programm auf. Dieses Programm zeigt unverkennbar den werdenden
Sittenlehrer. Dio fühlt, dafs die althellenische Herrlichkeit unwieder-
bringlich verloren ist. Die Freiheit, die viele griechische Staaten noch
zu besitzen glauben, ist blofser Schein. Thöricht ist es um den Schein
zu kämpfen und Namen und Formen zu verewigen, wo das Wesen ent-
schwunden ist. Die politischen Ideale der alten Zeit haben für die-
Gegenwart keine Bedeutung mehr. Heute handelt sichs, für den Vor-
kämpfer des Hellenismus, nicht mehr um diese. Die Gefahr ist weit
gröfser, ganz andere Dinge stehen auf dem Spiel. Die griechische Civi-
lisation^ die auch ohne die politische Macht und Freiheit fortbestehen
könnte, geht ihrem Untergang entgegen. Die Griechen haben aufgehört
den Adel der Menschheit zu bilden. Von Phrygern, Mysern und Thra-
kern werden sie sich bald nur noch dem Namen nach unterscheiden.
Alles kommt darauf an, in dem entarteten Volk die menschlichen Vor-
züge neu zu beleben, auf denen die Culturmission des Griochentums
beruhte. Diese zugleich pessimistischen und idealistischen Anschauungen
hegte der Verfasser der rhodischen Rede. Ist es ein Wunder, wenn
wir ihn bald darauf als berufsmäfsigen Sittenprediger wiederfinden?
Wem so hohe Ziele aufgegangen waren, konnte der noch in rein ästhe-
tischen Bestrebungen dauernde Befriedigung finden? Fühlte er nicht
vielmehr den Beruf, selbst mit Hand anzulegen, zu ihrer Förderung?
Sicherlich ist es nicht entsagender Pessimismus, der aus dem Epilog
220 Zweites Kapitel.
der rhodischen Rede spricht. Vielmehr verkündet er, dafs auch die
Gegenwart den Griechen Aufgaben stellt, die des Schweifses der Edlen
wert sind. Auf dem Gebiet der grofsen Politik liegen diese Aufgaben
nicht. Aber in seinem inneren Leben, in dem der Gemeinde wie in
dem seiner einzelnen Bürger, kann noch heute jeder griechische Stadt-
staat griechische agerrj bewähren. Zumal die Rhodier, denen es nach
ihrer Oberlieferung am leichtesten gelingen könnte, sollten darauf das
gewissenhafteste Bemühen verwenden. Wenn sie daran denken, bei
allem was sie thun, so wird die Geschichte von ihnen sagen : sie waren
nicht schlechter als ihre Vorfahren: „In einer Zeit wie die gegenwärtige
sich selbst treu zu bleiben und (wie der Fechter in der Auslage) in
der Haltung auszuharren, die die Tugend vorschreibt, das, mein' ich,
verdient Bewunderung. Wenn ein Ungewitter oder ein heftiger Sturm
ausbricht, so sieht man selbst die zuchtlosesten Matrosen keinen Unfug
treiben, sondern jeder ist auf dem Posten; bei Windstille dagegen
herrscht Mutwille unter Matrosen und Passagieren, auch wenn sie an
sich nicht zuchtlos sind. Ebenso pflegt auch der Krieg die weniger
guten Elemente teils aus ihrer Schlaffheit aufzurütteln, teils zu bändigen,
während in Zeiten des Friedens und der Sorglosigkeit sich nichts
schimpfliches oder ungehöriges zuschulden kommen zu lassen, nur den
Allerbesten gelingen wird.^^ — Diesen Gedanken liegt offenbar der
Standpunkt des Elhikers zugrunde. Nur wenn wir uns auf diesen
•stellen, trifft es zu^ dafs die Rhodier der dionischen Zeit es ihren Vor-
fahren gleichthun können ; nur dann ist ihre Aufgabe eine ebenso schöne
und lohnende. In diesen Gedanken waltet nicht mehr sophistischer
Geist. — Aber auch der philosophische Geist ist noch nicht ganz zum
Durchbruch gekommen. Der Verfasser hat die Bahn ethischer Reflexion
betreten, aber er hat die Bande noch nicht durchschnitten, die ihn an
die gewöhnliche Meinung biöden. Nicht auf die Dogmen irgendeiner
Philosophie, sondern auf den Ruhm der Vorfahren und die nationale
Sitte weist er die Rhodier hin. Die äufsere Wohlanständigkeit, das
Decente in Gang, Hallung, Haar- und Kleidertracht scheint ihm nicht
weniger am Herzen zu liegen als die Verwaltung der Gemeindeangelegen-
heiten.
Beachtenswert ist auch die bittere Polemik gegen Athen, die sich
durch die Rede hindurchzieht. Schon § 18 klingt dieser Ton an. „Das
übrige Hellas ist verfallen, ihr allein habt die Ehre des Griechentums bis
in die Gegenwart hinein aufrecht erhallen. Darum dürft ihr höheren
Stolz als jene alle hegen. Denn jene haben zwar anfänglich gegen die
Dio als Sophist. 221
Barbaren Erfolge gehabt und Ruhm erworben, weiterhin aber mehr Neid,
Tborheit und Eifersucht als wahre Tüchtigkeit gezeigt, bis sie, als keine
äufsere Gefahr mehr drohte, selbst entarteten und nun jeden, der es
beanspruchte, Herrn nannten.*^ Wenn hier auch Athen nicht aus-
drücklich genannt wird, so ist es doch in erster Linie gemeint. Für
Thermopylä hat der Redner ein anerkennendes Wort, keines für die athe-
nischen Ruhmesthaten. Auch in § 106 wird Athen gegen Rhodos herab-
gesetzt (xai TOVTOvg dh furjdhv fiiya x€XT^o&ai) und mit § 116 beginnt
ein längerer Abschnitt, der in den bittersten Worten über die Athener
herzieht. Was in § 116 über mifsbräuchhche und lächerliche Ehren-
erweisungen berichtet wird, gehört wenigstens zur Sache; die Gladia-
torenspiele sind in § 121. 122 nur herbeigezogen, um weitere Schmach
auf den Namen Athens zu häufen. Der Satz, dafs nichts heutzutage in
Athen geschehe, dessen man sich nicht zu schämen hätte (yvv dh ovdiv
ioTiv iq>^ oT(p Tüiv knei yiyvofxivwv ovx, av alaxvv&elri rig)^ über-
rascht durch Unbilligkeit und Übertreibung. Auch bei der Stelle in
§ 158 soll der Hörer an die Athener denken. Hier athmen die Worte:
olofievoi TQvq)av ol avorjTOi xal xigdog agi&fAOvvreg to ^rjöiva
xwXveiv avToifg auaQTavovtag besondere Gehässigkeit und Bitterkeit.
Höchst boshaft ist endhch die Erwähnung des Lykeion und der Akademie
in § 163. Dafs Rhodos so geflissentlich immer wieder auf Rosten Athens
gelobt wird, zeigt dafs die Gegenüberstellung einen tieferen Grund hat.
Die Rede scheint den Nebenzweck zu verfolgen, in einer gerade damals
obschwcbenden Rivalität zwischen Athen und Rhodos für Rhodos Partei
zu nehmen und die öffentliche Meinung zu seinen Gunsten zu stimmen.
Auch das Lob der rhodischen Verdienste um den römischen Staat in
§ 113 zeigt eine warme Parteinahme für Rhodos. In § 120 wird her-
vorgehoben, dafs eine Rivalität zwischen Athen und Rhodos besteht.
Die Athener sind es, nach Dios Darstellung, die als Rivalen der Rhodier
auftreten {Tcaizoi tcotsqov ^ rig av%ovg avTaywviotag vfxiov, wOTteQ
a^LOvaiv u. s. w.). Das ist schwerlich nur so im allgemeinen , sondern
gewifs mit bestimmter Beziehung auf actuelle Verhältnisse gesagt. Der
Ausdruck ist so gewählt, dafs es als eine Anmafsung Athens erscheint,
mit Rhodos in die Schranken zu treten. Vergebens fragt man nach
dem Anlafs und Gegenstand dieser Rivalität. Nur das scheint mir
sicher, dafs es sich nicht blofs um die unfafsbare Schätzung der beiden
Staaten in der öffentlichen Meinung, sondern um concrele Rechte han-
delte, etwa um Ehrenrechte bei einem panhellenischen Agon, um Streit-
punkte, wie sie nach or. 38 § 38 zwischen Athen und Sparta bestanden.
222 Zweites Kapitel. Dio als Sophist
Auch in dieser Beobachtung finde ich eine BesUtigung meiner Ansicht
Ober die Cntstehungszeit der rhodischen Rede. Die 13. Kede lehrt uns^
dafs Dio später seine Feindseligkeit gegen Athen aufgegeben hat und
selbst dort aufgetreten ist Diese Rede stammt, wie ich saefaweiseD
werde, aus dem Jahre 100. Dafs Dio erst nach dieser die Erbitterung
gegen Athen empfunden haben sollte, die aus der rhodischen Rede
spricht, ist ganz unwahrscheinlich. Für den Philosophen und Prediger
von Beruf würde sich, nach meinem Gefühl, eine solche Gehässigkeit
nicht schicken. Er wendet sich mit seiner Predigt an alle, die der
sittlichen Besserung bedürfen ; er mufs auch alle als der Besserung ßihig
gelten lassen. Es würde ihm übel anstehen, die Rhodier als die einzigen
Hellenen zu bezeidinen, die zu ermahnen noch der Mühe lohnt, um die
man noch trauern kann, wenn sie sündigen. Man würde ihn gefragt
haben, warum er an so viele andere Städte seine Ermahnungen ver-
schwende. Auch hierin zeigt sich deutlich, dafs in der rhodischen Rede
eben nicht der Philosoph redet Der Philosoph Dio predigte auch in
Athen. Nachdem er das gethan hatte, konnte er Athen nicht zu den
Städten rechnen, die zu ermahnen nicht der Mühe wert ist, wie ers in
der rhodischen Rede thut Er würde damit, um von der Standesmoral
zu schweigen, schon gegen das Standesdecorum verstofsen haben. Es
würde geklungen haben, als ob er bereute, in Athen mit seiner Parä-
nese aufgetreten zu sein oder als ob ein persönlicher Mifserfolg ihm
die Sache verleidet hätte. — Wenn ich ferner mit Recht in der rho-
dischen Rede Parteinahme Dios in einer actuelleo Rivalität zwischen
Athen und Rhodos zu entdecken glaube, so ist auch dies ein Zug, der
weniger für den Philosophen pafst, dem nur das sittliche Wohl seiner
Hörer am Herzen liegt, als für den Sophisten und atrjQ nohrixog.
Drittes Kapitel.
Das Exil
I.
Im Torigea Kapitel liabe ich Dios Leben und Werke bis zum Eoile
der sophislischeii Epoche verfolgt Jetzt erst soll uos jenes entscheid
dende Erlebnis beschSHtigen, das ihn^ nach der zutreffenden Auffassung
des Synesius, Ober die sophistischen Bestrebungen hinausgehoben und
in die Arme der Philosophie geführt hat. Die geschichtliche Uoter-
suchuDg dieses Eriebuisses soll unsere Berechtigung erweisen, so wie
es bisher geschehen ist, eine sophistische und eine philosophische Epoche
in Dios Leben und Werken zu unterscheiden. Sie bildet also die Grund-
lage für die Darstellung der philosophischen Epoche. Jenes entschei-
dende Ereignis ist bekanntlich die Verbannung Dios durch Doraitiao«
Es gilt die Zeit, die Ursachen, die näheren Umstände, die Dauer der
Verbannung zu ermitteln. Erst wenn dies gelungen ist, wird sich ihre
Bedeutung für die persönliche, geistige und litterariscfae Entwickluiig
Dios bestimmen und für das Verständnis seines htterarischen Nachlasses
verwerten lassen.
Die Historiker haben, soviel wir wissen, von der Verbannung Dios tberiiefe-
keine Notiz genommen. Die Erwähnungen bei den ahen Schriftstellern |^|"^ y^^
sind aus den eigenen Äufserungen Dios in seinen Reden abgeleitet baonuDg:
I nkSan
Das gilt Ton der Bemerkung Lukians Peregrin. 18, der ihn mit Musonius syuesiut,
und Epiktet unter die Philosophen rechnet, die durch Freimut und Areihas.
Stolz gegen einen Tyrannen in Verbannung und Elend geraten sind. Es
gilt von Synestus, der nur die That^che der Verbannung erwähnt, ohne
über Zeit und Umstände etwas näheres hinzuzufügen. Es gilt natürlich
erst recht von Arethas. Was dieser in seinem Lebensabrifs Dios, der
ans im Urbinas 124 und im Parisinus gr. 2958 erhalten ist, ttber Dios
Verbannung erzählt, beruht auf Combination eigener Äufserungen Dios
mit der von Philostratus im Apolloniusroman berichteten Beratung
224 Drittes Kapitel.
Vespasians in Alexandreia mit Euphrates, Apollonius und Dio. Durch
die Philostratusstelle, die er arglos als geschichtliche Oberlieferung be-
nutzte, hat sich Arethas verleiten lassen, Vespasian für den Adressaten
der „vier Reden vom Königtum (or. 1 — 4)'* zu halten. Da hier auf die
Verbannung als ein Ereignis der Vergangenheit Bezug genommen wird,
so schlofs Arethas, mit dem Tyrannen, den Dio als Urheber seiner Ver-
bannung hafst und befehdet, könne nur Nero gemeint sein. Also besafs
auch Arethas keine Oberlieferung über die Verbannung, aufser dem was
der Diotext selbst ergab. Photius bibl. cod. 209 weifs auch nicht viel
mehr als die Thatsache der Verbannung selbst anzuführen. Wenn er
sagt, dafs Dio aus seiner Vaterstadt Prusa in die Verbannung gegangen
war, um knechtischer Demütigung vor dem Tyrannen auszuweichen
((pvyag iyeyovei TavTTjg Tvgavvldog hcxklviDv öovXelav), so scheint
er in seiner Auffassung von der gleich zu besprechenden Philostratus-
stelle beeinflufst. Denn iycKllvcov pafst nicht auf eine Verbannung im
eigentlichen Sinne, sondern nur auf eine freiwillige Entfernung, wie sie
Philostratus annimmt.
PbUostratui. Philostratus im Leben Dios (vit. soph. I, 7) ist der einzige Schrift-
steller, der uns selbständige und wertvolle Nachrichten über Dios Exil
überliefert. Da gerade in der Hatiptsache seine Darstellung von dem
abweicht, was sich aus Dio selbst ergiebt, so müssen wir fragen, ob
Philostratus, aliein unter allen antiken Schriftstellern, in der Lage war,
eine vom Diotext unabhängige, nicht combinatorisch aus ihm heraus-
gesponnene, sondern mit anderweitig ermittelten Thatsachen wirtschaf-
tende Oberlieferung über Dios Leben zu benutzen und, wenn eine
solche Oberlieferung vorhanden war, ob sie uns für glaubwürdiger
gelten darf als das durch Dio selbst bezeugte.
Die ganze erste Hälfte der philostratischen Diovita bis zu den
Worten v/chg toiovtcjv anovda^eiv enthält eine Charakteristik von
Dios stilistischer Eigentümlichkeit. Den einzigen Umstand aus Dios
Leben, den er hier erwähnt {xal yaq drj xal ig Fhag tjXS'ev, OTtoze
TjXaTo), hat Philostratus sicherlich nicht aus biographischer Oberlieferung
genommen. Aus den Ferixa selbst, die er ja gekannt zu haben scheint,
und aus dem Anfang der Borysthenitica konnte er ihn entnehmen. Der
zweite Teil enthält keine zusammenhängende Erzählung von Dios Le-
bensgang, sondern, in willkürlicher Ordnung, einige zerstreute Be-
merkungen über sein Leben und seine Persönlichkeit. Es sind in
diesem Abschnitt fünf Punkte zu unterscheiden. 1. betreffend sein
Verhältnis zu Apollonius von Tyana und Euphrates von Tyrus; 2. be-
Das Exil. 225
treffend die Ursache und den Charakter seines Exils; 3. betreffend seine
Lebensweise im Exil (Verrichtung niederer Arbeiten verbunden mit Stu-
dium des Demosthenes und Piaton); 4. betreffend sein Auftreten im
römischen Heerlager nach Domitians Tode; 5. betreffend sein Verhältnis
zu Trajan. Von diesen Punkten stammt der dritte und vierte sicher
aus verlorenen Reden Dios. Wer als Dio selbst konnte die Angabe
machen, dafs er aus Piatons Phaidon und aus der demosthenischen Rede
Über die Truggesandtschaft als Verbannter Trost und Kraft schöpfte?
Und vras über Dios Auftreten vor den Legionen nach Domitians Tode er-
zählt wird, ist ja nur Wiedergabe einer für uns verlorenen Rede. Der
erste Punkt (Verhältnis Dios zu Apollonius von Tyana und Euphrates)
kann nicht getrennt werden von den entsprechenden Abschnitten des
Apolloniusromans. Dafs Dio mit Apollonius von Tyana gut bekannt
war, konnte Philostratus aus den Apolloniusbriefen entnehmen. Dafs
er mit Euphrates, dem Gegner des Apollonius, gut stand, wird auch im
Apolloniusroman vorausgesetzt. Möglich, dafs unter den verlorenen
Briefen Dios, die Philostratus kannte und bewunderte, solche an Eu-
phrates vorkamen. Möglich auch, dafs schon in einer der Quellen, die
Philostratus fOr seinen Roman benutzte, Dio und Euphrates, ähnUch
wie bei Philostratus selbst, dem Apollonius zur Folie dienten. Aus
biographischer Überlieferung stammt die Nachricht, mag sie richtig oder
erfunden sein, jedenfalls nicht.
Der zweite Punkt ist es, auf den es uns hier ankommt „Dios
Besuch bei den Geten,'^ sagt Philostratus, „verdient nicht den Namen
Verbannung, da ihm nicht befohlen war zu fliehen, auch nicht den
Namen Reise; denn er verschwand aus der Öffentlichkeit, liefs nichts
mehr von sich hören noch sehen und machte sich bald in diesem bald
in jenem Land etwas zu schaffen, aus Angst vor den in Rom herrschen-
den Tyrannen, die alle Philosophie verfolgten.'^ Die mit Dios eigener
Darstellung in Widerspruch stehende Behauptung on /u?} Tcgoaerax^i]
avT(p q>vyelVy gerät durch die Nachbarschaft der voraufgehenden, aus
dem Apolloniusroman entlehnten Nachricht in den Verdacht, selbst
aus einer zum Ruhm des Apollonius tendenziös färbenden Quelle
geflossen zu sein. Offenbar ist es darauf abgesehen, den wichtigsten
Ruhmestitel dieses Rivalen des Apollonius abzuschwächen. Was Dio
selbst sich als Mannesmut angerechnet hatte, war im Grunde nur ein
Beweis von Feigheit. Er hatte sich gedrückt, um unliebsamen Conflicten
zu entgehen. Im Apolloniusroman tritt dieselbe Tendenz deutlich her-
vor in den Worten VII 4 p. 131: q)iloaoq>la ök ovtw vc/actrj^ev, wg
T. Arnim, Dio. |5
226 Drittes Kapitel.
ajtoßaJLovteg ro oxrifxcc oi fnkv arcodgavai aqxJov ig Trjv Kehstjv iarceQay
(suppl. €%Xov%o)y ol dk kg za eQrj/na uiißvrjg re xal 2xv&lagj ivioi
S ig loyovg aTtevex^fjvcii ^vjußovXovg twv ä/iaQn^fxdrcüv. Dann
folgt eine SchilderuDg von dem mannhaften und freimütigen Verhalten
des Apollonius. Er ist der einzige gewesen, der sich durch Domitian
nicht einschüchtern liefs. Die Erwähnung Skythiens in den ausgeschrie-
benen Worten ist eine deutliche Anspielung auf Dio. Wenn, wie hier-
durch nahe gelegt wird, die Auffassung der Verbannung Dios als einer
freiwilligen Flucht, die Philostratus in seiner Diovita vorträgt, aus der
auf die Apolioniuslegende bezüglichen Litteratur stammt, die Philostratus
für seinen Roman benutzt hat, so spricht das nicht zugunsten ihrer
Glaubwürdigkeit. Wenn man diese Ableitung für zu unsicher hält, um
allein ein Urteil über die Glaubwürdigkeit der Nachricht zu begründen,
so bleibt doch bestehen, dafs die Nachricht selbst mangelnde Sachkenntnis
verrät. Wenn nämlich Philostratus bestreitet, dafs Dios Besuch im
Getenland eine Verbannung gewesen sei, so khngt dies als ob Dio die
ganze Zeit, die er, notgedrungen oder freiwillig, fern von der Heimat
und von Rom zubrachte, zu einer einzigen langen Reise nach dem Geten-
lande benutzt hätte; während in Wirklichkeit diese Reise nur eine Epi-
sode des vieljährigen Exils bildete. Jene falsche Auffassung entsprangt
vielleicht aus der Stelle or. 13 § 9, wo Apollo dem Redner rät, sich
weiter irrend herumzutreiben ecog av STrl %6 eaxarov aniXS^r^g %rjg
yrjg. Dieses ewg erweckt in der That die Vorstellung einer einzigen
zusammenhängenden Reise, die bis zu den Grenzen der bewohnten Erde
ausgedehnt wird. Eine Nachricht, die so mangelhafte Sachkenntnis ver-
rät, wird man, woher sie auch immer stammen mag, nicht gegen die
authentischen Angaben Dios ausspielen dürfen. — Der Nachweis, dafs
Philostratus eine von dem Diotext unabhängige biographische Oberlieferung
nicht benutzt hat, wird vervollständigt durch die Betrachtung des fünften
Punktes. Die Nachricht über Trajans huldvolles Benehmen gegen den
Redner trägt durchaus den Charakter einer gelegentlich überlieferten
Anekdote^ die erst von Philostratus, in Ermangelung brauchbaren Materials,
dem biographischen Endzweck dienstbar gemacht wird. Ursprünglich fand
sie sich wohl in einer auf Trajan, nicht auf Dio bezüglichen Geschichts-
erzählung. Denn sie ist besser geeignet jenen als diesen zu charakterisiren.
Es ist also erwiesen, dafs wir bezüglich der Verbannungsgeschichte
Dios lediglich auf eigene Äufserungen des Redners angewiesen und
nicht in der Lage sind, diese durch Berichte von anderer Herkunft
zu controliren. Auch was Philostratus eigenes darüber giebt, ist.
Das Exil. 227
soweit es glaubwürdig ist, aus verloreuen Schriften Dios abgeleitet;
soweit es mit Dios eigenen Aussagen in Widerspruch steht, ist es un-
glaubwürdig. Ich meine aber, dafs ein Mifstrauen gegen Dios Dar-
stellung der Sache durch nichts gerechtfertigt ist. Wer auf Grund der
philostratischen Nachricht ovi ov nQoaeraxd'rj avrqi q)xryelv die dio«
nische Darstellung als unwahr bezeichnen wollte, der würde sich zu
der unwahrscheinHchen Annahme gedrängt sehen, Dio habe in öffent-
licher Rede allbekannte Thatsachen gefälscht und sich leichtfertig der
Gefahr ausgesetzt, von seinem Pubhcum der Lüge überführt zu werden.
Emperius hat also ganz recht gethan, in seiner Abhandlung „de exiiio
Dionis'' die philostratische Nachricht zu verwerfen und von Dios eigenen
Worten auszugehen.
Unvereinbar mit Dios Bericht am Anfang der 13. Rede ist auch
die bei neueren sich findende Auffassung, die Dios Verbannung mit der
domitianischen Philosophenvertreibung in Zusammenhang bringt. Ich
will mich zunächst nicht des Arguments bedienen, das sich bei Empe-
rius findet, dafs Dio damals noch nicht zu den Philosophen gezählt
werden konnte. Denn dies bedarf erst noch des Beweises. Auch
dafs Dio nicht so oft des Exils sich hätte rühmen können, das ihn ge-
meinschaftlich mit allen in Rom lebenden Philosophen traf, ist kein
ganz stichhaltiger Beweis. Aber durchschlagend ist der dritte Punkt,
auf den Emperius hingewiesen hat. Dio war nicht nur aus Rom und
Italien verwiesen , wie nach Suet. Domit. 10 die übrigen Philosophen,
sondern auch aus seiner Heimatsprovinz Bithynien. Es kommt hinzu,
dafs Dio, wenn ihn die Verbannung auf Grund seines Philosophenbe-
rufes getroffen hätte, diesen Umstand nicht verhehlt haben würde. Er
hätte ihm Gelegenheit zu wirksamen Invectiven gegen den philosophen-
feindlichen Tyrannen gegeben. W^as er statt dessen erzählt, ist durch-
aus nicht dazu angethan, ihn in besserem Lichte erscheinen zu lassen.
Er kann es nicht, um sich wichtig zu machen, erfunden haben. Or. 13
§11 erzählter ausdrücklich, erst nachdem ihn die Verbannung getrofTen,
sei ihm von Leuten, mit denen er auf seinen Irrfahrten in Berührung
kam, ohne sein Zuthun, ja wider seinen Willen der Name Philosoph
beigelegt worden. Diese Erzählung halten ofl'enbar diejenigen Gelehrten,
die seine Verbannung mit der Philosophenvertreibung in Verbindung
bringen, für blofse Fiction. Ich gestehe zu, dafs sie eine bewufste An-
lehnung zeigt an die Stelle der platonischen Apologie des Sokrates,
wo Sokrates durch den Spruch des delphischen Gottes zum Erzieher
berufen wird. Aber dadurch wird die Thatsache nicht aus der Welt
15*
228 Drittes Kapitel.
geschafft, die der Redner in dieser conventionellen Stilisirung vorträgt,
zu erfinden aber keinen Anlafs hatte: dafs er erst als Verbannter seine
Philosophenrolle zu spielen begonnen hat. Es ist kein Grund vorhanden,
zu bezweifeln, dafs Dio hier ein aufrichtiges Selbstbekenntnis über seine
Entwicklung zum Philosophen ablegt. Nur mufs man den sachlichen
Kern der Erzählung von der Schale künstlerischer Formgebung befreien.
Welcher irgend denkbare Grund könnte ihn denn veranlafst haben,
seine „Bekehrung*' auf die Verbannung folgen zu lassen, wenn sie ihr
in Wirklichkeit vorausgegangen war? Wenn er als Philosoph verbannt
worden wäre, so hätte diese Thatsache seinem athenischen Publicum kaum
unbekannt bleiben können. Die Hörer selbst würden die Unrichtigkeit
der Darstellung bemerkt haben.
Ich würde nicht so lange bei der Widerlegung dieses Irrtums ver-
weilen^ wenn nicht Mommsen sich seiner angenommen hätte, indem
er defi vornehmen Mann, dessen Freundschaft Dio verderblich wurde,
mit Junius Rusticus identificirte. Diese Identification beruht auf der
von mir bekämpften Ansicht, dafs Dio bei Gelegenheit der Philosophen-
Vertreibung verbannt wurde, die ja durch den Prozefs des Rusticus ver-
anlafst war. Mir scheinen die von Emperius in seiner Abhandlung
vorgebrachten Gründe ausreichend, die Beziehung auf Rusticus auszu-
schliefsen.
Der Anfang der 13. Rede lautet: „Als*) mich Verbannung traf,
weil ich für den Freund eines Mannes galt, dem sonst nichts vorzu-
werfen war, der aber mit den damals in Glück und Macht stehenden
nah verwandt war, und gerade um des Vorzuges willen den Tod er-
leiden mufste, um des willen die meisten, ja fast alle ihn glücklich ge-
priesen hatten, nämlich wegen seiner Schwägerschaft und Blutsverwandt-
schaft mit jenem, wobei die Anklage auf mich ausgedehnt wurde, den
man als Freund und Ratgeber dieses Mannes hinstellte — denn es ist
Tyranuensitte, wie man bei den Skythen mit den Königen ihre Wein-
schenken, Garköche und Kebsweiber zugleich mit bestattet, so denen.
l) Ore (pei6yeiv avvißrj fte <ptX(as ivexev Xeyojuivtje dp9pdß od TiovtjQoüy töHv
Si TÖre eddatfiövcav T£ xcU d^%6vr(üv iyyörara SvTOßy Sid raCra 8i xai dno-
&ayövToe, Si ä 7toV*oXs xai a%eSdv n&oiv kSdxei f/axd^tos^ 8id nijv ixelvotv
aixcAÖTijra xcU ^vyyivetav , raiinje ivex&elariß in' ifiä rrjs aitias, t&s Srj rdvS^i
ffiXov 6vra xai ad/aßovXov' i&oe yd^ ri roürö iori tojp rvppdvvcosf ^ dioneQ kv
^xiäd'aiß Totß ßaaiXe€at owd'dTiTeiv otvo%6ovß xcU uaye/povs xai 7ialXaxd£f oifrate
Tote iJtt' aiiröjv dnotf'vijaxovair iripove TtpoaTt&ivat nlelovs dn^ oi^deutäs aixloJS'
rÖT£ 8* o^^ imi fte (peiiyetv iSo^ev, iaxönow xrX.
Das Exil. 229
die sie hinricbten, andere ohne Grund hinzu zu fügen — damals also,
als meine Verbannung beschlossen war, ging ich mit mir zu Rate u. s. w/^
Dafs er nicht freiwillig ging, sondern ausdrücklich durch einen
wenigstens mittelbar von dem „Tyrannen^' ausgehenden Richterspruch
mit Verbannung bestraft wurde, ist an verschiedenen Stellen des
ausgeschriebenen Satzes so deutlich ausgedrückt, dafs es keines beson-
deren Beweises bedarf. Dem Ausdruck tp^yuv avvißrj fie haftet noch
eine gewisse Zweideutigkeit an. Aber nicht mifszuverstehen ist: volg
V7t av%wv OTtod'vi^axovaiv irigovg TtgoaTiS'ivai nkelovg und gleich
darauf: kitel (xe (pevYBiv 'ddo^ev, wo der Accusativ /le zeigt, dafs nicht
Dio selbst Urheber des doy^a ist. Der Gedanke an die Philosophen-
vertreibung ist ausgeschlossen, weil Dio sagt, die gegen seinen Gönner
erhobene Anklage sei auf ihn, als seinen angeblichen Freund und Rat-
geber, ausgedehnt worden — denn %av%rig weist auf das vorhergehende
zurück — der Procefs des Gönners aber bezog sich nicht, wie der des
Junius Rusticus, auf die schriftstellerische Verherrlichung von Wort-
führern der stoischen Oppositionspartei, sondern seine Verwandtschaft
mit dem Machthaber war Dios Gönner verderblich geworden. Durch
diese Angaben ist offenbar nicht nur die Philosophenvertreibung, son-
dern auch Rusticus als Gönner Dios ausgeschlossen. Denn weder war
Rusticus avyyevrig des Domitianus, noch könnte, wenn ers gewesen
wäre, zwischen dieser Blutsverwandtschaft und dem Gegenstand des
Processes ein Zusammenhang gefunden werden.
Emperius hat bemerkt, dafs die Verbindung der Ausdrücke oUeioTrjg
und ^vyyiveia ein wertvolles Kennzeichen der betreffenden Persönlich-
keit enthält. Er führt drei andere Diostellen an, wo ebenfalls beide
Ausdrücke neben einander auftreten und klar ist, dafs olxeloi Ver-
wandte bezeichnet, die nicht avyyeveig sind. Or. 3 § 113 wird dem
idealen König nachgerühmt, er sei zwar (pikoavyyeviazcnog und
g)ikoix€i6raTog, schätze aber doch die (pMa in gewissem Sinne
höher als die avyyiveia. Der Zusammenhang zeigt, dafs hier q)i,XoL-
xBiog auf Personen geht, die nicht allein im Hause des Königs ver-
kehren, sondern auch zu seinem Hause (im Sinne der Verwandtschaft)
gehören. Bestätigt wird diese Auffassung durch § 119 der selben Rede,
wo es heifst: der König sehe die olxeioi und die avyyeveig als ein
Stück seines eigenen Lebens an (fxiqog vevo^ixe r^g avrov xpvx^g).
Offenbar handelt es sich nicht um rhetorische Doppelung zur Er-
zielung vollklingenden Ausdrucks, sondern um sorgfältige Unter-
scheidung zweier Arten von Verwandtschaft. Wenn auch oixelog an *
230 Drittes Kapitel.
sich den BegiifT der Affinität nicht ausdrückt, so erhält es ihn doch
durch die GegenüberstelluDg mit avyyiveia. Die dritte Stelle findet
sich or. 4 § 91. Es wird hier in der Schilderung des Habsüchtigea
gesagt, dafs er von der Macht der Götter nichts anderes erhofft als
Todesfälle seiner oUeioi und avyyevelg, um sie zu beerben. Auch
hier ist jedes Mil'sverständnis ausgeschlossen.
Da also ein fester Sprachgebrauch in der Verwendung von oixeiog
für Dio nachgewiesen ist, so müssen wir ihn auch auf die Stelle der
13. Rede anwenden und Emperius zugeben, dafs der Gönner Dios nicht
nur Blutsverwandter des Kaisers, sondern auch aufserdem mit ihm ver-
schwägert war. Man wird um so weniger an der Richtigkeit dieser Inter-
pretation zweifeln und blofse rhetorische Doppelung des Ausdrucks an-
nehmen dürfen, als in der That, wie Emperius zeigt, Domitian zwei seiner
Vettern hingerichtet hat, die zugleich seine Schwäger waren. Zum Jahre
95 erzählt Cassius Dio LXVii 14: nav %(^ aizfo erei akXovg re Tcokkovg
xai %bv OXaovLOV KXrjfievTa iTcarevovTa, Kalneg aveipiov ovra xai
yvvaixa xai avrrjv avyyev^ kavxov OXaovlav JofjiL%Li.Xav exovTa,
xaTea(fa^€v 6 Jofxtriavog. Es trifft also für Flavius Clemens zu, dafs
er mit Domitian olxeiorr^g und avyyheia hatte. Aber aus mehreren
Gründen kann er nicht mit Dios Gönner identisch sein. Sueton Domit 15
nennt ihn contemptissimae inertiae^ und nach Cassius Dio a. a.O. wurde er
wegen Religionsfrevel, wahrscheinlich wegen Hinneigung zur christlichen
Lehre hingerichtet. Nach Sueton a. a. 0. geschah dies repente ex tenuissima
mspidone. Ich kann es nach diesen Angaben nicht glaublich finden,
dafs er der Freund und Gönner Dios ist. Ein Mann, der sich zum
Christentum bekannte, würde in Dios Augen ein avfjQ 7Covr]Q6g gewesen
sein. Jedenfalls konnte nicht Dio der Vorwurf gemacht werden, dafs
er diesen Frevel mit Rat und That unterstützt habe. Es trifft ferner
bei Clemens nicht zu, dafs gerade seine doppelte Verwandtschaft mit
dem Kaiser ihm verderblich wurde. Dazu kommt endlich noch der
schon von Emperius angeführte Grund: Flavius Clemens wurde ein
Jahr vor Domitians Ende hingerichtet, Dios Verbannung hat aber, wie
wir aus or. 40 § 2 wissen , viele Jahre gedauert (iv roaovTOig ezeai
(pvyrjg). Da die Rede in Prusa gehalten ist, wo Jedermann wufste, wie
lange Dios Verbannung gedauert hatte, so kann er nicht aufgeschnitten
haben. Wegen des schlechten Rufes, dessen sich die „späten Rhetoren^
erfreuen, ist es nötig, dies hervorzuheben. — Es bleibt also nur der
andere Vetter und Schwager Domitians übrig, T. Flavius Sabinus, der
mit Julia, der Tochter des Kaisers Titus, vermählt war. Ihn liefs Domi-
Das Exil. 231
tian, nach Sueton Domil. 10, im Jahre 82 hinricbteD: quod eum comi-
tiorum consularium die destinatum perperam praeco non consulem ad
populum, sed imperatorem pronuntiasset. Nach Philostratus Apoll. Tyan.
VII 7 p. 132 iTtel öh 2aßlvov aTtexrovtjg eva rwv iavrov ^vyyevwv
^lovkiav rjeto, ?/ de 'lovkla yvvrj ^hv r]v tov 7teq)Ovev^ivov^ Joy^e-
Tiavov dh adekcpidi], fila fuiv TItov dvyariQiov scheint auch der
Wunsch, sich der Julia zu bemächtigen, Domitian zu dieser Hinrichtung
mitveranlafst zu haben. Aber die Anklage, die gegen ihn erhoben
wurde, beschuldigte ihn jedenfalls der hochverräterischen Absicht, sich
selbst an Domitians Stelle zum Kaiser zu machen. Das scheint aus der
Andeutung Suetons hervorzugehen. Auf ihn stimmt also vortrefllich,
was Dio sagt: dafs er gerade wegen seiner Verwandtschaft mit dem
Kaiser, um die ihn alle glücklich gepriesen hatten, den Tod erleiden
mufste. Die Glücklichpreisungen bezogen sich natürlich auf seine An-
wartschaft auf den Thron. Gerade diese sollte ihm verderblich werden.
Die Worte, die auf Clemens nicht pafsten, passen auf ihn vortrefflich.
Wir haben früher eine Verbindung Dios mit Titus als wahrscheinlich
erschlossen. Aus dieser konnte ein Verhältnis zu dem Schwiegersohn
des Titus sich leicht entwickeln. Leicht konnte auch, wenn dem Sabinus
eine Verschwörung gegen Domitians Leben zur Last gelegt wurde, Dio
in den Verdacht kommen, seine Pläne mit Rat und That unterstützt zu
haben. Auch die langjährige Dauer des Exils stimmt zu dieser Hypo-
these. Es hat dann 14 Jahre gedauert.
Ich habe in der Hauptsache nur die Beweisführung des Emperius
wiederholt; sie hat sich als durchaus stichhaltig und zwingend erwiesen.
Ich halte es nach alle dem nicht für eine blofs wahrscheinliche Ver-
mutung, sondern für eine mit aller in solchen Dingen überhaupt erreich-
baren Sicherheit bewiesene Thatsache, dafs der Gönner Dios kein anderer
als T. Flavius Sabinus war, dafs also Dios Verbannung im Jahre 82 erfolgte.
Wie über Ursache und Zeit von Dios Verbannung, so hat auch
über ihre Dauer und über ihren rechtlichen Charakter schon Emperius
richtig geurteilt. Aus der 45. Rede erfahren wir, dafs der Tod Domi-
tians und die Thronbesteigung Nervas Dios Verbannung beendigte.
Denn in unmittelbarem Anschlufs an einen Bericht über seine Ver-
banuungszeit i^brt er hier § 2 fort: „Als*) aber jener — nämlich der
ihm feindlich gesinnte Kaiser, von dem im Vorausgehenden die Rede
1) relevTtjaavroe 8k ixeivov xai rrjs fieraßoXrjs yevofiivrjs ävjietv ukv Tt^ds
rdv ßilriaxov NiQßav.
282 Drittes Kapitel.
war — gestorben und der Umschwung der Verhältnisse eingetreten
war, machte ich mich auf den Weg zu dem vortrefflichen Nerva.^ Aus
dieser Stelle allein wissen wir auch, aber mit voller Sicherheit, dafs
Domitian es war, der die Strafe über Dio verhängt hatte. Denn gegen
den Vorgänger Nervas richtete sich in §1 der Ausbruch seines Hasses;
ihn, der sich deus et dominus nennen liefs {deaTtorrjv ovo/na^ofxevov
xal d'eov, vgl. Sueton Domit. 13 pari arrogantia, cum procuratorum
suorum nomine formalem dictaret epistulam, sie coepit: dominus et deus
noster hoc fieri iuhet), in Wahrheit aber ein Teufel war, hat er zum
Feinde gehabt {ix^Qov avexo^evog). Da erst der Tod Domitians Dios
Restitution herbeiführte und da er es or. 40 § 2 seiner Gemeinde als
einen Beweis besonderen Wohlwollens anrechnet, dafs sie entgegen
aller Wahrscheinlichkeit an der Hoffnung, ihn zurückberufen zu sehen,
festgehalten hatte, so ist klar, dafs die Verbannung nicht auf Zeit, son-
dern in perpetuum verhängt war.
Wenn Domitian einen Nachfolger gehabt hätte, der die Regierung
in seinem Sinne weiter führte und seine acta in jeder Hinsicht respec-
tirte, so würde er nie die Erlaubnis erhalten haben, in seine Heimat
zurückzukehren. Nur der Umstand, dafs sich die Regierung Nervas von
vornherein in principiellen Gegensatz zu der seines Vorgängers stellte
und die von jenem verbannten zurückberief, brachte ihm Rettung.
Es ist ferner klar, dafs die Verbannung Dios nicht eine eigentliche
Criminalstrafe war, sondern eine vom Kaiser auf Grund seines magi-
stratischen Co^rcitionsrechtes erlassene Administrativmafsregel.') Das
Exil als Criminalstrafe wird unter dem Principat gewöhnlich in der
Form der Deportation, als Verbannung mit Zwangsdomicil, verhängt.
Dies war bei Dio nicht der Fall. Es traf ihn nicht relegatio in insur-
lam^ sondern einfache Relegation, d. h. Ausweisung aus einem bestimmt
abgegrenzten Gebiet des römischen Reiches. Schon Emperius hat auf
die Stellen bei Dio selbst hingewiesen, welche zeigen, dafs Dio einer-
seits aus Rom und Italien, anderseits aus seiner Heimatsprovinz Bithy-
nien relegirt war, im übrigen aber innerhalb des römischen Reichs-
gebietes sich seinen Aufenthalt frei wählen durfte. Die Verbannung
aus Rom (und Italien) ergiebt sich aus or. 1 §50: wg yag etvxov h
rfj (pvyff Ttore dX(6/n€vog' y.ai fcokXrjV ye xctQtv olöa roig x^eoZg, ort
fi€ ovx eXaaav -d^earijv yevia&ai jtoXXwv Y.a\ aölxcjv ngay/narcov.
Denn die ädixa TtgayiAara sind die in Rom begangenen Frevel Domi-
1) Mommsen Rom. Staatsr. I 155. III 141, !.
Das ExU. 288
tiaos. Dio dankt den Göttern, dafs sie ihm den Anblick des von den
Tyrannen geknechteten und mirsbandeiten Rom erspart haben. Die
Fortsetzung der Stelle lehrt, dafs Dio gerade damals, als er aus Rom
verbannt war, möglichst viele Länder und unter anderen auch die Pelo-
ponnes durchstreifte. Dafs Dio aus Prusa verbannt war, brauche ich
nicht erst zu erweisen, da es jedem Leser der bithynischen Reden durch
zahlreiche Stellen geläuflg ist. Dafs aber die Relegation auf die ganze
Provinz Bithynien sich erstreckte, geht aus or. 19 § 1.2 hervor. Denn
hier erzählt Dio, dafs er, von einigen Verwandten und Mitbürgern wäh-
rend der Verbannung um eine Zusammenkunft ersucht, weil er nicht
bis dicht an die Grenze herangehen wollte (ovx rj&ekov iyyvg iivai
TtQog avTOvg zoig ogovg, akXa idoxei /loi ro toiovto navTeXwg
ax^ofiivov Tivbg elvai rij (pvyy xai im&v/novvvog xareX&elv etc.),
Kyzikos als Ort des Rendez-vous bestimmte. Er wählte also die der
bithynischen Grenze nächstgelegene Stadt der Provinz Asia. V^enn
unter den oqoi, von denen er sich aus Stolz fernhalten wollte, die
Grenzsteine des prusanischen Stadtgebietes zu verstehen wären, so
würde er sicherlich Apameia gewählt haben, zu dem er ohnehin alte
Beziehungen hatte. Also bithynisches Gebiet durfte er unfraglich nicht
betreten. Wie man mit ihm verfahren wäre, wenn er es gethan hätte,
geht aus dem 56. Brief des Plinius an Trajan und dem Antwortschreiben
des Kaisers hervor. Es zeigt sich hier, dafs die Provincialstatthalter das
Recht hatten , für ihren Amtsbezirk die Relegation zu verhängen. Sie
wieder aufzuheben hatte wenigstens Trajan dem Plinius untersagt {man-
datis tun cautum est ne restituam ah alio aut a me relegatos). Die An-
frage des Plinius bezieht sich auf zwei verschiedene Fälle. In dem
einen Falle war von Servilius Calvus, der nicht lange vor Plinius pro-
eonsul Bithyniae gewesen war, ein Proviuciale auf drei Jahre relegirt,
aber bald darauf, vor Ablauf der bestimmten Frist restituirt worden.
Plinius fragt, ob er diese Restitution als rechtsgültig anerkennen soll.
Trajan macht seine Entscheidung von den Gründen abhängig, die den
Servilius Calvus zur Restitution bewogen haben {proxime tibi rescriham,
cum causas eius facti a Calvo requisiero). Das andere Mal handelt sichs
um einen Mann, der wie Dio in perpetuum relegirt war, und zwar von
dem Proconsul Julius Bassus. Der Senatsbeschlufs, der die acta des
Bassus cassirte, hatte allen durch seine (richterlichen oder administra-
tiven) Entscheidungen betroffenen das Recht verliehen, binnen einer
zweijährigen Frist V^iederaufnabme des Verfahrens zu beantragen. Der
betreffende hatte von diesem Rechte keinen Gebrauch gemacht, sondern
234 Drittes Kapitel.
war ohne weiteres in die Provinz zurückgekehrt. Auf Plinius Anfrage,
wie mit ihm zu verfahren sei, antwortet Trajan: vinäus mitti ad prae-
fectos praetorii mei debet. neque enim sufficü, eum poenae suae restitui,
quam contumacia elusit.
In den angeführten Diostelien sind auch genügende Beweise ent-
halten, dafs Dio sich im übrigen auf römischem Reichsgebiet frei be-
wegen durfte. Einmal treffen wir ihn in der Peloponncs, ein ander
Mal in Kyzikos. Ja, es haben sogar während der Verbannungszeit
mehrere Städte ihn aufgefordert, seinen Wohnsitz bei ihnen aufzu-
schlagen und Ämter bei ihnen zu übernehmen.*) Die Gemeinden, die
dem mit der kaiserlichen Ungnade belasteten solches Entgegenkommen
bewiesen, gaben damit ein rühmliches Beispiel unabhängiger Gesinnung.
Vermutlich waren es Freistädte, die wegen einer solchen Kleinigkeit
doch nicht gleich den Verlust der Freiheit zu befürchten brauchten
und gern die Gelegenheit benutzten, ihre national hellenische Gesinnung
zu beweisen.
Die Untersuchungen von Emperius, die ich im vorstehenden mit
nur wenigen eigenen Zusätzen wiedergegeben habe, bilden das feste
Fundament unserer weiteren Betrachtung, die zeigen soll, wie das Exil
auf Dios Entwicklung einwirkte. Glückhcherweise besitzen wir darüber
in der 13. Rede ein Selbstbekenntnis des Redners, das, wenn es
auch nicht auf alle unsre Fragen antwortet, doch von unschätzbarem
Werte ist.
Im Anschlufs an die vorhin besprochene Erzählung über die
Ursachen seiner Relegation verliert sich der Redner alsbald in weit-
läufige allgemeine Betrachlungen über die Frage, ob Verbannung an
sich und für jeden Menschen ein Unglück sei. Diese Betrachtungen
will er damals, als er verbannt wurde, angestellt haben und durch sie
sowie durch einen Spruch des delphischen Gottes veranlafst worden
sein, sich in sein Loos zu finden und es zu seinem und anderer
Menschen Wohle nutzbar zu machen. Dagegen schweigt er ganz über
die Verändet ung seiner äufseren und materiellen Lage infolge des Exils,
die für uns den natürlichen Ausgangspunkt des Verständnisses bildet.
Dafs er aus Rom und Italien verwiesen wurde, war für Dio von unter-
geordneter Bedeutung. Er hatte sich dort immer nur vorübergehend
aufgehalten. Seine römischen Beziehungen hatten, wie wir sahen, die
1) Or. 44 § 6 TiolXrov yäp TioXlaxfJ Tia^axodoürTcov /ue xai uivetv xai Ttpoi-
oraa&ai rtov xotrtör ov vih' /uövov a)4Xä xai TiQÖre^ov St€ ^tffjV ffvydi.
Das Exil. 235
doppelte Bedeutung für ihn, dafs sie ihm persönlich Ehre und Einflufs
eintrugen und dafs sie ihm Gelegenheit gaben, an mafsgebender Stelle
für Prusa zu wirken. Diese Aussichten sich abgeschnitten zu sehen,
war ärgerlich genug, aber es liefs sich ertragen. Weit empfindlicher
mufste ihn die Verbannung aus Bithynien treffen. Hier war seine
Heimat im vollsten Sinne, hier lagen die Wurzeln seiner Kraft. Sonst
überall war er ein Fremder. Der Glücksritter, dessen ganzes Kapital
in seiner Person, seinen Kenntnissen und Fertigkeiten besieht, ist
überall zu Hause, wo sich ein Auskommen für ihn findet. Hätte Dio
zu dieser Klasse von graeculi gehurt, so würde ihn die Ausweisung aus
Rom weit schwerer betrofl'en haben als die aus Bithynien. Er hatte
aber eine wirkliche Heimat, von der er sich nicht loslösen konnte, ohne
ein ganz anderer zu werden. Seine sociale Stellung und sein persön-
liches Selbstgefühl beruhten auf der Rolle, die er durch Herkunft und
Besitz in Prusa und in andern bithynischen Städten spielte. Sein Ver-
mögen bestand, wie wir sahen , nicht sowohl in beweglichem Kapital,
als in Weinpflanzungen, Weideland, Viehherden, städtischen Häusern
und Grundstücken. Wenn er dieses ganze Anwesen veräufsern wollte,
um anderswo von dem Erlös zu leben, so konnte er unter den ob-
waltenden Umständen gewifs nicht darauf rechnen, ein gutes Geschäft
zu machen. Er würde durch den Verkauf, rein wirtschaftlich betrachtet,
in sehr viel schlechtere Verhältnisse gekommen sein. Aber dies war
noch der geringste Übelstand. Von einem alten Familienbesitz sich zu
trennen, mit dem man sich von Kindheit an verwachsen fühlt, ist
immer schwer. In diesem Falle aber würde die Folge gewesen sein,
dafs Dio sein Heimatsrecht in Prusa für immer verloren hätte. Mög-
licherweise war auch eine Veräufserung seines Besitzes in Prusa da-
durch erschwert, dafs zwischen ihm und seinen Brüdern keine Güter-
trennung stattgefunden hatte, sondern gemeinsame Nutzniefsung. Un-
möglich ist es uns, alle Umstände zu übersehen, die bei der Entscheidung
mitwirkten. Eine feststehende Thatsache ist es, dafs Dio sich dafür
entschied, seinen Besitz in Prusa zu behalten. Er hat, wie er or. 44
§ 6 ausdrücklich betont, niemals in einer andern Stadt als Prusa ein
Haus oder Grundstück erworben: dg ^ir^dkv rj fioi arjfieiov ali,axov
Ttarglöog. Er hätte es thun können, denn mehrere Städte trugen
ihm Domicil und Bürgerrecht an. Aber er konnte sich nicht dazu ent-
schliefsen, das Band zwischen sich und der Heimat endgültig zu zer-
schneiden. Natürlich wird bei diesem Entschlufs auch der Gedanke an
seinen Sohn, der damals noch im Knabenalter stand, mitgewirkt haben.
286 Drittes Kapitel.
Ihm wenigstens sollte die Heimat, der Besitz und die Zukunftsaussichten
erhalten bleiben, die in Prusa vorteilhaHler waren, als sie in der Fremde
halten sein können. Dio gönnte dem Tyrannen nicht den Triumph,
ihn der Heimat beraubt zu haben. Lieber wollte er auf ungewisse Zeit
den Genufs seines Besitzes entbehren, wenn er sich dadurch wenigstens
die Hoffnung erhielt, sobald bessere Zeiten kämen, in die Halle seiner
Väter und seinen ganzen heimischen Lebenskreis zurück zu kehren.
Wenn er selbst diese besseren Zeiten nicht erlebte, so blieb doch seiner
Familie die Heimat erhalten. Aber er durfte auch für sich selbst hofifen,
da er noch im kräftigsten Mannesalter stand.
Nicht nur die materielle Lage Dios wurde durch die Verbannung aus
Bithynien so gründlich verändert, er verlor auch seinen natürlichen Wir-
kungskreis für die Zukunft. Schon ehe ihn die Verbannung traf, fanden
wir Dio von den Gedanken erfüllt, die im Epilog der rhodischen Rede aus-
gesprochen sind. Diese Gedanken zeigten deutlich seine Abkehr von den
ästhetischen Idealen sophistischer Epideiktik und seine ernsthafte innerliche
Beschäftigung mit ethisch-politischen Ideen, die auf die Erhaltung und
Herstellung des national-hellenischen in Verfassung und Sitte abzielten.
Wo konnte er zunächst hoffen, für diese Ideen praktisch zu wirken, als
in seiner heimischen Gemeinde, wo ihm die Ämterlaufbahn offen stand,
und in anderen Gemeinden Bithyniens? Wenn er mit zunehmender
Reife des Charakters an dem sophistischen Treiben kein Gefallen mehr
fand, konnte er sich hier am leichtesten ein Feld gesunder und ernst-
hafter Arbeit schaffen. Das alles war nun durch einen Federstrich des
Kaisers zerstört. Er war sich bewufst, dafs ihn die Strafe ganz un-
schuldig getroffen hatte. Wären ihm strafbare Handlungen nachzu-
weisen gewesen, so hätte man ihm sicher in anderer Form den Procefs
gemacht. Nur der unbestimmte Verdacht, dafs er hochverräterischen
Umtrieben des Sabinüs als Werkzeug gedient habe, hatte zu der Mafs-
regelung geführt. Wenn wir dem übereinstimmenden Zeugnis der
Quellen trauen dürfen, so war der Verdacht gegen Sabinus selbst ein
unbegründeter. Wieviel mehr also gegen Diol Niemand darf es ihm
verdenken, dafs er gegen den Urheber seines Unglücks tief erbittert
war. Abneigung gegen die Person Domitians mochte er schon von
früher her hegen. Denn bei dem bekannten Mifstrauensverhältnis
zwischen diesem und seinem Bruder, dem Kaiser Titus, ist anzunehmen,
dafs unter den Vertrauten des letzteren keine günstige Meinung über
Domitians Charakter herrschte. Jetzt war Dio selbst aufs empfind-
lichste getroffen. Vielleicht hätte Dio den drohenden Schlag noch ab-
Das Exil. 287
wenden oder nachträglich Begnadigung erwirken können, wenn er den
Weg der Schmeichelei beschritten und vor dem Kaiser oder seinen
Lieblingen sich gedemütigt hätte. Zumal wenn gegen ihn persönlich,
wie wir annehmen dürfen, nichts greifbares vorlag, konnte dieser Weg
leicht zum Ziele führen. Ein schwungvolles Enkomion auf Domitians
Herrschertugenden im Stil eines Statius genügte vielleicht, den Kaiser
von der Gesinnungstücbtigkeit des griechischen Rhetors zu überzeugen.
Dafs diese Möglichkeit der Rettung allerdings vorhanden war, scheint
Dio selbst anzudeuten, wenn er später (or. 50 § 8) sich rühmt,') dem
verhafsten Tyrannen nicht geschmeichelt und zu keinem heuchlerischen
oder knechtischen Wort sich herbeigelassen zu haben, zu einer Zeit,
wo viele vor keiner Niedrigkeit in Wort und That zurückschreckten,
um nur das Leben zu retten. Er hatte zu viel Selbstgefühl, um von
dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.
Es ist zweifellos, dafs es das Selbstgefühl des Redners und Sophisten
war^ das höchste Selbstgefühl, das die damalige griechische Welt kennt,
welches ihm in dem entscheidenden Augenblick die erforderliche Charakter-
stärke verlieh. Der Kaiser hatte ihn als quantite negligeabk behandelt. Dazu
fühlte er sich denn doch zu gut. Er fühlte sich als Mann von Stande,, der
auch mit hoch gestellten Römern auf dem Fufs gesellschaftlicher Gleichheit
verkehrte. Vor allem aber war er sich bewufst, in seinem rednerischen
und schriftstellerischen Können eine un verächtliche Waffe zu besitzen, die,
richtig gehaudhabt, selbst einem Kaiser unbequem werden könnte. Wie
nahe diese Auffassung dem Sophisten lag, ersieht man aus Lukian, der
sich den Grundsatz des Archilochos angeeignet hatte: tov xaxwg /u£
dgdfvra deivoig avta^elßsox^ai xaxoig und der — wieder nach Archi-
lochos — seinem Gegner zuruft: rirziya tov tcteqov avveiXrjg)ag^)
Der Sophist gleicht einer Cicade, die, am Flügel ergriffen, nicht schweigt,
sondern einen gewaltigen Lärm erhebt. Die Litteratur ist eine Macht,
die selbst ein römischer Imperator nicht ungestraft beleidigen darf.
Das hat Domitian nicht nur in diesem einen Falle an sich erfahren.
Sein unholdes Verhalten gegen die Vertreter der Wissenschaft und
Litteratur hat bewirkt, dafs nur ein Zerrbild seiner Person auf die
Nachwelt gekommen ist. Die meisten Litteraten haben sich mäuschen-
still verhalten, so lange der Kaiser lebte, oder gar ihm W^eihrauch ge-
1) Or. 50 § 8 oi$ xoltuce^aoQ rdv i^&QÖv n&Qawov o^Si ffj/^a ayewks <rü8k
dveXeii&eQov eintbv^ öre nolXots ayantjräv ijv ^rjv örtoihf tiqAttovoi xai liyovatv.
2) ne^i vfje Anotp^Ados cp. 1.
238 Drittes Kapitel.
streut. Sobald er die Augen geschlossen halte, begannen sie ihn zu
lästern und würzten mit diesen Lästerungen ihre Complimente vor dem
neuen Herrn. Nun hiefs es: Flavia gen$^ quantum tibi tertius ahstulii
heres. Pae^ie fuit tanti, non habuisse duos. Dio wollte nicht so lange
warten. Er suchte und fand einen Weg, schon bei Lebzeiten Domitians
seinem Hafs und Zorn Luft zu machen. Das wäre ganz unmöglich für
ihn gewesen, wenn er gethan hätte, was das nächstliegende war, näm-
lich seine Besitzungen in Prusa zu verkaufen und mit seiner Familie
in eine der Freistädte überzusiedeln, die ihm ein Asyl anboten. Er
hätte dadurch zwar die Möglichkeit gewonnen, in der neuen Heimat
als Redner praktisch zu wirken, aber er hätte sich auch stets in den
Grenzen ofOcieller Gesinnungstüchtigkeit halten müssen, wenn er nicht
sich und die gastfreundliche Stadt ins Unglück stürzen wollte. Es gab
in der That nur einen Weg, sich die Freiheit des Wortes zu erhalten,
den Philostratus bezeichnet mit den Worten: rov (pavegoi i^iaTrjj
ukeTtrwv iavTOV orpd'akfiwv re xai wtwv xcri a'/.Xa iv akkr^ yfj
TtQcitTCJv — q)VT€Vü)v dh xai axotTtTtov xai knavrXwv ßaXaveloig T€
xai yirj7Coig aal jcokka TOLavza inig TQoq)fig IgyaCofAevog. Eben
diesen Weg hat Dio gewählt: aus der Öffentlichkeit zu verschwinden,
unerkannt von einem Ort zum andern zu ziehen, bald hier, bald dort
aufzutauchen, bald als Gärtnerbursche, bald als Badediener oder
sonst irgendwie als niedriger Lohnarbeiter sein Brot zu verdienen und
im Schutze dieses Incognito überall die Saat des Hasses gegen den
Tyrannen auszustreuen.
Dieser Entschlufs, den er 14 Jahre hindurch aufrecht erhalten und
durchgeführt hat, ist mehr als alle seine Reden für den Menschen Dio
charakteristisch. Da für die richtige Beurteilung eines Predigers und
Moralisten von dem Charakter nicht abgesehen werden kann — das
ayiokov'd'tDg ßeßiojycevai rolg koyoig gilt schon den Alten mit Recht
als das entscheidende Merkmal des ächten Predigers — so mufs ich
auf diesen Punkt das höchste Gewicht legen. Man versetze sich in
seine Lage und urteile, ob seine Handlungsweise die eines gewöhn-
lichen Menschen ist. Wenn ein Mann aus der Hefe des Volkes sich
als ßettelphilosoph aufthut und das Evangelium der Bedürfnislosigkeit
predigt, so sagen wir: der Apfel fällt nicht weil vom Stamme. Wenn
er sich mit dürftigster Kleidung und Speise begnügt, so heifst das aus
der Not eine Tugend machen. W'enn er sich obdachlos herumtreibt
und „bei Mutler Grün*' übernachtet, so setzt er nur fort, was er auch
ohne „Philosoph*' zu sein gewohnt war. W^enn er die Vorübergehenden,
Das Exil. 239
namentlich die gut gekleideten, anrempelt und ankrakehlt, so thut er
nur, wozu ihn sein proletarischer Instinct antreibt. Wenn aber ein
Mann aus den höheren Ständen, der bis zur Hälfte seines Lebens ein
behäbiges Wohlleben mit viel Bedienung und aller Bequemhchkeit ge-
ftlhrt hat, im reifen Mannesalter die gewohnte Lebensweise aufgiebt,
auf alle Bedienung, auf alle Genüsse und Annehmlichkeiten verzichtet,
um sich fortan wie einer der geringsten mit seiner Hände Arbeit zu
ernähren und alles dies aus freiem Entschlüsse thut, teils um seine
Freiheit und Unabhängigkeit zu wahren, teils um seiner Heimat treu
zu bleiben, so liegt darin allerdings ein Beweis von Charakter. Mit
Recht haben die Zeitgenossen etwas bemerkenswertes darin gefunden.
Die Leute bekamen Respect vor ihm vo^l^ovreg nkiov ti naga rovg
alkovg exsi'V iici ttjv aktjv xai ttjv f,i€Taßolr]v zov ßlov xal
dia TTjv öoKOvaav avTOlg tov aoifiaTog takaiTtojQlav.
Es ist namentlich bemerkenswert, dafs unter den Beweggründen
dieses Entschlusses die Philosophie keine Rolle spielte. Die Beweg-
gründe waren rein menschUche. Nicht philosophische Überzeugung
gab ihm die Kraft zur That, sondern die That machte ihn zum Philo-
sophen. Diese Auffassung allein hat innere Wahrscheinhchkeit und
stimmt zu dem Selbstbekenntnis der 13. Rede. Er, der stets aller
Philosophie abhold gewesen war — woher sollte er plötzlich eine
philosophische Überzeugung nehmen? Wir haben keinen Grund, seiner
eigenen Erzählung den Glauben zu versagen, die durchaus die „Philo-
sophie'' als das spätere und erst allmählich auf seinen Irrfahrten in
ihm erwachsene hinstellt. Nachdem wir die materielle Lage Dios uns
deutlich gemacht haben, ist es Zeit, zu dieser Erzählung zurückzu-
kehren, die wir jetzt richtiger zu verstehen hoffen dürfen.
Dio schildert uns die Gedanken, die ihn aus Anlafs seiner Ver-
bannung bewegten^ viele Jahre später, in den Conventionellen Formen
eines populär-philosophischen Vortrags. Gleich anfangs (§ 2) formulirt
er die Frage, die er sich damals vorgelegt haben will, in einer Weise,
welche die Begriffe des kynisch-stoischen Dogmas deutlich hervorlreten
läfst. Ist die Verbannung wirklich ein Übel, wie die gewöhnliche
Meinung annimmt, oder gehört sie zu derjenigen Klasse von Dingen,
die an sich weder Güter noch Übel sind, sondern erst durch die
geistige Beschaffenheit des Menschen, der sich mit ihnen abzufinden
hat, leicht oder schwer, nützlich oder schädlich werden? Das ist der
BegrilT der adiaipOQa in der stoischen Güterlehre. Diese Formulirung,
welche schon die Lösung des Problems enthält, stellt Dio als Thema
240 Drittes Kapitel.
seiner Erzählung voran. Es ist nicht glaublich, dafs er sich die Frage
schon damals in dieser Form vorgelegt hatte; aber Jetzt, wo er sie
zum Thema eines moralphilosophischen Vortrags wählte, mufste er sie
so formuliren. So gehört auch im folgenden die Anknüpfung an
Homer, Euripides, Herodot zum Conventionellen Stil der Dialexis.
Odysseus, der sich in Heimweh verzehrt, Orestes, der seiner Schwester
das Elend der Verbannung schildert, verkörpern den natürlichen Abscheu
des Menschen vor der Fremde und die in dieser Richtung sich be-
wegenden Gedanken Dios. Die höhere Ansicht, dafs Verbannung nicht
unter allen Umständen ein Unglück ist, will er aus dem Kroisos er-
teilten Orakelspruch Apollos Herodot 1, 55 herausgelesen haben, in den
er durch eine gekünstelte Interpretation den erforderlichen Gedanken
hineinliest. Weil Apollo dem Kroisos zur q)vYri geraten und dadurch
kundgegeben hatte, dafs sie nicht immer ein Obel sei, will auch er auf
den Gedanken gekommen sein, den Gott zu befragen, wie er sich in
der gegenwärtigen Lage zu verhalten habe. Der Gott habe ihm ge-
antwortet: „Treibe was du jetzt treibst, mit allem Eifer, als eine schöne
Beschäftigung, bis du ans Ende der Erde kommst.'^ Diesen Rätsel-
spruch des Gottes deutet er als Aufforderung, kein sefshaftes Leben in
einer neuen Heimat zu beginnen, sondern in dem unsteten Leben des
heimatlos Umherirrenden zu verharren. Er ist überzeugt, dafs es ihm
zum Heile dienen mufs, dem Gotte zu gehorchen. Er fafst den Vor-
satz, sich hinfort seiner Niedrigkeit nicht zu schämen, nimmt die
Tracht und Lebensweise eines armen Fahrenden an und irrt unstät
von Ort zu Ort.
Es gilt aus dieser coiiventionell stilisirten Erzählung, die, wie schon
bemerkt, an den Sokrntes der Apologie erinnern soll, das Thatsächliche
herauszulesen, das sie enthält. Ich meine, dafs die Befragung des Ora-
kels nicht blofse Fiction ist. Dios religiöse Ansichten, die wir noch
näher kennen lernen werden, sind dem Glauben an göttliche Offen-
barungen nicht abgeneigt. Warum sollte er nicht in dem entscheidenden
Augenblick seines Lebens, als er alle seine Pläne und Hoffnungen
scheitern sah und der Zukunft in qualvoller Ratlosigkeit gegenüber stand,
zu dem göttlichen Ratgeber seine Zuflucht genommen haben? Nicht
die Schulfrage, ob die (pvyri ein aöidq^oQOV sei, beschäftigte ihn, son-
dern die praktische Entscheidung, was er nun beginnen, was aus sich
machen solle. Die bisherige Betrachtung hat uns gezeigt, um welche
Alternative sichs handelte. Er konnte entweder mit seiner Familie und
mit seiner Habe eine neue Heimat suchen, oder in der Hoffnung aut
Das £xtl. 241
bessere Zeiten ein heimatloses Leben fähren, bis er in die alte Heimat
zurückkehren durfte. Diese Alternative hat er dem Gotte vorgelegt. In
dem dunklen Rätselwort des Gottes hat er eine Bestätigung seines
eigenen Planes gefunden. Es hat ihm den Mut zu seinem Wagnis ge-
stärkt. Das Gefühl, durch ungerechte Obermacht zermalmt zu werden
und höchstens durch leidende Geduld und Fügsamkeit sich das Unver-
meidliche erträglich machen zu können, würde ihm den Rest seines
Lebens vergiftet haben. Den Kampf mit den Machthabern aufzunehmen,
sich seiner Haut zu wehren, den Schlag mit Schlägen zu erwidern, war,
wenn auch gefährlich und mühselig, zweifellos das kleinere Übel. Es
erhielt ihm das Gefühl, nicht aus der Hand eines Mächtigen sein Ge-
schick zu empfangen, sondern es sich handelnd selbst zu gestalten, und
das tröstliche Bewufstsein, dafs der Böse dem Guten sein Lebensglück
nicht rauben kann. Es erhielt ihm auch die Hoffnung, durch die Güte
der Götter später in seine Heimat zurückzukehren. Als eine fortdauernde
Anklage gegen den Machthaber wandelte er umher, überall wohin er
kam, gegen den Obermut und die Ruchlosigkeit des Tyrannen eifernd.
Das alles ist verständlich ohne Philosophie. Auch in der Erzählung
der 13. Rede ist es nicht die Philosophie, die als bestimmender Beweg-
grund eingreift, obgleich die philosophische Frage als Thema und Gber-
schrift vorangestellt wird. Die Entscheidung der Frage erfolgt nicht durch
vernünftiges Denken, sondern durch göttliche Offenbarung. Man kann
auch nicht sagen, dafs der Entschlufs als armer Vagant zu leben, not-
wendig die Absicht einschlofs, „Philosoph'^ zu werden. Die Absicht,
als philosophischer Lehrer aufzutreten, würde eine thörichte Überhebung
gewesen sein. Durch sein bisheriges Leben und Streben war er nicht
zu dieser Rolle vorbereitet. Er mufste zunächst mit sich selbst ins Reine
zu kommen suchen, ehe er als Lehrer für andere auftrat. Es hat also
innere Wahrscheinlichkeit, was Dio in der 13. Rede über seine Ent-
wicklung zum „Philosophen^^ erzählt. Nachdem er von seinem Entschlufs,
dem Spruch des Gottes zu gehorchen, berichtet hat, fährt er fort: „Ich
nahm mir also vor, alle Furcht und Scham wegen des mir bevorstehenden
Lebens abzulegen, zog schlechte Kleider an, schränkte auch im übrigen
meine Bedürfnisse ein und begann von Ort zu Ort zu wandern. Die
Leute, die mir begegneten, hiefsen mich, nach meinem Aussehen, einen
Landstreicher, andre einen Bettler, einige auch einen Philosophen. So
kam es, dafs ich allmählich, ohne es darauf abzusehen und ohne selbst
80 hoch von mir gedacht zu haben, diesen Namen erhielt. Während
die meisten der sogenannten Philosophen '^ich selbst als solche durch
T. Arnim , Dio. \ß
242 Drittes Kapitel.
Ausruf verkünden, wie Herolde in Olympia, nannten mich andere so,
und nicht immer und nicht allen war ich es zu wehren im Stande.
Ja^ es sollte sogar diese Fama mir nützlich werden. Denn viele nahten
sich mir nun mit Fragen üher gut und böse. Daher sah ich mich ge-
nötigt, selbst darüber nachzudenken, um den Fragstellern antworten zu
können. Ein anderes Mal wurde ich aufgefordert, aufzutreten und
öffentlich zu sprechen. So sah ich mich denn auch dazu genötigt,
über die Aufgaben des Menschenlebens und über die Bedingungen des
menschlichen Glücks meine Ansichten vorzutragen. Meine Ansicht ging
ddhin, dafs so ziemlich alle Menschen Thoren sind, dafs keiner seine
Aufgabe erfüllt oder auch nur danach strebt, von den Übeln, die ihn
drücken, und von seiner grofsen Dummheit und Ruhelosigkeit befreit
ein edleres und besseres Leben zu beginnen, dafs vielmehr alle auf der-
selben Stelle und um dieselben Dinge, um Geld, Ehre und sinnlichen
Genufs im Kreise herumgetrieben werden, ohne von diesen Dingen
jemals loskommen und zur Freiheit der Seele gelangen zu können ;
wie Gegenstände, die in einen Strudel gefallen sind, sich im Wirbel
herumdrehen und nicht wieder aus dem Strudel herauskommen können.
Indem ich diese und ähnliche Vorwürfe nicht nur allen übrigen, sondern
zumeist und zuvörderst auch mir selbst machte, nahm ich manchmal
in meiner Verlegenheit zu einer alten Rede Zuflucht, die von einem
gewissen Sokrates stammt u. s. w."
Ich sehe keinen Grund, an der Wahrhaftigkeit dieser Erzählung zu
zweifeln und die tiefe Bescheidenheit, von der sie in jedem Zuge Zeug-
nis ablegt, für Maske und Heuchelei zuhalten. Der Hauptpunkt in dieser
Erzählung ist, dafs Dio nicht nur den Namen Philosoph, sondern auch
den Antrieb zu philosophischer Lehrthätigkeit von andern empfängt.
Man kann die bewufste Anlehnung an den Sokrates der Apologie zu-
geben, ohne darum im mindesten an der Wahrheit der Thatsache zu
zweifeln. Denn es ist innerlich durchaus wahrscheinlich, dafs Dios
Schicksal die Aufmerksamkeit der Leute auf ihn lenkte, dafs man sich
nach den Beweggründen seines eigentümlichen Entschlusses erkundigte
und dafs Dio hierdurch zu Erklärungen veranlafst wurde, die jenen Ent-
schlufs als eine philosophische That erscheinen liefsen. Wer in dieser That
einen Beweis unbeugsamer Charakterstärke fand, die unter Verzicht auf
alles, was die Menschen sonst für begehrenswert halten, ein menschen-
würdiges und innerlich glückliches Leben sich zu sclialfen weifs, der
mufsle auch Vertrauen zu dem Manne fassen und Lust bekommen, ihn
in eigenen Nöten um Rat zu fragen. Dafs Dio hierdurch veranlafst
Das £xii. 243
wurde, seine Lebensausicht tiefer und folgerichtiger durchzubilden, ent-
spricht so sehr der inneren Wahrscheinlichkeit, dafs wir es nur aus
den zwingendsten Gründen für erfunden halten dürften. Nur insofern
ist Dios Selbstbekenntnis ergänzungsbedürftig, als es den Antrieb zu phi-
losophischem Nachdenken allein auf äufsere Anregung zurückführt. Der
stärkste Antrieb lag unfraglich in seinem eigenen Bedürfnis, sein Leben
auf neue Grundlagen zu stellen. Von dem Augenblick an, wo er halb
gezwungen halb freiwiüig auf alles verzichtete, was ihm bisher das Leben
lieb gemacht halte, mufste er seine bisherige Lebensanschauung als un-
zureichend erkennen und nach einem neuen, für sein neues Leben
passenden Glaubensbekenntnis suchen. Von der biofsen Opposition
gegen die Tyrannis, die ihm zunächst sicherlich die Hauptsache gewesen
war, konnte er auf die Dauer nicht leben. Dieses innere Bedürfnis
mufste ihn ganz von selbst, auch ohne äufsere Anregung zur Philosophie
führen. Aber glaublich ist es, dafs äufsere Umstände in der von ihm
selbst geschilderten Weise mitwirkten, die innere Entwicklung zu fördern
und zur Reife zu bringen.
Ein neues Glaubensbekenntnis zimmerte er sich, nicht aus logischen
Schlüssen, sondern aus praktischen Erlebnissen. Er erlebte, dafs die
Verbannung, die ihn anfänglich an den Rand der Verzweiflung getrieben
halte, ihre Schrecken verlor, sobald er sich entschlofs von allen her-
kömmlichen Meinungen über Glück und Ehre abzusehen, den Mut nicht
zu verlieren und sich so gut als möglich in das neue Leben zu ünden.
Er fand, dafs er alle die Dinge, die er bisher für unentbehrlich gehalten
hatte, den Inbegriff alles dessen, was dem Culturmenschen der höheren
Stände eine süfse Gewohnheit ist, ganz wohl entbehren konnte. Er
glaubte sogar, seit er darauf verzichtet hatte, eine Steigerung seiner
Lebenslust zu empGnden. Es schien ihm, als ob er in seinem bishe-
rigen weltförmigen Dasein nie sich selbst gehört und erst durch
seine Ausstofsung, beziehungsweise seinen Austritt aus der Gesellschaft
das höchste Gut, die freie Selbstbestimmung wiedererlangt hätte. Wer
in der Gesellschaft als ein Glied der höheren Stände leben und die
Achtung seiner Standesgenossen geniefsen will, der mufs sich in jeder
Hinsicht den geschichtlichen Bedingungen fügen, auf denen diese Gesell-
schaft beruht. Er mufs sich die Bildung aneignen, die sie anerkennt
und fordert; er mufs die Beslrebungen, die als wertvoll gelten, zu den
seinen machen ; er mufs die Formen des gesellschaftlichen Verkehrs be-
obachten; er mufs immer beflissen sein, das Mafs äufserer Güter sich
zu erhallen, von dem die Zugehörigkeit zu seiner Klasse abhängt. Der
16*
244 Drittes Kapitel.
Inbegriff von Ideen, auf dem das innere Wesen der Gesellschaft beruht,
ist ein geschichtliches Product, d. h. er enthält zahlreiche Anomalieen
und Widersprüche. Diese werden von dem einzelnen erst dann störend
empfunden, wenn infolge unzureichender Ergänzung aus den unteren
Schichten oder sonstiger Culturverhäitnisse die lebendige Fortentwicklung
der GeseUschaft aufhört und eine Erstarrung ihres inneren Wesens ein-
tritt Nun wird die gesellschaftliche Bindung von vielen als drückende
Fessel empfunden. Das Irrationelle in den gesellschaftlichen Zuständen
wird dem zur Qual und Pein, der verzweifelt, zu ihrer Besserung bei-
tragen zu können. In solchen Zeiten tritt die Erscheinung auf, der
wir bei Dio begegnen, dafs Declassirung, d. h. Hinabsinken in eine tie-
fere Schicht der Gesellschaft als Befreiung begrüfst wird. Sie beruht
darauf, dafs in den unteren Volksschichten die geschichtliche Eigenart
einer solchen Epoche nicht mit der gleichen Schärfe ausgeprägt ist, wie
in den oberen. Die geschichtliche Bindung des individuellen Denkens
und Wollens ist hier in weit schwächerem Grade vorhanden. In Zeiten
lebendig fortschreitender Bildung ist genau das Gegenteil der Fall. Da
befreit die Bildung von dem Druck des Herkommens in Glauben und
Sitte. Die höhereu Stände haben die Führung des Volkes: ihre gei-
stigen Errungenschaften kommen der Gesamtheit zugut. Wenn aber
das Salz stumpf geworden ist, womit soll man salzen? — So gewifs
wahre Bildung besser ist als rohe Unwissenheit, so gewifs ist naive Ge-
sittung besser als eine anspruchsvolle, zur Durchdringung des praktischen
Lebens unfähige Scheinbildung. Darum fühlt sich Dio, in dieser Epoche
seiner Entwicklung, zu Bauern, Hirten und Jägern hingezogen^), bei
denen die naive Gesittung sich noch erhalten hat. Im Verkehr mit
diesen einfachen Leuten, in denen noch die natürliche Treuherzigkeit
und Gutmütigkeit des Volkes lebt, fühlt er sich wohl. Er lernt den
Teil des Volkes, der von seiner Hände Arbeil lebt, aus der Nähe kennen ;
ja er sieht sich selbst zu Zeiten genötigt, durch gewöhnliche Handarbeit
sein tägliches Brot zu erwerben ; und er macht die Erfahrung, dafs die
Armen an Lebensfreude und Menschenwürde hinter den Reichen keines-
wegs zurückstehen. Er lernt auch den Segen kennen, der auf körper-
licher Arbeit ruht, dafs sie Leib und Seele gesund erhält. So beginnt
er zu zweifeln an dem Wert jener Bildung und Cultur, welche die
höheren Stände vor den niederen voraushaben und die auch er, weil
er zu diesen gehörte, als etwas selbstverständhches in sich aufgenommen
1) Or. 1 § 51.
Das Exil. ' 246
hatte. Er macht den Versuch, aus dem geschichtlichen Zusammenhang
herauszutreten, von allen Voraussetzungen seines bisherigen Lebens ab-
zusehen und zu einer rationellen Kritik der herrschenden Cultur und
Bildung zu gelangen. Unmöglich kann eine Cultur die richtige sein,
die mit so grofsem Aufwand innerer und äufserer Arbeit von dem End-
ziel alles menschlichen Wollens, der Eudämonie, sich nur weiter ent-
fernt hau Der Mann aus dem Volke hat weder die formale Geistes-
bildung und die Kenntnisse, auf denen die geistige Cultur der höheren
Stände beruht, noch die Fülle äufserer Besitztümer, welche die mate-
rielle Cultur zur Befriedigung zahlloser Bedürfnisse der Reichen geschaffen
hat. Dennoch hat er in vielen Fällen ein freieres, glücklicheres und
auch menschenwürdigeres Dasein als der Reiche. Die Bildung verfehlt
also ihren Zweck. Sie ist von der Natur abgeirrt. Rückkehr zur Na-
tur ist die Losung.
So wurde Dio ganz von selbst, nicht durch Tradition und Bücher-
studium, sondern durch die praktische Umgestaltung seines Lebens auf
die Grundgedanken des Kynismus geführt, der in dem Widerspruch
gegen die falsche Cultur und Bildung seinen Lebensnerv hat. Aber
auch der extreme und einseitige Moraiismus der kynischen Secte empfahl
sich ihm als ein passendes Glaubensbekenntnis für seine gegenwärtige
Lage. Alle äufseren Güter, wie Besitz, Heimat, Ehre und Einflufs,
hatte ihm ein jäher Schicksalswecbsel geraubt. Wo konnte er besseren
Trost finden als in jeuer frohen Botschaft, welche die Wertlosigkeit
aller dieser Güter verkündet, den Menschen ganz auf eigene Füfse stellt
und ihn sein Glück einzig in der Erfüllung seiner sittlichen Aufgabe
suchen heifst, an der ihn keine Macht des Himmels und der Erde hin-
dern kann? Die Lebensweise, zu der er sich aus rein persönlichen
Gründen entschlossen hatte, war eben die, welche die Apostel des Ky-
nismus seit Jahrhunderten empfahlen und befolgten. Auch sie hatten
das Leben des Bettlers und Vaganten als den Weg zur Wahrheit, Frei-
heit, Selbstgenügsamkeit gepriesen.
Auch die feindselige Haltung gegen die Monarchie, die er fortan
einzunehmen gesonnen war, mufste beitragen, ihn ins stoisch-kynische
Lager zu treiben. Denn die politische Opposition gegen den Principat
pflegte in dieser Zeit mit stoischem oder kynischem Bekenntnis Hand in
Hand zu gehen.
Wenn Dio die sittlichen Wahrheiten, die ihm durch eigenste per-
sönliche Lebenserfahrung aufgegangen waren, erfolgreich predigen wollte,
so mufste er notwendig unter den Sittenlehrern der Vergangenheit Um-
246 Drittes Kapitel.
schau halten, um unter ihnen die berühmten Namen auszuwählen, an die
seine eigene Predigt anknüpfen konnte. Es würde dem Geiste dieses
von der Vergangenheit zehrenden Zeitalters widersprochen haben, wenn
er, ohne an der Autorität der Alten einen Rückhalt zu suchen, nur
durch eigene Gedanken und selbst erlebte Wahrheiten seine Zuhörer zu
erbauen versucht hätte. Ihm selbst und seinen Hörern würde das als*
Überhebung erschienen sein. Ein durch Alter und Oberlieferung ge-
heiligter Text mufste der Predigt zugrunde gelegt werden. Seit Jahr-
hunderten waren die Reiseprediger thätig gewesen, den Armen im Geiste
die Brosamen darzureichen, die von den Tischen der Philosophen fielen.
Es gab daher auf diesem wie auf allen anderen Gebieten der Litteratur
und Kunst einen durch Überlieferung fortgepflanzten Schatz von Formen
und Gedanken, aus welchem nicht zu schöpfen Thorheit gewesen wäre.
Aber es wäre verkehrt, einen Epigonen wegen dieser unvermeidlichen
Abhängigkeit von der Überlieferung als blofses Mundstück fremder Ge-
danken ohne eigenes Leben und Individualität anzusehen. Gerade bei
Dio sind wir in der Lage, neben seiner Abhängigkeit von den Vorbil-
dern auch die subjective Bedingtheit seines Glaubensbekenntnisses nach-
zuweisen.
W^ir haben bisher die Beweggründe klarzulegen versucht, die den
Redner zur Wahl des Vagantenlebens bestimmten und ihn weiterhin
der Philosophie, genauer der kynisch-stoischen Philosophie in die Arme
führten. Um auf dieser Grundlage eine Vorstellung zu gewinnen, wie
sich während des Exils seine Wirksamkeit gestaltete, ist zweierlei er-
forderlich. Zuerst müssen wir alle Andeutungen in den erhaltenen
Werken Dios, die sich auf die Verbannungszeit beziehen, auszunutzen
suchen, wobei wieder die 13. Rede, wie schon für die bisherige Be-
trachtung, sich besonders nützhch erweisen wird. Sodann gilt es Um-
schau zu halten, ob sich unter den .erhaltenen Werken solche be-
finden, die wir mit Sicherheit oder doch mit Wahrscheinlichkeit in die
Zeit des Exils setzen können.
Der Bericht des Philostratus über die Verbannung Dios hatte sich uns
zunächst in einem Punkte als unzuverlässig erwiesen. Seine Behauptung
„oxL (.IT] nQoaeraxdri avri^ q)vy€iv'' mufsten wir als unrichtig verwerfen.
Dagegen hat uns die weitere Betrachtung wieder zu Philostratus zurück-
geführt und gezeigt, dafs seinem Bericht mehr Wahrheit zugrunde liegt,
als es anfangs den Anschein hatte. Es ist richtig, dafs Dio freiwillig
jenes unstäte Lehen führte, das ihn durch viele Provinzen des Reiches
und schliefslich bis an das Nordgestade des Pontus führte. Es ist
Das Exil. 247
auch richtig, dafs er aus der ÖffeuUichkeit verschwand und durch seine
ganze Lebensweise der Aufmerksamkeit der Behörden zu entgehen suchte:
Tov cpavBQOv i^iOTTj uliTTTWv iavTOv 6q)&aX(iwv ze xai afrtüv xai
Skia iv aXXji yfi nQdrrcjv. Wir wurden durch den Zusammenhang
der Betrachtung dazu geführt, diese Nachricht als glaubwürdig zu be-
handeln. Denn in der Absicht, gegen den „Tyrannen^ zu wirken, fanden
wir einen der wichtigsten Beweggründe für die Wahl der unsUiten
Lebensweise. Diesem Zweck aber konnte das Vagantentum nur dienen,
wenn es mit strengem, nur gelegenthch mit aller Vorsicht gelüfteten
Incognito verbunden war. Dazu stimmen denn auch die weiteren Einzel-
heiten bei Philostratus. Das akka iv aXXjß y^ ngaTteiv kann nur
bedeuten, dafs Dio häuGg die Maske wechselte, um der Wachsamkeit
der Verfolger zu entgehen. Das Pflanzen, Graben, Wassertragen geschah
nach Philostratus vTtkg rgocpYJg, zum Zwecke des Broterwerbs. Dieser
Zug pafst vortrelTlich zu dem Incognito, zumal Philostratus durch den
Zusatz xal noXXa roiavra iQyaC^ofxevog den häufigen Wechsel der
Arbeit andeutet. Wenn Dio gerade die niedrigsten Arbeiten übernahm,
so mochte das zum Teil darin seinen Grund haben, dafs er für höhere,
besondere Kunstfertigkeit erfordernde Arbeiten nicht geschult war.
Aber zweifellos wirkte auch der Umstand mit, dafs er beständig den
Aufenthalt wechselte und deshalb nach der ersten besten Arbeitsgelegen-
heit griff, die sich ihm darbot. Fand er keine Arbeit, so bettelte er.
Ein TCTioxog war er in den Augen der Soldaten, nach der Darstellung
des Philostratus. Sie ahnten nicht, wen sie vor sich hatten, bis er nach
Domitians Tode sich zu erkennen gab.
Emperius geht also entschieden zu weit, wenn er den ganzen Be-
richt des Philostratus als grundfalsch verwirft: et Philostratus qtiidem
non damnatutn tradtt, sed voluntario eocilio ex hominum ocnlis excesstsse,
atque nunc palando nunc latitando saluti suae consuluisse. quae sunt
fdsissima, ut pleraque quae de Dione tradidit Philostratus. Nur in dem
einen Punkte irrt Philostratus, dafs er die Relegation leugnet. Alles
übrige hat sich als innerlich wahrscheinlich herausgestellt. Ich bin
überzeugt, dafs es so gut wie das folgende (die Scene im Standquartier
der Legionen) aus einer verlorenen Rede Dios stammt. Es ist aber
nötig festzustellen, ob die Andeutungen in den erhaltenen Reden zu
der philostra tischen Darstellung stimmen.
Am häufigsten hebt Dio, wo er auf die Exilszeit Bezug nimmt, die '
vagirende Lebensweise hervor, z. B. tooovtov xQovov TtXavrjd'eig U 46, 26
— TjXwfirjv fcavxaxov l 181, 27 — : äarcsQ xai xbv aXXov XQOVov
248 Drittes Kapitel.
?^ijxa alüjfÄ€vog 1, 159,9 — St€ h alj] avvexei 1 191, 15. — Davon
legt er sich auch später, nach seiner Restitution, den Namen akj^TTjg bei :
avdQsg akiJTai aal avTOvqyol %rjg aocplag 12,16 und im Euboicus:
TtQeaßvTixov noXvkoyia — xal aXriTVKOv I 189, 21. — Die Obdach-
losigkeit, der Mangel von Haus und Herd, wird hervorgehoben H 46, 26
aoixog Tcal aviaxiog und gleich darauf, an derselben Stelle, der Mangel
jeglicher Bedienung: aXXa fxr}dk axoXov&ov €va yovv iuayofxevog:.
Dazu gesellen sich als weitere Züge die Armut, der Mangel an Subsistenz-
mittein: xaltoc [JtixQ^ f^^^ vtctjqx^ nevLag vilvdvvog fjfilv, oiöhv tjv
öeivov, ov yoQ el^i ngog tovto a/iekirrjrog ox^dov etc. H 46, 24. —
ovöiv ex(ov rj cpavXov Ifiariov, xai Ttolkamg fihv dij xal aXXote ifcei-
gd&rjv kv zolg toLOvroig ifLaiQoig, ave iv ahj avvexel, arag ovv dfj
xai roTS, (jjg eari TtevLa XQW^ '^V ^•^^ IsQov xal aavXov 1 191, 14
(im Euboicus). — iii] q^lXiov igrjfilag rjrrrj^eig, fiij xqrmavutv
ccTtoglag 1170,27. — Dafs er gelegentlich bettelte, geht schon daraus
hervor, dafs ihn die Leute ntwxog nannten 1 182, 1 und noch deut-
licher aus 19,27 h ayvqrov axT^fiari aal atoXy und aus der Ver-
wendung des Odysseeverses ^222: alrl^cov axoXovg, ovx aogag oidk
Xißrjtag. — Ein weiterer wichtiger Zug der philostratischen Darstellung
ist die Verrichtung niederer Arbeiten. Auch sie wird in den erhaltenen
Schriften angedeutet 1 2, 16 avdgeg aXfJTai xcri avrovQyoi rrjg oo(plag,
Ttovoig re xal sgyoig oaov övvdfied-a kyxetQOvweg (so nach Herwerden,
Xcclgovreg die Hds.) rd noXXd. Diese Stelle findet sich freilich in
einer nach der Restitution gehaltenen Rede, der ersten Ttsgl ßaaiXelag;
es ist aber nichtsdestoweniger zweifellos, dafs sie in erster Linie auf
die Exilszeit zu beziehen ist. Auf die Verrichtung niederer Arbeiten
müssen auch, meines Erachtens, die Stellen bezogen werden, wo von
einer %aXai7tix)QLa und ihren schüdlichen Folgen für Dios Gesundheit
die Rede ist. In or. 19 (11257,11) erwähnt er noch in ziemlich über-
legenem Ton : trjv doxovaav avroig tov aw^axog raXai7CCüQlav, Da-
gegen giebt er or. 40 § 2 (11 46, 18) zu, es sei nülig gewesen tov
ocifiarog — TtoiJ^aaa&al iiva 7VQ6voiav, Ix TCoXXfjg '/.ai avvexovg
TaXaiftiüQlag äTteiQrjxoTog. Dazu stimmen denn die in den späteren
Reden nicht seltenen Klagen über seinen schlechten Gesundheitszustand.
Dafs er schon während des Exils gelegentUch Mühe hatte, den physi-
schen Anforderungen der von ihm gewählten Lebensweise zu genügen,
zeigt n 70, 27 : iifj (flXwv €Qrj/iiiag -^TTrj&elgf fxri xQVI^druv ctTTogiag,
UTi owfiaTog do&evelag. Denn aus der Coordinirung der drei
Begriffe geht hervor, dafs die Schvvächhchkeit des Körpers wie die Ver-
Das Exil. 249
lassenheit und Armut als ein actuell gewordenes Obel erwähnt wird,
mit dem er als Exilirter zu kämpfen hatte. — Um das von Philostratus
entworfene ßild zu vervollsländigen, fehlt nur noch ein Zug, der aller-
wichtigste: das Incognito. Ich will kein grofses Gewicht legen auf die
schon oben angeführte Stelle 1 9, 27 h ayvQTov axTjfiaTi xai arolij,
obwohl sie die Vorstellung einer zur Unkenntlichmachung dienenden
Verkleidung nahe legt. Beweisend sind die Stellen, die von seinen
rednerischen und schriftstellerischen Angriffen gegen Domitian und der
mit ihnen verbundenen persönlichen Gefahr handeln: 1 36, 8 ov yag
oklytjv ovS* Iv ollyip xQOviit didwxa ßaaavov T^g ikevO-eglag, ei
öh iyof TtQoxeQOv fiiv, otb Ttaaiv avayxalov iöoxsL xpevöead-aL öia
q)6ßoVf (lovog aXfid-eveiv itolfiwv, xal ravra xcvövvevwv vtzIq
rrjg ipvx'fjg, vvv ^i ot€ nSaiv e^eOTi Takrjd^ liyeiv, xpevöofxai
fiTjdevog xivövvov nageoTviTog u. s. w. — Die Vorstellung
einer dauernden Gefahr erwecken auch die Worte II 49, 20: ^era
<pvy^v ovtiog ficmgav xai Ttgay^iara Toaavra xal rvQavvöv
kx&Qov. Sie wären nicht ganz verständlich, wenn Dio nur durch das
Verbannungsurteil selbst die Feindschaft des Tyrannen erfuhr und weiter-
hin ungestört nach seinem Geschmack leben durfte. Dasselbe gilt von
der Stelle, welche die ausdrückliche Erwähnung seiner gegen Domitian
gerichteten Angriffe enthält 11 71, 1 Ttqog dh zovTOig artaaiv (nämlich
aufser Verlassenheit, Mittellosigkeit, körperlichem Leiden) ix^Q^^ ^^^'
XO^ievog ov röv öelva aXXa %6v — öeaTtoTtjv ovofia^ofievov
xal d^eov — — xofi lavta ov -d'WTtevwv avTov ovöi ttjv ex^Qciv
TcagaiTovfxevog, akka ig€&iK(ov avtixgvg xai tcc Ttgoodwa nayiOL (xa
JL* ov jiiikkiov vvv igelv rj ygaxpecv, akka eigrpiujg rjörj xai yeyga-
(piig, T^al Tovnov Ttavraxy tcJv koycov xal %wv ygafXfiaTWv ovrwv.
In diesen Worten ist der deutliche Hinweis enthalten auf Verfolgungen,
die ihm seine Reden und Schriften während der Exilszeit zuzogen.
Nicht wahnwitzige Tollkühnheit, fügt er hinzu, hat mich bei diesem
Verhalten geleitet, sondern Gottverlrauen. Mir scheinen diese Stelleu
hinreichend zu beweisen, dafs Dio Grund hatte, das Licht der Öffent-
lichkeit zu meiden und sich in den Schleier des Incognito zu hüllen.
Es wird also auch in diesem Hauptpunkte die Richtigkeit der philostra-
tischen Darstellung durch die Andeutungen in den erhaltenen Reden
bestätigt.
Von der Vorstellung, die wir uns von Dios materieller Lage wäh-
rend des Exils bilden, hängt es natürlich ab, wie wir uns seine Lehr-
weise in dieser Zeit zu denken haben und welche erhaltenen Schriften
250 Drittes Kapitel.
in dieser Zeit entstanden sein können. Ein Mann, der als Geächteter
lebt, der durch fortdauernde Angriffe gegen das Staatsoberhaupt Ver-
folgungen gegen sich heraufbeschwört und sich dadurch gezwungen
sieht, unstät und unerkannt von Ort zu Ort zu wandern, wird ganz
anders auftreten, als einer, der sich im Vollbesitz bürgerlicher Ehren
befindet und mit der Staatsgewalt auf friedüchem Fufse lebt. Er wird
bestrebt sein, durch seine Lehrthätigkeit möglichst wenig Aufsehen zu
erregen. Er wird sich zunächst mit seiner Lehre an einzelne wenden,
vielleicht auch, wenn er dazu aufgefordert wird, vor einem gröfseren
Zuhörerkreise reden, aber die eigentlich öffentlichen Gelegenheiten, die
Festversammlungen des Volkes, meiden. Es ist klar, dafs für einen
solchen Mann die dialektische Unterrichtsmethode die geeignetste war.
Nicht allein der Wunsch, Aufsehen zu vermeiden, sondern auch das
Gefühl der eigenen Unfertigkeit und Unsicherheit mufste ihn veranlassen,
im kleinsten Kreise seine Wirksamkeit zu beginnen und sich zunächst
an einzelne zu wenden. Es tritt ja bei dieser Methode der Lehrer
nicht mit dem Anspruch auf, im Besitze der Weisheit zu sein. Dio
fühlte sich notwendig selbst zunächst als Lernender. Sein Bestreben,
sich selbst über die ethischen Probleme Klarheit zu verschaffen, konnte
er durch nichts besser fördern, als durch Unterhaltungen mit Leuten
jeder Art, in denen er allmählich immer mehr der Führende und
Gebende wurde. Es kam hinzu, dafs Sokrates, dem er in aller Be-
scheidenheit nacheiferte, diese Methode der Forschung und des Unter-
richts für die allein wahrhaft philosophische gehallen hatte und dafs die
sokratische Litteratur, die er teils von früher her kannte, teils jetzt mit
neuem Eifer und in anderem Sinne zu studiren begann, einmütig diese
Methode als das unterscheidende Merkmal der Philosophie gegenüber
der Sophistik feierte. Wie nahe lag es für Dio, seine eigne sophistische
Weisheit mit der alten Sophistik, so verschieden sie von ihr sein
mochte, in Parallele zu stellen und wenn er sich von ihr lossagte, um
sie mit der Philosophie zu verlauschen, auch in der Form den von
altersher als „philosophisch" geltenden, dem bisher befolgten ganz ent-
gegengesetzten Weg einzuschlagen. Wir dürfen annehmen^ dafs ihm
der Wunsch, durch rednerische Mittel wie bisher zu wirken, nie ferner
lag, als in der ersten Zeit seines Exils. Wenn er die Prunkgewänder
des Sophisten mit dem Betllermantel vertauschte, so mufste er auch
seine Rede umcostümiren und auf sie dieselben Grundsätze schlichter
Natürlichkeit anwenden, wie auf sein Aufseres. In jedem Wort mufste
er zeigen, dafs es ihm nur auf die Sache ankam.
Das Exil. 251
Doch wir brauchen uns nicht mit blofser Wahrscheinlichkeits-
rechnung zu begnügen. Die 13. Rede giebt die erwünschte Auskunft.
In § 12 schildert Dio, wie viele Leute sich mit Anfragen über ethische
Dinge an ihn wenden und er sich, um ihnen antworten zu können, zum
Nachdenken genötigt sieht. Hier ist oft'enbar an einen Verkehr mit
einzelnen gedacht, der sich in Frage und Antwort vollzieht. Ab^r der
Philosoph erscheint hier als der Berater, der auf Anfragen Auskunft
erteilt. Deuthcher wird in § 31 auf die dialektische Methode hin-
gewiesen: oixu) örj xa£ iyat kfretQCüfirjv öiaXiyead-at 'Pwfialoig,
inecöri (xe ixdkeaav xcri kiyetv rj^lovv, ov nara dvo xal TQ€ig
aTCokafißaviov iv naXalotqaiq xai TCSQUiaTOig* ov yaq rjv dvvarov
ovTug ev Ixelvrj Tjj 7c6lec ovyyLyvea&ai' nokXolg 5h nal a&Qooig
eig Tovro avvtovatv etc. Hier werden deutlich zwei Lehrmethoden
einander gegenüber gestellt. Das xara ovo i^al TQSlg anokafißctvetv
ist die dialektische Methode der Sokratik. Denn zwei oder drei Leuten
hält man keine cpideiktischen Vorträge. Die andere Methode ist der
zusammenhängende popularphilosophische Lehrvortrag, für den er so-
gleich ein Beispiel giebt. Beides ßillt unter den BegrifT dialiyea&ai;
das eine heifst ötdloyogn das andere öcaXe^ig. — Es ist nun sehr be-
achtenswert, dafs Dio seine Verwendung der letzteren Form gewisser-
mafsen entschuldigt und aus der Besonderheit der römischen Verhält-
nisse herleitet. Da in der ganzen Rede neben dem moralischen Zweck
das Bestreben einhergeht, die eigene philosophische Entwicklung in
ihren Grundzügen vorzuführen, so ist anzunehmen, dafs Dio den rö-
mischen Aufenthalt, von dem er hier redet, als epochemachend für seine
Lehrmethode betrachtet. Gemeint ist der erste römische Aufenthalt
Dios nach seiner Restitution, von dem später die Rede sein wird. Auf
seiner Rückreise berührt er Athen und wiederholt dort den Vortrag
den er vor kurzem in Rom gehalten hatte. Offenbar will er also die
dialektische Methode als die ihm eigentlich zukommende und während
der Exilszoit in der Regel von ihm angewandte bezeichnen. Wäre die
popularphilosophische Epideixis von jeher, auch während des Exils, die
regelmäfsige Form seiner Lehrthätigkeit gewesen, so würde ihre Moti-
virung aus der Eigentümlichkeit der römischen Verhältnisse übel an-
gebracht sein, (ch ßnde also in dieser Stelle ein Selbstzeugnis Dios,
dafs er sich während seiner Verbannung in der Regel der dialektischen
Methode bedient hat. Erst als er ein berühmter Mann geworden war
und als es ihm durch seine Restitution nahegelegt war, vor grofs-
städtischem Publicum auftretend mehr in die Weite zu wirken, hat
252 Drittes Kapitel.
er diese Form verlassen und sich der popularphilosophischen Epideixis
zugewandt.
Es soll damit keineswegs behauptet sein, dafs Dio als Verbannter
ausschliefslich die dialektische Methode anwendete und den zusammen-
hängenden Lehrvortrag in derselben Weise wie der platonische Sokrates
perhorrescirte. Es heifst ja in der 13. Kede schon § 12, also in der
Schilderung der Anfänge seiner Lehrthätigkeit: Ttaliv de iTcikevov
Xiyeiv TcaraOTavta elg to xoivov ovtlqvv i^al tovxo avayxalov
iylyveio Xiyeiv Tteql rwv TtQOOti^ovrujv roig av&Qcinoig. Aber es
ist ein grofser Unterschied zwischen der kurzen, bescheidenen An-
sprache, zu der die Gelegenheit auffordert und die, auch wenn sie nicht
im Zusammenhang eigenthchen Gesprächs vorkommt, den Ton der
Conversation wahrt^ und jenen pomphaften Erzeugnissen popularphilo-
sophischer Epideiktik, den Königsreden, der Olympica, der Alexandrina
und in gewissem Sinne der eubüischen Rede. Diesen Unterschied wird
die weitere Untersuchung in seiner Bedeutung für die Stilentwicklung
Dios klarzulegen haben. Soviel ist schon jetzt klar, dafs die vollen
Klänge und die üppig wuchernden Perioden der genannten Reden eine
Stilrichtung bekunden, die alles andere eher als kynisch ist und schlecht
zu dem Bilde passen würde, das wir uns von Dios Wesen und Leben
während des Exils machen. Diese Reden gehören, wie auch aus anderen
Kennzeichen sich ergiebt, der dritten Periode Dios an, die ich im letzten'
Kapitel besprechen werde. Die infolge der Restitution veränderte
Lebenslage Dios hat eine neue Wandlung seines Stils herbeigeführt, die
sich in gewissem Sinne als Rückkehr zur Sophistik und Epideiktik dar-
stellt. Für die Exilsperiode dagegen ist es bezeichnend, dafs Dio sich
möglichst weit von seiner bisherigen Stilrichtung entfernt und in Ge-
spräch und Ansprache einen Ton anschlägt, dessen schlichte Natürlich-
keit und Verzicht auf den Flitterschmuck sophistischer Rhetorik mit
seinem W'esen und Leben in dieser Epoche in Einklang steht. Es ist
also innerlich wahrscheinhch und mit den Andeutungen Dios in der
13. Rede in Einklang, wenn ich die conversatorische Unterrichtsmethode
in ihren beiden Hauptformen, der eigenthchen Gesprächsfüliruug und r
der einfachen, kurzen Ansprache, für die Exilszeit in Anspruch nehme.
Ich habe schon angedeutet, dafs beide Formen sich nicht ausschliefsen,
sondern die eine häufig in die andere überging. Der Philosoph unter-
hält sich zunächst mit einzelnen. Eine Corona sammelt sich und
hört dem Gespräche zu. Sie mufs mitberücksichtigt werden. Darum
läfst der Philosoph von den» Frage- und Antworlspiel ab und fährt in
Das Exil. 253
zusammenhängender Rede fort. Dies ist z. B. der Fall in or. 74 {mcQi
afciorlag)^ or. 77. 78 {tcsq! q>d'6vov\ or. 25 (rtegl rov daifiovog). Es
kommt aber auch das Gegenteil vor. Der Philosoph beginnt vor einem
gröfseren Zuhörerkreis mit. zusammenhängender Ansprache. Im Verlauf
derselben bemerkt er einen oder den andern besonders lebhaft inter-
essirten Hörer. Wenn die Corona nicht zu grofs und der Gegenstand
dafür geeignet ist, wendet er sich plötzlich an diesen einzelnen und
läfst für eine Zeit lang Frage und Antwort den zusammenhängenden
Lehrvortrag unterbrechen. Hierfür bietet or. 14 (rcegl dovkelag xal
i]Lev&€Qiag a) ein belehrendes Beispiel. Es genügt, diese beiden in
ihrer Gegensätzlichkeit zusammengehörigen Beobachtungen mit einander
zu verbinden, um sofort zu erkennen, dafs Stücke wie die genannten
nicht ursprünglich für die Leetüre ausgearbeitete StilUbungen sind.
Sie können nur im Zusammenhang mit der lebendigen, mündlichen
Lehrlhätigkeit Dios enstanden sein, aus deren praktischen Bedingungen
jene Eigentümlichkeiten sich erklären. Ein Schriftsteller, der für
den Leser Dialoge als Stilübungen schriebe, würde seine Ehre darein
setzen, die dialogische Form nach berühmten Mustern rein durchzu-
führen und nicht aus dem Dialog in den zusammenhängenden Vortrag
übergehen. Noch weniger würde der Verfasser einer zum Lesen be-
stimmten Rede diese durch eine dialogische Partie unterbrechen. Wir
sind also berechtigt, dieses Mischungsverfahren als bezeichnenden Zug
aufzunehmen in das Bild der lebendigen, mündlichen Lehrthätigkeit
Dios. Es zeigt sich nun erst, was die Lehrer dieser Art unter öia-
Xiyead'ai verstehen. — In or. 42 § 2 sagt Dio : ovöinoTe yaQ ovdevi
eycjye tovto vmeaxofitjv , dg lnavog cov kiyeiv rj q)QOveiv rj nkiov
Ti yiyvciaxeiv töjv noXXdv, aXX vftig avxov tovtov diafxaxofievog
bfLaaroxe xai avriliycjv xolg a^iovaiv eTcetra €ig %b kiyuv xad-la-
raf^ai' xai noXXol tovto avzo Iftldei^iv rjyrjaavro. Auch diese
Stelle giebt uns das Bild eines mit einzelnen geführten Wortstreites,
der in einer zusammenhängenden Ansprache des Philosophen seinen
Abschlufs findet. — Bei Epiktet zweifelt niemand, dafs -wirkliche Unter-
haltungen des Philosophen mit seinen Schülern vielfach von Arrian
wiedergegeben sind. Auch hier findet sich derselbe regellose Wechsel
von Gespräch und fortlaufender Rede. Kann man noch zweifeln, dafs
die gleiche Erscheinung bei Dio ans den gleichen Ursachen zu er-
klären ist?
Durch diese Erwägungen glaube ich den Unterschied klar gelegt
zu haben zwischen der im Ton dem Gespräch nahestehenden und der
254 Drittes Kapitel.
engsten Verbindung mit wirklichem Gespräch i<ihigen diale^ig einer-
seits und der popularphilosophischen Epideixis andererseits, bei der eine
Verbindung mit Gespräch schlechthin undenkbar ist. Diese wendet sich
an grofse Versammlungen und sucht die ungeheure Ohrmuschel des
Demos mil ihren Klängen zu füllen ; jene wendet sich an den kleineren
Hörerkreis, der sich durch zufällige Erweiterung einer im Gespräch be-
griffenen Gesellschaft bildet. So wird in or. 77. 78 (negl (p&ovov)
gleich anfangs der oxXog mit berücksichtigt, der dem Einzelgespräch
zuhört; weiterhin sieht sich Dio genötigt, die Gesprächsform fallen zu
lassen: elg tb liyeiv xa&laraTai.
Dieses freie epiktetische öiakiyea&ai sehe ich als die normale
Lehrweise Dios während der Exilszeit an.
Ehe ich den Versuch mache, einige der erhaltenen Schriften der
Verbannungszeit zuzuweisen, mufs ich zu den formalen Kennzeichen
der Epoche, die ich entwickelt habe, ein inhaltliches hinzufügen. Das
stoisch-kynische Bekenntnis, auf welches Dio, wie wir sahen, durch
seinen Schicksalswechsel geführt wurde, ist an sich nicht geeignet, als
Unterscheidungsmerkmal der zweiten von der dritten Epoche zu dienen.
Denn im wesentlichen hat er es auch in der dritten Epoche beibehalten.
Aber es giebt innerhalb dieser Gedankenrichtung viele Abstufungen, je
nach der gröfseren oder geringeren Schroffheit und Paradoxie des Stand-
punktes. Wir werden bei der Betrachtung der einzelnen Werke finden,
dafs solche Abstufungen auch bei Dio vorhanden sind. Ohne hier auf
die Frage einzugehen, worin diese Modificationen bestehen — denn das
läfst sich nur durch Analyse der einzelnen Werke darlegen — will ich
nur den allgemeinen Gesichtspunkt aufstellen, der eine Ausnutzung
dieser philosophischen Kriterien für die Erkenntnis von Dios Entwick-
lung ermöglicht. Nach allem, was sich uns bisher ergeben hat, werden
wir nicht zweifeln, dafs die radicalen Äufserungen des Kynismus, die
sich etwa finden^ in die Exilszeit und besonders in ihre Anfänge ge-
hören. So fordert es die psychologische Wahrscheinlichkeit. Wer es
mit einer neuen Weltanschauung versucht, der wird sie zunächst in der
entschiedensten und folgerichtigsten Weise durchzuführen streben und
erst mit der Zeit, wenn sich ihm nicht alle Folgerungen aus dem Grund-
princip als praktisch brauchbar bewähren, wird er zu Compromissen
seine Zuflucht nehmen. Auch wird ein Geächteter, der aufserhaib der
Gesellschaft steht, sich über gewisse conventioneile Normen der Gesell-
schaft freier und rücksichtsloser äufsern, als ein Mann, der seinen Frieden
mit der Welt gemacht hat und, sei es in Senat oder Volksversammlung
Das Exil. 255
von Prusa^ Nikaia, Nikomedeia, sei es in den Kaiserpalästen Roms,
staatsmännisch zu wirken sucht. Was der Mensch denkt und empflndet,
hängt ja doch hauptsächHch ab von dem, was er lebt und thut.
Hiermit hängt ein anderer Gesichtspunkt zusammen : der der grOfseren
oder geringeren Selbständigkeit gegenüber den Vorbildern. Anfangs gab
sich Dio mit Fanatismus dem kynischen Dogma hin. Die Wahrnehmung,
dafs Antisthenes, Diogenes, Krates das EvangeHum schon verkündet
hatten, dessen beseligende Krall er jetzt erfuhr, machte ihn anfänglich
geneigt, sich ganz und gar an diese Männer anzuschliefsen. Bei ihnen
fand er es dialektisch in jeder Richtung entwickelt. In dem Schatz
beifsender Witze über die Thorheit der Welt, den sie der Nachwelt
hinterlassen, den ihre Nachtreter eifrig gehütet und gemehrt hatten,
fand er einen Geist ausgeprägt, der seiner eigenen Stimmung nah ver-
wandt war und den kein einzelner in solcher Fülle packender Apo-
phthegmen ausprägen könnte, wie es mehrere Generationen kynischcr
Lehrer gethan hatten. Es war also ganz natürlich, dafs er die Dialektik
und den Witz, die er zu wirksamer Propaganda seiner Ansichten
brauchte, aus diesen Quellen schöpfte. Es war aber ebenso natürlich,
dafs er durch Erfahrung die besonderen Bedürfnisse seiner Zeit kennen
lernte, von denen die Zeit des Krates nichts gewufst hatte, und für
diese mit gröfserer Selbständigkeit und Freiheit zu sorgen lernte. Auch
diese Seite der Entwicklung scheint mir in der 13. Rede angedeutet.
Sehr belehrend ist der Bericht in § 14. 15 über seine Aneignung jenes
^(jj'AQaTi'AÖg koyog, der in § 16 — 28 wiedergegeben wird. „Ich that
nicht so,^^ sagt er, „als ob er mein geistiges Eigentum wäre, sondern
nannte seinen Urheber und bat die Hörer, zu entschuldigen, wenn ich
nicht den ganzen Wortlaut und Gedankengang wiedergäbe, sondern mir
Zusätze oder Fortlassungen erlaubte. Auch bat ich sie, deshalb nicht
weniger acht zu geben, weil ich Reden, die vor vielen Jahren gehalten
worden, vor ihnen wiederholte. Vielleicht, sagte ich, ist gerade dies
für euch am nützlichsten. Denn es ist doch nicht anzunehmen , dafs
jene alten Reden, wie Arzenei, die zu lange gestanden, durch Ver-
flüchtigung ihre Heilwirkung eingebüfst haben.'^ Hier ist deutlich der
Standpunkt des Predigers gekennzeichnet, der sich in den Dienst einer
altheiligen Sache gestellt hat. Er verwaltet gewissenhaft ein anver-
trautes Gut und glaubt sich schon entschuldigen zu müssen, wenn er
sich Abweichungen im Wortlaut, Zusätze oder Fortlassungen erlaubt.
Dies ist der Standpunkt, den ich auf Gruud der inneren Wahrschein-
üchkeit als den ursprünglichen Dios ansprechen zu dürfen glaubte.
256 Drilles Kapilel.
Aber auch der Zusammenhang der Rede zeigt, dafs Dio hier, wenn
nicht von den Anfängen seiner Lehrthäligkeit, so doch jedenfalls von
der Verbannungszeit redet. — Das spätere, durch grOfsere Freiheit und
Selbständigkeit ausgezeichnete Entwicklungsstadium ist in der 13. Rede
durch den römischen Vortrag charakterisirt (§ 29 bis Schlufs). Man
beachte, wie' er eingeleitet wird: xal Ifteidfi ovx eXwv ev avTJj TJj
^Pci^f] yevofievov riavxiav ayetv, idiov fikv ovdiva itoXfiojv öiaHye-
a&at koyov ivedvf^ovfxrjv di^ (pige av fxi^iovfxevog toiovTOvg
Tivag diaXiyufiat koyovg Ttegl tcJv &avfxa^ofiiya)v naq* ovrolg
— Tvxoy ov xazayeXaoovaL (lov — ei de fxrj e^oj liyeiv oti elalv
ol Xoyoi OVIOL avÖQog ov o%%e ^'EkXijveg ajcavxeg i&aifiaaav iici
ao(pl(f u. s. w. Die Anknüpfung an Sokrates fehlt auch hier nicht, auch
dies ist kein idiog koyog Dios. Aber fxi^ovfievov Toiovzovg %ivag
dialeyead'ai Xoyovg ist etwas ganz anderes als die vorhin geschilderte
unselbständige Aneignung sokratischer Reden. Es bezeichnet eine Lehr-
weise, bei der die Grundgedanken sokratisch sind, die Ausführung und
Formgebung dionisch. Es scheint mir unverkennbar, dafs Dio hier
einen Wandel seiner Lehrweise schildern will. Er verlegt ihn in die
Zeit s^eines ersten römischen Aurenthalts nach der Restitution. Das
stimmt zu dem, was wir a priori als innerlich wahrscheinlich bezeichnet
haben.
Der Schiiefslich möchte ich noch den Inhalt jenes ^iOKLQaziTLog Xoyog
SioxQari- |^yr2 behandeln. Er berührt sich bekannthch nah mit dem Protrepticus
X s /.yo> ^^^ pseudoplatonischen Kleitophon. Vergleicht man den dionischen
1:5. Rede. Abschnitt im einzelnen mit dem pseudoplatonischen, so gewinnt man
nicht den Eindruck, dafs Dio aus dem Kleitophon schöpft und seine
Vorlage nur stilistisch erweitert.*) Der sehr erhebliche Zuwachs an Mo-
1) Das Gegenleil sucht zu erweisen Joh. Wegehaupt De Dione Xenophonlis
seclatore p. 56fr. Gegen die Benutzung einer gemeinsamen Quelle scheint mir nicht
zu sprechen, dafs es „uer^ distimillimum est utrumque imitatorem tarn arte fontU
verba secutvm esse**. Denn der Vf. des Kleitophon mufsle den Xöyoe des Sokrates
genau wiedergeben, weil er ihn bekämpfen will, und Dio hält sich zu so genauer
Wiedergabe verpflichtet, dafs er selbst kleine Abweichungen im Worllaut entschul-
digen zu müssen glaubt. — Auch dafs die Ginleilungsphrase &aneQ cltiö jufixavfjs
T^aytxrje d'eös bei beiden Schriristellern steht, kann nichts gegen die Benutzung
einer gemeinsamen Quelle beweisen, wenn der Herausgeber des I^cuxparutde Xöyos
eben diesen Ausdruck gebraucht hatte. — Sehr wertvoll ist der Hinweis p. 62 auf
Plat. Apol. 29D, durch den es wahrscheinlich wird, dafs wenigstens dieser Gedanke
von Sokrates selbst häufig ausgesprochen wurde. — Für durchaus falsch halte ich
die p. 63 gegebene Zerlegung des ^ojxparixde Xöyoe in einzelne Mosaiksteioe, die
Das Exil. 257
tiven, den die dionische Fassung zeigt, kann von Dio weder aus eigener
Erfindung noch aus einer zweiten Quelle geschöpft sein. Die von lauter
Tud'OQiGTal, yQafXfiaTiOTal, naidotQlßai bewohnte Stadt, die noch
schlimmer ist als die ägyptische xaTcrjXcjv noUg, ist sicherlich ein altes
Motiv. Es pafst so vorlrefTlich in den Zusammenhang, dafs man es
nicht fQr ein Einschiebsel halten wird. Auch im Kleitophon werden
yQotfificnay fxovaiTci^, yvfivaaTixrj als Gegenstände des Jugendunterrichts
aufgezählt. Soll nun ihre Erwähnung bei Dio aus dem Kleitophon,
was weiter zum Erweis ihrer Unbrauchbarkeit beigebracht wird, aus einer
andern Quelle stammen ? — Im Kleitophon wird bemerkt, dafs ^ iv r(p
Ttoöl TtQog TTjv kvQav afi€TQla nicht Ursache der Zwietracht in Staat
und Familie sei. Der dionische Sokrates verspottet die Ansicht, dafs
diejenigen gute Familienväter und Bürger werden müfsten: o2 av iTca-
v(Sg md'aQlawai „nakkdda TteQaiTCohv deivav" ri T(j) icodl ßtSai
TtQOQ Trjv kvQav. Die Übereinstimmung des Ausdrucks zeigt die Ver-
wandtschaft beider Stellen. Das Lied, das die Jungen beim xi&aQiaTi^g
lernten, ist aus Aristophanes Wolken v. 967 entnommen, wo es sich
auch um den Wert der a^aia Ttalöevaig handelt. Es ist unwahr-
scheinlich, dafs Dio es selbst eingefügt haben sollte. Er mufs es samt
dem im Kleitophon wiederkehrenden Satzgliede in seiner Quelle gefunden
haben. Wenn in § 23 die Siege der Athener in den Perserkriegen als
ein Beweis für die Güte dieser Erziehung von ihren Verteidigern an-
geführt werden, ein Motiv, das aus derselben Aristophanesstelle stammt
(v. 986 l^ Ljv avdgag fiaQa&üJvofiaxovg fjfxfj Ttaldevaig i&Q€ip€v),
so ist das ein Beweis, dafs nicht Dio jenen Liedanfang aus dem Aristo-
phanes einfügte. Denn dann müfste dasselbe auch von der zweiten
Bezugnahme auf die gleiche Stelle gelten, und nicht nur diese, sondern
auch die ganze Widerlegung des in ihr enthaltenen Arguments zugunsten
der alten Erziehung müfste von Dio hinzugesetzt sein. — Das Motiv,
dafs UnglücksPalle, wie sie die tragische Bühne schildert, nicht durch
Mangel an musischer, grammatischer und gymnastischer Bildung her-
vorgerufen werden, ist bei Dio mit dem anderen verquickt, welches
Dümmler (Akademika S. 3 ff.) als altkynisch erwiesen hat, dafs tragische
z.T. aas dem Kleitophon, z.T. aus andern Quellen (Xenophon), z.T. aus Dios
eigener Erfindung stammen. So soll § 17 nur die Aufstellung der Frage aus dem
Kleitophon, die Beantwortung aus Dios eigenem Kopfe stammen; und §19 soll der
Schlufs, der von dem voraufgehenden unabtrennbar ist und in dem der ganze Ge-
dankengang der §§ 17 — 19 gipfelt, aus dem Kleitophon stammen, das voraufgehende
Dio gehören. Die Stelle or. 69, 5 hat einen ganz andern Gedanken.
▼.Arnim, Dio. 17
258 Drittes Kapitel.
Erlebnisse bauptsächlicb die Reichen und Mächtigen treffen. Da eigentlich
nur jenes in den Zusammenhang pafst — denn es handelt sich hier nicht
mehr um den Wert des Reichtums, sondern um den Wert der üblichen Bil-
dung — so liegt die Annahme nahe, dafs das zweite Motiv von Dio hier einge-
schachtelt ist Zu ihm gehören als Beispiele Atreus, Agamemnon und Oidipus,
zu dem andern Thamyris und Palamedes. Freilich wird im Anfang des
koyog den Menschen vorgeworfen, dafs sie wohl für den Erwerb von x^if-
fiara Sorge tragen, nicht aber für die Fähigkeit, sie richtig zu ge-
brauchen ; man kann also die Bezugnahme auf die tragischen Schicksale
der Reichen und Mächtigen als Rückbeziehung auf jenen Anfang de^
koyog erklären. Aber diese Erklärung kann uns nicht überzeugen,
dafs wir einen selbständigen und einheitlichen Gedankengang vor uns
haben. Da mit Ausnahme dieser einzigen Stelle in § 17 — 28 nur von
der Bildung, der falschen und der wahren, die Rede ist, so bleibt diese
Stelle eine Störung des Zusammenhangs, die nicht von dem ursprüng-
lichen Urheber dieses Gedankenganges stammen kann. Es ist eine jener
Incongruenzen, die bei keinem Schriftsteller fehlen, der den Stoff seiner
Darstellung aus einer Vorlage schöpft. Ich halte diese Stelle für einen
Zusatz Dios zu seiner Vorlage. Daraus ergiebt sich, dafs der übrige in
sich wohl zusammenstimmende Gedankengang der Vorlage gehört.
Diese Vorlage war also nicht der pseudoplatonische Kleitophon. Es
war die ausführliche Fassung jenes sokratischen Protreptikos, der im Klei-
tophon zu polemischem Zweck kurz recapitulirt wird. Dieser Protrepti-
kos war nach § 26 nach der Seeschlacht von Knidos verfafst und zwar
nicht lange nach derselben; denn die Anachronismen der sokratischen
Gespräche sind am leichtesten verständlich, wo es sich um Ereignisse
der jüngsten Vergangenheit handelt. Dümmler glaubt wegen § 30:
xal u4Qxii.(xog Maxedovwv ßaaikevg, nokka eiöwg xai noXXolg avy-
yeyovug twv aocfwv, indXei avrov inl dwQoig xal fxiad-olg, oncjg
cMOvot avTOv diakeyofiivov Tovg koyovg rovTovg, Dio benutze den
Dialog „Archelaos'^ des Anlisthenes. Dieser Scblufs ist nicht zwingend,
und was über den Inhalt des „Archelaos^' bezeugt ist, die xaTaÖQOfitj
FoQylov tov Q^TOQog, kehrt bei Dio nicht wieder. Auch der Neben-
titel r^ 7C€qI ßaaikeiag deutet auf ein anderes Gedankengebiet. Eher
könnte an einen der drei nQorQ€7CTixo£ des Antisthenes gedacht werden.*)
Denn eine Ireffendere Bezeichnung des von Dio wiedergegebenen 2i07CQa-
TiTiog koyog als diese dürfte sich kaum finden lassen. Nach Diog. Lalirt.
1) Über diese vgl. Hirzel der Dialog I 118, 1.
Das Exil. 259
VI 1 trugen die TtQOTQSftrixol des Antistbenes einen rhetorischen Cha-
rakter und zeigten ihn als Schüler der Gorgias. Auch der bei Dio und
im Kleitophon benutzte Protreptikos war allem Anschein nach eine zu-
sammenhängende Rede. Dafs Dio ihn dem Sokrates selber zuschreibt^
erklärt sich am leichtesten, wenn er von einem unmittelbaren Schüler
des Sokrates stammte und ihm selbst in den Mund gelegt war. Ari-
stippos, der auch einen Protreptikos geschrieben hatte, ist teils durch
den Inhalt, teils dadurch ausgeschlossen, dafs Dio nach seiner ganzen
damaligen Gedankenricbtung in ihm keinen glaubwürdigen Zeugen der
sokratischen Lehre erblicken konnte. Dagegen ist es einleuchtend, dafs
sich Dio von der antistheniscben Auffassung des Sokrates mehr als von
jeder andern angezogen fühlen mufste. Für Antistbenes pafst auch
der Ton und Inhalt des Ganzen. Es werden dieselben Kunstmittel an-
gewandt, die der kynischen Diatribe stets eigentümUch gewesen sind:
durch drastische Veranschaulichung seiner Consequenzen wird der be-
kämpfte Standpunkt ad absurdum geführt (§ 17 u. 19), die Mythen der
tragischen Bühne werden in willkürlicher Weise als Beispielstoff für
actuelle Fragen ausgenutzt (§ 20. 21), ernsthafte Dinge werden ins
lächerliche gezogen (so die Erziehung und Verfassung der Perser § 24),
ruhmvolle Thaten der Geschichte durch niedrige Vergleiche herabge-
würdigt (so die Perserkriege § 25. 26 durch den Vergleich mit dem
Ringerpaar). Und nicht nur Ton und Darstellungsmittel sind kynisch.
Die musisch-grammatisch« Bildung wird als völlig wertlos geschildert,
nicht etwa blofs als unzureichend. Als wahres Bildungsmittel wird nicht
Wissenschaft gefordert, sondern eine aaxi^aigj die den Menschen zur
Erfüllung seiner praktischen Aufgaben vorbereitet (Dio § 16). Die Phi-
losophie besteht in dem Streben ein guter und tüchtiger Mensch zu
werden. Der Ausdruck (piXoao(peiv wird als nicht besonders zweck-
mäfsig bezeichnet, offenbar weil in ihm zu sehr das theoretische Er-
kenntnisstreben anklingt. Sokrates gebrauchte diesen Ausdruck in der
Regel nicht, akka fiovov ^rjrelv ixikevaev OTtwg avögeg aya&ol %aov-
%ai (Dio § 28). Im Kleitophon wird die Frage offen gelassen, ob die
Gerechtigkeit ^a&riTov sei oder fielerrivov t€ xai aaxijTov. Nirgends
ist eine Spur vorhanden, dafs der koyog Tugend und Wissen gleich-
setzte. Alle diese Kennzeichen passen gut zu dem kynischen Standpunkt
Ist also Ton und Inhalt des koyog kynisch und überdies durch Dios aus-
drückliches Zeugnis der sokratische Ursprung nicht nur für das mit dem
Kleitophon übereinstimmende, sondern für den ganzen koyog gesichert^
so hegt es allerdings sehr nahe an einen der ftgoTgeuTiiiol des Anti-
17*
260 Drittes Kapitel.
sthenes zu denken. Diesen Xoyog hat Dio, wie ers auch von Sokrates
behauptet, wieder und wieder an verschiedenen Orten und vor verschie-
denem Publicum vorgetragen. Das Erziehungsproblem war der Aus-
gangspunkt seines Denkens und seiner Wirksamkeit. Aber jener Ao^o^
der 13. Rede ist fast ganz negativen Inhalts. Er beschränkte sich im wesent-
lichen darauf, das unzureichende der musisch-grammatisch-gymnastischen
Erziehung nachzuweisen; was an ihre Stelle treten soll, die praktische
Erziehung für die Aufgaben des Lebens in Staat und Familie, wird nicht
näher charakterisirt. Das ist ein typischer Zug der protreptischen Predigt.
Um Dios Ansichten während der Exilszeit auch von ihrer positiven Seite
kennen zu lernen, halten wir unter den erhaltenen Schriften Umschau.
Die Da sind es denn vor allem die vier Diogenesreden (or. 6. 8 — 10),
Diogenes- jjg sich deutlich als Werke der Exilszeit zu erkennen geben. Ich will
reden. ^
das zunächst für or. 6 (neQi jvQavvloog) nachzuweisen suchen. Die
übrigen drei wird man schon wegen ihrer formellen und inhaltlichen
Verwandtschaft nicht von der sechsten trennen dürfen.
Mein Hauptbeweis für die Datirung der sechsten Rede besteht darin,
dafs ihr ganzer Inhalt eine actuelle Bedeutung bekommt, wenn man
sie sich von dem Verbannten gehalten denkt. Je ähnlicher die Lebens-
weise des Redners selbst der in der Rede geschilderten und verherr-
lichten des Diogenes war, desto tieferen Eindruck mufste die Rede
machen. Nun wird aber im Anfang und Schlufs Diogenes ausdrücklich
als der heimatlose Verbannte geschildert, der sich in seiner Lage frei
und glücklich fühlt. Er ist aus Sinope verbannt, wie Dio aus Prusa,
und ist auch darin dem Redner ähnlich, dafs er keinen festen Wohnsitz,
keine neue Heimat sich gegründet hat. Er lebt bald in Athen, bald
in Korinth, und schildert diesen nach antiken Begriffen elenden Zustand
als einen höchst begehrenswerten, der ihn dem Perserkönig ähnlich
macht. Am deutlichsten tritt in dem Schlufsabschnitt die Beziehung
auf den Redner selbst hervor. Indem er hier den Diogenes in directer
Rede sprechend einführt, verwischt sich für den Hörer die Grenze
zwischen ihm und seinem Helden. Das q)rjai § 60 in., das an Diogenes
erinnern soll, wird dem Hörer schweHich den Eindruck benommen
haben, dafs Dio auch in eigener Person redet, zumal jedes Wort auf
ihn so gut wie auf jenen pafst. Die Stelle: d'aQQw äi, ei diot, Y.ai
dia GTQaTOTtidov rtOQBvo^uvog avev nrjQvyceiov xai dia XrjOtüv pafst
sogar besser auf Dio als auf Diogenes. Denn der letztere lebt in Ko-
rinth und Athen. Räubern in die Hände zu fallen war für ihn eine
weniger nahe liegende Befürchtung als für Dio auf seinen einsamen
Das Exil. 261
VYaoderungen und Fahrten. Von Dio wissen wir, dafs er sich in den
Heerlagern der Legionen heriungelrieben hat, nicht von Diogenes.
Diese AufTassung des Schlufsabschnitts wurde den Hörern noch
näher gelegt durch die voraufgehende Schilderung des Tyrannenelends
(§ 85 — 59). Wenn bei dem Tyrannen jeder Hörer nur an Domitian
denken konnte, wie ich beweisen werde, so mufste er auch Dio mit Dio-
genes in Parallele stellen. Es war dann klar, dafs Dio sein Loos mit dem
des Kaisers vergleichen und beweisen wollte, dafs er nicht mit jenem
tauschen möchte. Wie vortrefllich das zu den uns bekannten Tenden-
zen des landflüchtigen Dio stimmen, wie dadurch der ganze Vortrag an
lebendiger Actualität gewinnen würde, bedarf keines Beweises mehr. Es
ist aber auch an sich klar, dafs die Betrachtung über das Elend der
Tyrannen nur bei Domitians Lebzeiten von Dio gesprochen sein kann.
Es wäre naiv zu glauben, dafs Dio solche weitläufige Reflexionen über
Tyrannenglück ohne bestimmte Beziehung auf actuelle Zustände und
Persönlichkeiten vortragen konnte. Die Quelle, welche Dio für diesen
Teil der sechsten Rede benutzte, war sicherlich von der des ersten
Teils verschieden.') Dieses in grellen Farben ausgeführte Gemälde des
Fürstenlebens hatte wohl ursprünglich weder mit Diogenes noch mit
dem Perserkönig etwas zu schafl'en. Nur um die Einheitlichkeit der
Form zu wahren, hat Dio auch diesen Ergufs dem Diogenes in den
Hund gelegt, für den er schon seines declamatorischen Stiles wegen
nicht pafst, und hat den Perserkönig, mit dem sich der wirkliche Dio-
genes (§ 1—7) verglichen hatte, als Typus der Tyrannen gewählt. Die
Schilderung enthält denn auch in der That nur wenige Züge, die für
den Grofskönig im Gegensatz zu anderen Monarchen charakteristisch
sind; sie geht gegen ^ovaQxot und tvqovvoi im allgemeinen.*) Die
1) Wegehaupt a.a.O. p. ISfT. ist derselben Ansicht. Er bat die Berübrangea
des Abschnitts mit Xenophons Hieron verfolgt. DaTs Dio mit Reminiscenzen aus
Xenopbon operirt, ist mir deswegen nicht wahrscheinlich, weil abgesehen von der
ganz verschiedenen Anordnung der Gedanken ein erhebliches Plus von Motiven bei
Dio vorhanden ist. Mindestens mafs Dio noch andere Declamationen in tyrannot,
deren es gewifs unzählige gab, benutzt haben. Vgl. auch Hahn a.a.O. p. 36ff.,
der auf den 29. Diogenesbrief hinweist.
2) Vgl. § 39 oSrate 8k xaXenoÜ övros Ti^dy/uaroe xai Svarvxovs rije ftovaq-
f,lo.i* §41 vö ^aBiov fikv yä^ &v9^a yri^äoai T{)(f avv ov ^ %akfn6v Bk TVQ&vvov
y^^as. 1^43 roüro S^ rd xaXendv del nd^eari rote /iiovd^%ois. § 44 roTff
roiO^TOiS. } 45 dvijQ ri^avvos — oi Sä riipavrot, § 47 loJS 9i ye
Tvpdvpois. §48 rots rv^dvvoie. §49 fiövois Si roTe /lovdQxois. §53-
ixaoToe avr&v u. s. w.
262 Drittes Kapitel.
in der Anmerkung gegebene Zusammenstellung zeigt meines Erachtens,
dafs Dio während des gröfsten Teils seines Vortrags den Perserkönig
YöUig vergifst. Nur im Anfang wird er zur Anknüpfung benutzt, um
dann für lange Zeit zu verschwinden und erst gegen Ende (§ 56)
wieder aufzutauchen. Aber gerade die Art, wie in § 56 der Perser-
könig erwähnt wird, verrät das deutliche Bestreben, an den römischen
Imperator zu erinnern. Denn es wird hier hervorgehoben, dafs der
Tyrann einer einzelnen Stadt oder eines kleinen Landes weniger zu
bedauern ist als die ooot noXhZv noXewv Sqxovol xal Id-viov xat
aftelgov yrjgy ulofceg 6 rwv JIsqovjv ßaatkevg. Dio kann also nicht
durch seine Quelle veranlafst sein, gegen Tyrannen zu declamiren.
Geflissentlich hat er sich weitere Quellen herbeigeholt und ihren Inhalt
ziemlich äufserlich, so gut es eben gehen wollte, mit dem ersten Teil
verbunden. Er hatte also persönliche, auf actuellen Verhältnissen be-
ruhende Beweggründe, gegen Tyrannen zu declamiren. Er thut es in
versteckter Form, unter der Maske des alten Kynikers. Das pafst nur
für die domitianische Zeit. — Die ganze Declamation ist unter Nerva
und Trajan in Dios Hunde undenkbar, weil sie eine grundsätzlich anti-
monarchische Gesinnung ausdrückt. Dafür ist bezeichnend, dafs mit
TVQavvog abwechselnd die Ausdrücke fiovaqxoi und ^ovaQxla gebraucht
werden. Nicht nur der Hifsbrauch unumschränkter Gewalt, sondern
diese Gewalt selbst wird als ein dvarvxlg Ttgäyfia bezeichnet. Kann
das unter Nerva oder Trajan geschehen sein, als Dio ein begeisterter
Anhänger des Königtums und Wortführer officiell monarchischer Ge-
sinnung geworden war? In jener späteren Periode seines Lebens unter-
scheidet er scharf zwischen ßaaUela und rvQavvlg, um jene ebenso
sehr in den Himmel zu erheben, wie er diese verabscheut. Gegen
fiovcQxoi nnd ^ova^la hätte er damals nicht mehr wettern können,
ohne seine kaiserlichen Gönner zu beleidigen. Wir dürfen die Aus-
drücke ^ovaQxoi und fiova^xictf ^^^^ ^^ si^ ^^ andern Werken in
übelwollendem Sinne gebraucht werden, stets als Kennzeichen der Exils-
periode ansprechen. — Unzweifelhaft gehört also die sechste Rede in
die Exilszeit und richtet ihre Spitze gegen Domitian. Der Redner
konnte darauf rechnen, von seinem Publicum verstanden zu werden.
Wie sehr man in dieser Zeit gewohnt war, versteckte politische Anspie-
lungen in Werken der Dichtung oder Redekunst zu suchen, beweisen
die bekannten Hafsregelungen von Litteraten, die durch solche (wirk-
liche oder vermeintliche) Anspielungen hervorgerufen wurden, z. B. die
des Tragikers Hamercus Scaurus unter Tiberius (Suet. Tib. 61. Tac.
Das Exil. 268
Aon. VI 29) und die Befürchtungea der Freunde des Haternus im taci-
ieischen Dialogus. Ob sieb Dio bei den Angriffen gegen Domitian, deren
er sieb später rübprit, stets dieser verblümten Form bediente, können
wir nicht entscheiden. Gefährlich waren sie auch in dieser Form.
Aufser dem bisher gesagten spricht für meine Datirung der sechsten
Rede die xvvvKri avaideia in § 16 — 20. Solche derbe Unanständig-
keiten konnte sich der aufserhalb der Gesellschaft stehende Bettler und
Landstreicher erlauben ; dem bithynischen Honoratioren , Staatsmann
und Beamten, dem Hofphilosophen des Trajan hätten sie übel zu Ge-
sicht gestanden.
Der erste Hauptteil der Rede (§ 8 — 34) zeigt uns Dio als radikalen
Kyniker, eifernd gegen die materielle Cultur, die die Menschen ver-
weichlicht und neue Bedürfnisse schafft, die nicht in der Natur be-
gründet sind.') Dieser erste Teil zerfallt deutlich in zwei Abschnitte,
die sicherlich aus verschiedenen Quellen geflossen sind. Der erste
(§ 8 — 20) ist eine mit Chrien oder Apophthegmen gewürzte Schilderung
der Lebensweise des Diogenes, die zeigen soll, wie er durch Abge-
wObnung aller verfeinerten Culturbedürfnisse und Beschränkung auf die
natürlichen und notwendigen Bedürfnisse nicht allein physische Kraft
und Gesundheit sich erhielt, sondern auch angenehmer als die meisten
Menschen lebte. Zu dieser Erzählung gehören auch § 30 onoaa (ihv
ovv — 31. Dagegen gicbt der zweite Abschnitt (§ 21—29. 32—34)
einen dem Diogenes selbst in den Mund gelegten Vortrag wieder, der
die Tiere als Muster naturgemäfser Lebensweise den Menschen vorhält')
Man sieht also ganz deutlich, dafs Dio für die sechste Rede verschie-
dene altkynische Quellen benutzt hat: 1. einen die Lebensweise des
Diogenes schildernden Bericht; 2. eine Sammlung von Cbrien und
Apophthegmen des Diogenes; 3. eine altkynische Diatribe über die Tiere
als Vorbild naturgemäfsen Lebens; 4. eine ebenfalls kyniscbe, aber
vermutlich jüngere Diatribe über das Elend der Tyrannen. Schon
E. Weber*) hat die Mehrheit der Quellen aus der Wiederkehr der
1) Die folgenden Bemerkungen waren bereits zu Papier gebracht, als ich die
Abhandinng von Carl Hahn De Dionis orationibus VI, VIII, IX, X durch die Güte
des Verfassers erhielt. Wir sind in der Hauptsache zusammengetroffen; nur be-
züglich der Schwierigkeiten in § 30. 31 schlägt er einen andern Weg der Erklä-
rung ein.
2) Anders urteilt über die Quellenfrage Ernst Weber De Dione Chrys. Cyni-
Gorom sectatore p. 94—98.
3) a. a. 0. S. 97.
264 Drittes Kapitel.
gleichen Motive richtig hewiesen. Die Bemerkung, dafs die Augen, ob-
gleich der zarteste Körperteil, keiner Bedeckung bedürfen, steht § 15
und § 28, die Bemerkung über die Genügsamkeit der Tiere § 13 und
§ 22. Ich gehe nur insofern einen Schritt weiter als Weber, als ich
die Declamation gegen die Tyrannen keiner der beiden von ihm unter-
schiedenen Quellen zuweise.
Or. 8 und 9 sind in Form und Inhalt mit or. 6 so nahe verwandt,
dafs von vornherein ihre Abfassung in derselben Zeit wahrscheinlich
ist. Beide beginnen mit einem erzählenden Teil, um weiterhin eigene
Reden des Diogenes wiederzugeben. Or. 8 holt etwas weiter aus. Sie
erzählt, wie er als Verbannter nach Athen kommt — nicht Zufall ist
es, dafs auch dieser Vortrag mit der Erwähnung der Verbannung an-
hebt — und dort an Antisthenes sich anschliefst; wie er nach Anti-
stbenes' Tode Korinth als Schauplatz seiner Lehrthätigkeit wählt, wie
ihm besonders die Festversammlung der Isthmien willkommene Gelegen-
heit zu wirken bietet. Von hier an berührt sich die Erzählung nahe
mit der in or. 9* Die Bedeutung der Festversammlungen für den
Philosophen wird 8 § 5. 6 ebenso begründet wie 9 § 1. 2. Der Ver-
gleich mit dem Arzte, zu dem die Fremden mehr Vertrauen haben als
seine Landsleute, steht in beiden Reden 8 § 7. S und 10, 9 § 4; auch
der Vergleich mit dem Hunde kehrt, wenn auch verschieden gewendet,
in beiden wieder 8 § 11, 9 § 3. Beidemal bildet das bunte Getriebe
der isthmischen Panegyris den Hintergrund, von dem sich Gestalt und
Lehre des Diogenes wirksam abheben; beidemal bildet der Anspruch
des Diogenes als Isthmionike anerkannt zu werden — in or. 9 setzt er
sogar den Kranz auf — den Ausgangspunkt moralischer Betrachtungen.
Die Begründung dieses Anspruchs durch seinen erfolgreichen Kampf
gegen novog und fidovri bildet den Hauptinhalt von or. 8 ; in or. 9
wird sie § 11. 12 kürzer wiedergegeben. Denn das Thema ist hier
nicht wie dort die aaxrjaig, deren sich Diogenes rühmt, für die er den
Kranz als Lohn fordert, sondern die Wertlosigkeit agonistischer Leistungen
und Ehren. Es ist also sehr wahrscheinlich, dafs beide Vorträge aus
denselben Quellen geschupft sind und in dieselbe Zeit gehören.*)
Auch hier sind in den Reden des Diogenes geflissentlich diejenigen
Züge hervorgehoben, die eine Vergleichung des Redners mit seinem
Helden nahe legen. Den Kampf gegen die 7c6voLy den Diogenes
1) Näheres über die Quellenfrage bei Hahn a.a.O. p. 38ff. Auch er hebt
p. 59 die Gleichheit der Quellen hervor.
Das Exil. 265
empfiehlt, gegen Hunger, Durst, Kälte, Armut, Verbannung,. Verachtung
der Menschen (8 § 16), kämpfte Dio selbst, als er diesen Vortrag hielt.
Dies gab seinen Y^^orten Gewicht. Er hatte selbst soeben erst die
Erfahrung gemacht, die er hier mit solcher Verve vorträgt, dafs alle jene
Ttovot ihre Schrecken verlieren, wenn man sich nichts aus ihnen macht
und mutig den Kampf mit ihnen aufnimmt. Man wird um so mehr
annehmen, dafs Dio hier an sich selber denkt und die Hörer auf sich
hinweist, weil (pvyri und ado^la nicht notwendig mit novoi verbunden
sind. Denn man kann auch fern von der Heimat und in Schmach und
Schande dem fjöovixog ßlog fröhnen. In Dios Quelle, einer Diatribe
über den Kampf mit den novoi^ werden schwerlich in diesem Zu-
sammenhang q:vyri und ado^la erwähnt gewesen sein. Die Kyniker
gebrauchen novog stets von körperlichen Strapazen und Schmerzen,
nicht gleichbedeutend mit Xvrtri^ ov^cpOQct^ neglataaig. Also hat sie
Dio aus persönlichen Gründen eingelegt. Dasselbe gilt von dem Schlufs-
abschnitt der Diogenesrede in or. 8, der von den a&Xot des Herakles
handelt. Obgleich er ziemlich geschickt mit dem vorangehenden ver-
bunden ist^ deckt er sich doch im Gedanken nicht völlig mit ihm.
Bisher war nur der Kampf mit rtovog und 17^0^1^ in seiner Bedeutung
für das Subject geschildert worden. In dem Heraklesmythos liegt das
Hauptgewicht auf der objectiven Nützlichkeit des novelv, der Förderung
des Guten und der Bekämpfung des Schlechten. Es ist daher sehr
wahrscheinlich, dafs Dio diesen Abschnitt aus anderer Quelle der Dio-
genischen Diatribe hinzugefügt hat. In dem „grofsen Herakles'^ des
Antisthenes mochte ähnliches vorkommen.*) Er empfahl sich ihm be-
sonders aus zwei Gründen. Einmal war Herakles wegen seiner Wan-
derungen (TteQiijei TTjv EvQiü7cr^v xai tjjv IdaLav anaaav) ein passen-
des Gegenbild zu Dios eigener Lebensweise (§ 29. 30). Sodann boten
ihm Herakles' Verhältnis zu Eurystheus und seine Kämpfe gegen grau-
same Tyrannen willkommene Gelegenheit, auf sein eigenes Verhältnis
zu Domitian anzuspielen. Ausdrücklich bestreitet er, dafs Herakles
durch Befehl des Eurystheus zu seiner Lebensweise und zur Verrichtung
seiner Arbeiten gezwungen wurde § 29: tov de EvQva&ia oXovtqi
XQOTeiv TOVTOv xal htirarteiv. § 33: rav%a fiiv ovv hcqatTev
ovdlv EvQva&ei x^Q^^ofUvog. Auch die Schilderungen des Thrakers
1) E. Weber a.a.O. p. 140. Zu obiger Auseinandersetzung vgl. Hahn a.a.O.
p. 39, der, bei im einzelnen abweichender Auffassung, ebenfalls erkannt bat, dafs
der Abschnitt von anderer Herkunft und Abzweckung ist, als das vorausgehende.
266 Drittes Kapitel.
Diomedes und des Geryones sollen als Anspielungen auf Domitian em-
pfunden werden. Nicht ohne Grund ist auch die Erzählung Tom
Augeasstall dadurch hesonders hervorgehoben, dafs sie erst nach der
Selbstverbrennung des Herakles behandelt wird. Die Verrichtung nie-
derer Arbeiten ist ein Zug, der auf den Redner selbst zutrifft. Nur
hierdurch erklärt sich die Abweichung von der natürlichen Reihenfolge.
Wir dürfen also zuversichtlich behaupten, dafs auch die achte und die
so eng mit ihr verschwisterte neunte Rede der Verbannungszeit an-
gehören.
Die zehnte Rede entbehrt der erzählenden Einleitung, die den drei
anderen vorausgeschickt ist. Es wird nur ganz kurz das zur Ein-
führung des Dialogs, der die Rede füllt, notwendige angegeben. Auf
dem Wege von Korinth nach Athen begegnet Diogenes einem Rekannten.
Er fragt ihn: „Wohin des Weges?" Darauf jener: „Ich wollte nach
Delphi, um das Orakel zu befragen. Da mir aber unterwegs der Sclave,
der mich begleitete, entlaufen ist, gehe ich nun zurück in der Richtung
auf Korinth. Vielleicht kann ich seiner noch wieder habhaft werden."
Um diese doppelte Absicht des Mitunterredners, die Verfolgung des
Sclaven und die Refragung des Gottes, dreht sich das ganze Gespräch.
Im ersten Teil (§ 2—16) wird die Verfolgung des Sclaven, im zweiten
(§ 17 — 32) die Refragung des Gottes von Diogenes ak ein thörichtes
Unternehmen erwiesen.*) Der erste Teil gipfelt in dem Nachweis, dafs
das Redürfnis nach Redienung kein notwendiges und natürliches ist,
und dafs seine Refriedigung, wie die jedes anderen erst von der Cultur
geschaffenen Redürfnisses, schädlich, nicht nützlich wirkt. Der Mensch
hat von der Natur die Fähigkeit mitbekommen, sich selbst genügend zu
versorgen. Etwa notwendige Hülfe soll er sich lieber von Frau und
Kindern als von fremden Dienstboten leisten lassen. Die Abwälzung
der Arbeit auf fremde Schultern stürzt ihn und die Familie in Trägheit
und dadurch in sittliche Verderbnis; und statt der erhofften Requem-
lichkeit bringt ihm der Sclavenbesitz nur Sorgen und Schererei. —
Es ist klar, dafs dieses kynische Ideal der avTaQxeta und avrovQyla
(und dadurch ikevd'eQla) von Dio nur in der Zeit seines Lebens em-
pfohlen und verherrlicht werden konnte, wo er selbst es praktisch zu
verwirklichen strebte, indem er, obwohl bisher an reichliche Redienung
gewöhnt, fiTjdk m6i.ov&o.v €va yovv inayo^evog (or. 40 § 2) sich
durchs Leben schlug. Wer solche Forderungen aufstellt, ohne ihnen
1) Über die Quellenfrage vgl. Hahn a.a.O. p. 59ff., Wegehaupt p. 55r.
Das Exil. 267
selbst zu genügen, macht sich nur lächerlich. Man würde ihm sofort
den Widerspruch seiner Theorie mit seiner Praxis vorgerückt haben.
Es mufs also auch dieser Vortrag aus der Exilszeit stammen. — Auch
im zweiten Teile sind ein paar Stellen vorhanden , die zu demselben
Schlüsse führen. Wenn in § 23 eine Stelle aus der Trojana (über die
Sprache der Götter, vgl. or. 11 § 22 — 24) fast wörtlich reproducirt wird,
so erklärt sich das am leichtesten, wenn keine allzu lange Zeit die
zehnte Rede von jenem Ereignis der sophistischen Epoche trennte.
Doch das mag man bestreiten; unbestreitbar ist, dafs die kynische
Schamlosigkeit, mit der § 29. 30 die Blutschande des Oidipus als etwas
irrelevantes behandelt wird, nach der Restitution im Hunde Dios ganz
undenkbar wäre.
II.
Aufser den Diogenesreden möchte ich die Hehrzahl der kleinen
einfachen diali^eig für die Verbannungszeit in Anspruch nehmen. Für
die 20. Rede {Ttegl avaxwQijaetjg) beweist nach dem früher bemerkten
schon die Erwähnung der ^wvaQxot in § 24, dafs sie der domitianischen
Zeit angehört Denn mit der antimonarchischen Gesinnung verschwindet
auch der Ausdruck fiovaqxot aus Dios Reden. Ferner erweist sich
eine beträchtliche Gruppe der kleinen diaXi^eig durch die stereotype
Hanier des Einganges als zusammengehörig, und bei einigen von ihnen
läfst sich Abfassung in der Exilszeit nachweisen. Es liegt nahe, auf
Grund der formalen Zusammengehörigkeit die ganze Gruppe der Exils-
zeit zuzuweisen. Die erwähnte Hanier besteht darin, dafs der Redner
von einer weitverbreiteten Ansicht oder thörichten Gepflogenheit der
unphilosophischen Henge ausgeht, um sie vom philosophischen Stand-
punkt aus zu bekämpfen.
Or. 66 (TteQL do^rjg a) Elal riveg, o2 %ovg /nhv qnXaqyvQovg
rj (ftkoipovg ?j olvoq^kvyag rj rceQi yvvalxag r] jtaldag eTtzoijfiivovg
äaiüTOvg aTto'Aolovai aal dvaTvxslg, xal rovrioy i'xaOTov rjyovvTai
%b fiiyiOTov oveidog, tovg de q)LkoTlf.iovg xaJ qtikodoiovg Tovvavrlov
ircaivovoiv wg )M^7tQovg.
Or. 68 Ol noXXoi av&QUftoi onoaa iTtirrjdevovaiv rj ^rjlov-
aiv, ovöiv avTcov eidoteg oirolov iatcv ovök rivxiva ex^c (iqiiXeiav
iTtiTTjäevovaiv u. s. w.
Or.69 IknoQov ^oi doytei elvai oti oi av&gcü7C0L akla
fikv i7cacvovai xof£ d-avfict^ovaiv, Skhov dk Itplevtat xai neQi aXXa
ioTtovödxaaiv. iTtaivovat fihv ydg u. s. w.
268 Drittes Kapitel.
Or. 71 Elalv oY q)aai deiv Tcavza ev naaiv elvai jcegiTTov
Tov (piX6aoq>ov' xal ofiiXijaai av&Qiinoig q)aa\ öeiv elvai deivora-
%ov u. s. w.
Or. 72 ^ la rl nore ol av&Qw/roi oTav ^iv riva %d(aaiv
avTo fiovov x*^wva exovTa, ovt€ JtQoaixovaiv ovre diayeXwaiv —
— iTteidav di riva Xdiaotv axLxwva kv Ifiailip no^divra t'qv xetpa-
Xfjv aal ra yiveia, ovx olol ri eiai nqbg rovrovg rrjv 'qavxlccv
ayeiv u. s. w.
Or. 80 'Yfieig ^hv iaiog &avfj,d^€T€ xal Ttagado^ov
rjyela^e — iyw di u. s. w.
Or. 14 Ol av&QWTtoi iTtidvfiovai filv iXev&SQOL elvac //a-
Xiata TtdvTCüv, xal (paai tf]v iXev&eglav fiiyiarov %iZv dyad'wv,
TTlv 61 öovXeLav aiaxiOTOv xal SvOTvxioTcerov vtcolqxbiv, avxb de tovto
o,TL karl %6 iXev&egov elvai rj o,ri xb dovXeveiv ovx Xaaaiv u.s.w,
Or. 16 Tb fi€v v(p^ '^dov^g XQareiad'ai xovg noXXovg alxlav
Xatog €X€i' xT]Xovfi€vot ydg xal yotjxevofisvoi fcaqd xavxrj ^ivovai'
xb dh Xvftf] dedovXüo&at TtavxeXwg aXoyov xal d-avfiaaxov
u. s. w.
Or. 17 Ol fihv TtoXXol xwv av&Qdmov vTtkg xovxwv oXov-
xai Xiyeiv {xift q>iXoa6q)(i} nqooriyLeiv) vnhg wv hcaaxog ovx exec
xijv aXrj&rj do^av — iycj di u. s. w.
Or. 24 Ol TtoXXol av&Qwno i xa&oXov ^hv ovdiv n;eq)Qov-
xlxaaiv OTtoLovg XQ^ slvaL ovdh o ,xi ßiXxioxov av&qw7i(fi eaxlv
u. s. w.
Or. 27 Ol av&Q(j)TCoi ylyvovxai xaxaipaveig bnoLav exovai
didvoiav exaaxog iv'xalg TtavrjyvQeaiv.
Es ist unmöglich, die Übereinstimmung dieser zehn Eingänge — der
elfte ist etwas abweichend — zu verkennen. Es kommt noch or. 65
{negl xvxrjg y) hinzu, ein Stück, das in der auffallendsten Weise die
in Rede stehende Eingangsmanier dionischer diaXi^eig zur Schau stellt.
Bekanntlich ist es keine einheithche Rede, sondern ein Conglomerat
von Exordien, die sämtlich bestimmt sind, eine Rede über die Tyche
einzuleiten. Dafs keiner dieser Abschnitte die vorausgehenden oder
einen von ihnen fortsetzen kann, wird durch die Wiederkehr des glei-
chen Gedankens bewiesen. Immer von neuem hören wir, dafs Tyche
mit Unrecht von den Leuten als wankelmütig und unzuverlässig getadelt
wird. Sollten sich diese Abschnitte, nach der Absicht des Verfassers,
fortsetzend aneinanderschliefsen und zusammen ein Ganzes ausmachen,
so genügte es, eihmal die unrichtige Auffassung der Menschen zu charak-
Das Exil. 269
terisireo uod dann die Widerlegungsgründe folgen zu lassen. Statt dessen
wird die unrichtige Ansicht immer wieder, ohne erhebliche Abweichung,
ab die der Mehrheit bezeichnet:
§ 4 adUcjQ ^01 doxovoiv ol Ttokkoi twv avd'Qiunwv Trjg tvx^Q
nctTrjyoQeiv, dg ovdkv ix^varjg ßißaiov ovök niatov u. s. w.
§ 7 adixciraTa fxot doxovatv ipcakelv ol nokkol rij i^vxjß' ^vv
fxhv yag avrrjv ahiwvTai, qxiaxovTBg amotov elvai xal firjdkv ^«ty
ßißaiov u. s. w.
§ 8 cpaal 7toXXol rijv Tvxfiv axQirov elvat %ai novrjQolg avd'QW-
jtotg TCQoa^ivBiv — — 80% ei 8i fxoi fj tvxtj ^Qog avxovg dUaia
av eiftelv otl u. s. w.
§ 10 d^avfid^w Ttwg tzotb ol tcoIIoI ttjv Tvxf]v q)aalv iTttuLv-
dvvov elvai xai firjdlv twv tcoq^ avTrjg vTtaQxetv ßißaiov u. s. w.
§ 13 Ttegi TtavTCJV /liv, ihg elTceiv , ol nolXoi tcHv avd'QCjTtiov
ovx igd-wg vrtoXafxßavovai , fidkiara de ttjv inlq Tfjg Tvxfjg do^av
ipevdrj xai 7t€7ti.avr]jaivrjv ex^'^^''^' <p<xol yoig avzrjv diöovai iikv
xoig avd'QLJTtoig raya&df Q(jeöiwg öh aq)aiQ€iod'ai' xai dia tovto
wg ajciOTOv ßkaaq)r]inoiai xai q)&ov€Qdv, kyw öi u. s. w.
§ 15 ol fxhv TtokXol rwv dvd'QWTtwv eltid'aaiv evdaifiovl^eiv
€v-dvg olg av ogcSai to TtaQa rrjg rvx'^g VTtdgxovra — — kyw d
olfxai TOTB öeiv jnaxaglovg xglveiv u. s. w.
Von diesen sechs Eingängen enthalten vier (§ 4. 7. 10. 13) den
gleichen Gedanken: dafs die Mehrheit der Menschen mit Unrecht das
(ilück der Untreue und Unzuverlässigkeit beschuldigt. Es ist also die
Annahme ausgeschlossen, dafs durch die Wiederkehr ähnlicher Wen-
dungen die Gliederung der Rede hervorgehoben werden soll. Beson-
ders evident ist es bei dem in § 13 enthaltenen Eingang, dafs ihm
nichts anderes vorausgehen konnte, dafs er nicht einen Redeteil, son-
dern die ganze Rede zu erOlTnen bestimmt war. Denn dafs zuerst auf
die Irrtümer der Menschen in allen Dingen hingewiesen und dann
erst auf den besondern, die Tyche betreffenden übergegangen wird, der
das Thema bildet, beweist, dafs das Thema noch nicht aufgestellt, dafs
von der Tyche noch nicht die Rede gewesen war.
Es unterliegt also keinem Zweifel, dafs uns hier die Eingänge sechs
verschiedener dionischer Vorträge erhalten sind, die alle jene stereo-
type Manier zeigen, die uns schon in zehn anderen Fällen begegnet ist.
Einem siebenten Vortrag über die Tyche ist § 1 — 4 öiarekeiv entnom-
men. Dies Stück weicht darin von den übrigen ab, dafs es den jenen
270 Drittes Kapitel.
EingäDgen eDtsprecheDden Satz nicht gleich am Anfaog briogt, sondern
in der Mitte von § 2:
ol fiev ovv Tcokkoi %wv avd-Qijinwv rovg ßagicjg XQorfiivovg %oig
«c tfig Tvx^g VTtaQXOvOL novrjQoig ^ev elval (paat xai rwv ayad-uiv
ava^lovg, ov fifjv ai:i;x€tg ye eiw-d-aaL kiyeiv Ifxoi dk TOVvanLov
ovTOi öoxovai Tcavfiüv a%vxia%aTOi xad'earrjxivai u. s. w.
Diese Sätze berühren sich dem Gedanken nach am nächsten mit
dem letzten der oben aufgezählten Eingänge, mit dem in § 15.
Wie konnte ein solches Bündel von Exordien in unsere Sammlung
dionischer Schriften hineinkommen? Hatte vielleicht der Autor sieben
Reden über die Tyche verfafst und ausgearbeitet, aber nur die Pro-
oemien der Publication würdig befunden? Das ist sehr unwahrschein-
Uch. Denn diese Reden konnten wohl kaum in ihrem weiteren Verlauf
gröfsere Obereinstimmung zeigen als in den erhaltenen Exordien, die
sich wie Variationen über ein und dasselbe Thema ausnehmen. V^enn
sich Dio nicht scheute, sieben Repliken des Exordiums in demselben
Buche vereinigt der Öffentlichkeit zu übergeben, warum nicht auch die
ganzen Reden? Viel wahrschein Ucher ist es, dafs derselbe Sammler
und Redactor, der sich durch die beiden unechten Reden Tteql rvxi^S
(or. 63 u. 64) täuschen liefs, auch die Zusammenstellung gemacht hat,
die wir als or. 65 lesen. Er unternahm es, aus der Fülle von Auf-
zeichnungen dionischer öiaki^eig, die ihm zur Verfügung standen, eine
Auswahl des besten und lesenswertesten zu treffen. Aus den Titeln,
die er den einzelnen Stücken, oft in Widerspruch mit ihrem thatsäch-
lichcn Inhalt, gegeben hat, erkennt man leicht, dafs er eine Art von
sachlicher Anordnung der aufgenommenen Stücke beabsichtigte. So
wollte er auch die wichtigsten Äufserungen Dios über die Tyche zu-
sammenstellen. Aber von den beiden unechten Reden abgesehen fand
er keine Rede Dios über die Tyche; er fand nur zahlreiche Vorträge,
die von der unrichtigen Meinung der Menge über die Tyche anhebend
bald zu einem anderen Thema, zum Lobe der ^Qovr^aig, überlenkten.
Er sammelte also unter der Rubrik „Tyche^^ diese Eingänge. Das
übrige liefs er fort, indem er sich vorbehielt, das Lob der q)Q6vrjaig
durch andere, inhaltlich verwandte Stücke in seiner Sammlung ge-
nügend zu repräsentiren. So aufgefafst, ordnet sich der Vorgang leicht
ein in das Gesamtbild, das wir von der Entstehung unserer Sammlung
teils durch frühere Untersuchungen gewonnen haben, teils im Fortgang
der Untersuchung bestätigt finden werden. Oberall begegnen wir der
Thätigkeit des Redactors und Urhebers der Sammlung. Diese Thälig-
Das Exil. 271
keit hatte den Zweck, ein alle wesentlicheo Züge umfassendes Gesamt-
bild von Dios Lebrthätigkeit in Form eines lesbaren Buches der Nach-
welt zu erhalten. Es war ein ebenso notwendiges und verdienstliches
als schwieriges Werk, durch das der Redactor für Dio das zu leisten
suchte, was Arrianus für Epiktet thatsächlich geleistet hatte. Schwierig
war nicht so sehr die Scheidung des ächten vom unächten — nur in
wenigen Fällen hat er hierin fehlgegriffen — als die Auswahl des zur
Aufnahme geeigneten aus der Masse der ächten Stücke* Es war eine
Eigentümlichkeit Dios, so dürfen wir annehmen, sehr häuGg dasselbe
zu sagen; und warum sollten wir ihm zum Vorwurf machen, was
Epiktet ebenfalls thut. Der Schriftsteller, der sich mit jedem seiner
Werke an die gesamte Leserwelt richtet, darf nicht zweimal dasselbe
publiciren. Für die zur Verewigung bestimmte litterarische Publication
gilt unbedingt die Forderung der Neuheit und Einzigkeit. Der Wander-
prediger, der nicht für die Nachwelt schafft, sondern mit der Ein-
wirkung auf sein jedesmaliges Publicum zufrieden ist, braucht sich
nicht an dieses Gesetz zu binden. Aus der wörtlichen Wiederholung
ganzer Vorträge entstand keine Schwierigkeit für den Sammler, wohl
aber aus der in Wortlaut und Composition modificirenden Wiederholung,
die sich aus der improvisatorischen Lehrweise Dios mit Notwendigkeit
ergab. Häufig kamen dem Sammler Stücke zu Händen, die sich teils
wortlich, teils nur dem Gedankengange nach mit anderen deckten und
doch auch wieder neues, eigenes enthielten. Wenn er einerseits Wieder-
holungen übereinstimmender Abschnitte vermeiden, andererseits nichts
gutes untergehen lassen wollte, so blieb ihm nichts übrig als solche
Stücke zu zerschneiden, das schon bekannte wegzuwerfen und das neue
entweder als selbständiges Stück in seine Sammlung aufzunehmen oder
einem andern Werke als Dublette, Zusatz, Anhang beizugeben. Welche
der beiden Verfahrungsweisen den Vorzug verdiente, darüber mufsten
im einzelnen Falle Zweckmäfsigkeitsgründe entscheiden.
Ich kehre zu dem Ausgangspunkt dieser Abschweifung zurück.
Or. 65, sagte ich, bildet den merkwürdigsten Beleg für jene stereotype
Eingangsmanier dionischer öiaki^eig. Denn nicht weniger als sechs
Vorträge mit Exordien dieser Gattung lernen wir durch sie kennen.
Im ganzen kennen wir also sechzehn. Wenn es auch nicht zulässig '
ist, diese Eingangsmanier ohne weiteres als chronologisches Kennzeichen
zu verwerten, so dürfen wir doch diese formale Übereinstimmung als
Ausgangspunkt der Untersuchung benutzen, und wenn sich die be-
treffenden Stücke auch inhaltUch und stilistisch als zusammengehörig
272 Drittes Kapitel.
erweisen, so wird es als wahrscheiDlicb gelten dürfen, dafs sie eine
bestimmte Epoche in Dios Lehrtbätigkeit repräsentiren. Es ist an sich
unwahrscheinlich, dafs eine so bestimmt ausgeprägte Manier durch
Jahrzehnte von einem Redner beibehalten wird, zumal sich in dieser
formellen Obereinstimmung eine Ähnlichkeit des Inhalts kundgiebt
Wir unterscheiden leicht zwei Gattungen der in Rede stehenden
öiali^eigy solche mit allgemein protreptischem Inhalt und solche, die
bestimmte einzelne Fehler der Menschen bekämpfen. Protreptisch
nenne ich diejenigen Vorträge, die sich begnügen, die allgemeine Not-
wendigkeit der sittlichen Einsicht und des folgerichtigen Nachdenkens
über die Aufgabe des Menschen nachzuweisen. Diese dem Wander-
prediger besonders angemessene Gattung ßnden wir bei Dio reichlich
vertreten. Dabin gehören in erster Linie or. 68 (Ttegi dortig /),
69 {negi agetijg)^ 71 (Ttegl q)ii.oa6q>ov)n 24 {/cegl evdai/iovlag); im
weiteren Sinne können wir auch or. 27 (öiaigißr) Tteql rciv kv avf^-
noalip)., or. 14 (negl dovkelag xai ikevd^eglag) zu dieser Klasse
rechneu ; endlich scheinen auch die Vorträge tccqI nvx^gt deren Exordien
in or. 65 zusammengestellt sind, in dem prolreptischen Grundgedanken,
dem Lobe der (pqovrioig — eins ist not — gegipfelt zu haben. Da-
gegen sind therapeutischen Charakters {d'BQa/tevxLy.ol twv ua&wv)
or. 66 (Ttegi do^rjg a'), or. 16 (negl kvTtrjg), or. 17 (Ttegi Ttkeove^lag).
Die genannten prolreptischen Vorträge zeigen die gröfste Ober-
einstimmung des Grundgedankens; nur die Ausführung ist eine ver-
schiedene.
Or. 68 (tisqI öo^rjg y) handelt nicht von der do^a in demselben
Sinne wie or. 66 und 67. Der Sammler hat sich durch den W^ort-
gleichklang verleiten lassen, sie mit jenen zu einer Gruppe zu ver-
binden. Der Inhalt ist folgender: Die Menschen lassen sich in ihren
Restrebungen nicht von einem Wissen über den Wert der Dinge, son-
dern teils von Lust- und Unlustgefühlen, teils von Gewohnheit (avvijd'eia)
und bloüser Meinung (öo^a) leiten. Aus der letzteren entspringen die
mannichfaltigen Abweichungen der Völker in Gesetz und Sitte, der ein-
zelnen Menschen in ihren Restrebungen. Der eine treibt dies, der
andere jenes;. aber nichts treiben sie recht, weil ihr Streben nicht von
klarer Erkenntnis der Werte geleitet wird. Wer hingegen durch die
rechte Erziehung zur q)Q6vrjaig gelangt ist, d. h. zur Klarheit über das
letzte Ziel, auf das all unser Handeln in letzter Linie bezogen werden
mufs, der ist in den Stand gesetzt, alle einzelnen Thätigkeiten, indem
er sie zu dem letzten Ziele in Reziehung setzt, in der richtigen, nutz-
t,
L
Das Exil.
273
bringenden Weise auszuüben, mag er nun Ackerbau treiben oder Pferde-
zucht oder Musik oder OfBcier sein oder politischer Beamter.
In or. 69 (negl ager'^g) ist der Gedankengang folgender: Es ist
merkwürdig, dafs die Menschen die Tugend zwar loben und bewun-
dern, ihr Streben aber auf alles andere eher als auf sie richten. Der
eine treibt Ackerbau, der andere Handel, der dritte widmet sich dem
Soldatenstand, andere studiren Medicin oder Baufach, wieder andere
wollen in der Volksversammlung oder vor Gericht als Redner glänzen,
wieder andere durch Körperkraft sich auszeichnen. Und doch bieten
alle diese Bestrebungen keine Garantie für das Lebensglück, sondern
allein (wie durch zwei stoische Haufenschlttsse bewiesen wird) die sitt-
liche Einsicht. Auch hängt das Wohl von Staat und Gesellschaft nicht
von den Musikern, Schustern, Rednern, Ärzten, auch nicht von den
Landwirten und Baumeistern ab, sondern von Recht und Gesetz. Der
Mangel an Tugend und Einsicht ist gefährlicher und unersetzlicher als
der jeder anderen Kunst und Wissenschaft, zumal man sich dieses
Mangels nicht einmal bewufst zu sein pQegt. Giebt es doch sogar
Leute, die die Möglichkeit einer Wissenschaft von den ethisch-politischen
Dingen bestreiten und glauben, dafs das positive Recht als Lebensnorm
genüge. Aber wer nur aus Fur(^hl vor der gesetzlichen Strafe Übel-
thaten unterläfst, ist darum nicht minder ein Übelthäler.
Or. 71 hat folgenden Inhalt: Die Forderung, dafs der Philosoph in
jeder Hinsicht dem Nichtphilosophen überlegen sein soll, ist berechtigt,
aber nicht in dem Sinne, dals der Philosoph alle einzelnen Künste und
Wissenschaften besser als die Fachleute verstehen soll; sondern darin
soll seine Überlegenheit bestehen, dafs er alles, was er thut oder unter-
läfst, in der rechten Weise und zur rechten Zeit und am rechten Orte
thut oder unterläfst, sodafs es zu wahrem Mutzen gereicht, was nur
durch sittUche Einsicht und Tugend möglich ist.
Dazu kommt endlich noch or. 24 (Ttegl BvöaifxovLag) : Die meisten
Menschen denken garnicht allgemein darüber nach, welches die Auf-
gabe des Menschen ist und welches das höchste Gut, in dem alles
Handeln seinen Zielpunkt finden soll, sondern der eine bemüht sich
um die Heilkunst, der andere um die Strategie, der dritte um die
Agonistik, der vierte um die Musik, andere um die Landwirtschaft,^
wieder andere endlich. um rednerisches Können. Aber welchen Nutzen
eine jede dieser Künste für das Menschenleben bringt, wissen sie nicht
und fragen sie nicht. Daher giebt es zwar viele, die sich in jenen
einzelnen Künsten auszeichnen, aber keiner von allen verdient den
▼. Arnim, Dio. lg
274 Drittes Kapitel.
Namen eines ayad'og avriQ xal q>Q6vifAog. Besonders herrscht bei den
Redebeflissenen die gröfste Unklarheit und Heinungsverschiedenheit über
den Zweck und die Bedeutung ihrer Kunst. Ich aber behaupte, dafs
alle jene Bestrebungen ohne das Nachdenken über Aufgabe und Ziele
des Menschenlebens geringen Wert haben, während demjenigen, der
sich über diese klar geworden ist, alle jene Künste und Fertigkeiten
zum Nutzen gereichen.
Diese kurzen Inhaltsangaben genügen, um die genaue Oberein-
stimmung der Lehre und die innere Zusammengehörigkeit aller vier
Stücke zu erweisen. Sie zeigen auch die gröfste Verwandtschaft mit
dem Prolrepticus in or. 13 § 16 — 28. Auch die Forderung einer
besseren Erziehung, die dort im Vordergrunde steht, kehrt in or. 68
§ 5 wieder: fcwg XQV. ^^if^^^V^^^'^cc avtov xai Ttaldevaiv liva
Ttacöev^ivTa yeviad'ai avdqa aya&ov u. s. w. Dort in or. 13 ist
es, wie wir sahen, der ausgesprochene Zweck Dios, die Anfänge seiner
Lehrthätigkeit zu schildern. V^enn wir nun unter den erhaltenen Vor-
trägen solche finden, die ganz dem dort gezeichneten Bilde seiner Lehr-
thätigkeit entsprechen, so dürfen wir sie mit Zuversicht als Werke der
Exilszeit in Anspruch nehmen.
Im weiteren Sinne gehören zu den protreptischen Reden auch
or. 27 und 14.
Or. 27 (diccTQißfj tzbqI twv kv av^Ttoalq)) trägt, wie so viele
andere Stücke, seinen Titel mit Unrecht. Denn nur in der ersten,
kleineren Hälfte (§ 1 — 4) wird das Gastmahl als Bild der menschlichen
Bestrebungen und der Unterschiede der Lebensauffassung behandelt;
von § 5 an wird der Jahrmarkt {navijyvQig) in demselben Sinne ver-
wertet. Beide Teile laufen darauf hinaus, das Verhalten des Philosophen in
seinem Gegensatze zu dem der übrigen Menschen zu schildern. Aber
im zweiten Teile wird bald der generelle Gesichtspunkt fallen gelassen.
Der Redner denkt nicht mehr daran, den Jahrmarkt als Bild des ganzen
Menschenlebens zu betrachten, sondern zu der gegenwärtigen Wirk-
lichkeit des Jahrmarkts, auf dem er weilt, zurückkehrend, verbreitet er
sich über das Verhalten der Menschen gegenüber den Philosophen
(§7—10). Wie die Menschen, solange sie gesund sind, nicht daran
denken, durch ihre Lebensweise für die Erhaltung der Gesundheit zu
sorgen, und erst wenn eine Krankheit sie befällt den Arzt rufen, so
wollen sie auch von dem Philosophen, dem Seelenarzte, nichts wissen,
solange es ihnen gut geht, solange sie wohlhabend und gesund und
in Amt und Würden und Frau und Kinder ani Leben sind; sobald
Das Exil. 275
aber Armut, Krankheit, DemütiguDg, Verlust teurer Angehörigen sie
trifft, werden sie auf einmal empfänglich für die Reden des Philosophen
und begehren selbst seinen Trost und Zuspruch. — Die Absicht dieses
Vortrags kann otTenbar nur als eine protreptische bezeichnet werden.
Für die Exilszeit spricht vor allem die nahe Berührung mit or. 8 und 9.
Das bunte, närrische Treiben des Jahrmarkts, dem der Philosoph als
aufmerksamer und überlegener Beobachter beiwohnt, wird in or. 27
§ 5. 6 ganz ähnlich geschildert wie in or. 8 § 9. Der Vergleich des
Philosophen mit dem Arzte kehrt beidemal wieder und der Gedanke
or. 27 § 1 : ol avd'QCj/coi ylyvovtat yuna(faveig o/tolav €xovat
diavoiav exactog kv Talg 7cavTjyiQfaiv steht sowohl or. 8 § 6 elcix^ei
yoLQ inioxoTteiv iv raig jcavrjyvQeai rag OTCOvdag zdiv av-d'Qcimov
xal rag iTti&vfiiag xal wv %veyLa adrjjnovovOL xai e/cl %lai ^iya
(pqovovOL als or. 9 § 1 TtaQeivyxctve dk Toig TcavrjyvQeaiv — «Trt-
OTLOTfaiv olfiai Tovg avd^Qoinovg xal Trjv avoiav av%wv. fjdei yag
OTi (paveQWTOTol elaiv iv zalg toQTalg xal taig Tfavrjyvgeaiv. Der
einzige Unterschied besteht darin, dafs was dort als Ansicht des Dio-
genes mitgeteilt wird, in or. 27 der Redner als eigene Erfahrung aus-
spricht. Man wird diese Obereinstimmung als ein Moment ansehen
dürfen, das die Entstehung der 27. Rede in nicht allzu ferner Zeit von
den Diogenesreden wahrscheinlich macht.
Wo soll man überhaupt die Erzeugnisse der Exilsperiode suchen,
t
wenn nicht in diesen durch Einfachheit des Inhalts und Stils ausgezeich-
neten Dialexeis, die nicht geeignet sind grofse Volksmassen zu beherrschen,
wie sie dem auf der Hohe des Ruhmes stehenden Redner zu lauschen
pflegten, und die im Inhalt nur die allgemeinsten und einfachsten Grund-
gedanken sokratischer IVolreptik wiedergeben? So konnte ein Anfänger
in der Philosophie reden, ohne Berücksichtigung subtiler Unterschei-
dungslehren der einzelnen Schulen, als Vertreter der ganzen von So-
krates ausgegangenen, in Kynismus und Stoa sich fortsetzenden ethischen
Bewegung. Es wäre auffallend, wenn die Exilszeit, der doch Dio seinen
Ruhm verdankte, in unserer Sammlung garnicht vertreten wäre.
Es hat sich also ergeben, dafs die Vorträge, die wir zunächst auf
Grund eines formalen Kennzeichens zu einer Gruppe zusammen fafsten,
auch inhaltlich zusammengehören und sich als Werke der Exilsperiode
mit grofser Wahrscheinlichkeit kundgeben. Ich meine natürlich nicht,
dafs jene Eingangsmanier von Dio nach seiner Restitution nicht mehr
angewandt werden konnte. Auch später stand es ihm jederzeit frei,
auf seine ältere Weise zurückzugreifen. Namentlich in den Anfängen
18*
276 Drittes Kapitel.
der dritteo Periode wird er dem Stil der zweiten noch nahe gestanden
haben. Aber auf die Dauer konnte er die früher vorherrschende Manier
in seiner durch die Restitution völlig veränderten Lehrthätigkeit nicht
mehr festhalten. In einem Falle läfst sich mit Sicherheit nachweisen,
dafs ein mit solchem Exordium versehenes Stück nicht der Exilszeit
angehörte Or. 72 stammt aus der nachexilischen Zeit. Denn sie ist in
Rom gehalten. Das wird bewiesen durch das bunte Gewimmel der ver-
schiedensten Nationen und Nationaltrachten, das sich nach § 3. 4 durch
die Strafsen der betreffenden Stadt bewegte, in Verbindung mit der Re-
merkung in § 5: hier (in der Stadt, wo die Rede gehalten ist) sei der
Typus der Götterbilder nicht wie in Aegypten und Phoenikien von dem
hellenischen verschieden, sondern mit ihm übereinstimmend. Auch aus
§ 6 geht hervor, dafs die Stadt keine griechische isL Wo giebt es in
der damaligen Welt eine nichtgriechische Stadt, aufser Rom, die für die
Wirksamkeit eines griechischen Sophisten ein passendes Arbeitsfeld bietet
und zugleich Thraker, (leten, Perser, Raktrier, Parther, Nasamonen und
viele andere barbarische Nationalitäten in ihren Mauern vereinigt? Ich
vermute, dafs or. 72 bei Dios erstem römischen Aufenthalt nach der
Restitution gehalten ist. Inhaltlich zeigt sie nahe Rerührung mit zwei
sicher der dritten Periode angehörigen Reden, der 35. (iv Kekaivalg
%rig OQvyiag) und der 12. COlv^/tmog). Mit jener hat sie die Er-
örterungen über die Redeutung der Philosophentracht gemeinsam^ mit
dieser die Verwendung der äsopischen Fabel von der Eule. Auch sti-
listisch stellt sie sich mehr zu den späteren Werken. Desgleichen ist
or. 80 (tüjv €v Kikcxltf tvbqI ilev&eQlag) aus unserer Gruppe auszu-
scheiden und der dritten Periode zuzuweisen, wegen ihres e'pideiktischen
Stils. Ihr Eingang ist ja auch insofern von den Übrigen abweichend,
als er eine Anrede in zweiter Person enthält (vi^eig fihv lawg d-avfjia-
t,€%e u. s. w.).
Die ebenfalls zu den protreptischen im weiteren Sinne gehörige
or. 14 {neqi dovkelag xal ikev&eglag a) steht, wie früher bemerkt,
durch ihre zum Teil dialogische Form zwischen den einfachen öia-
Xi^eig und den didloyoi in der Mitte. Es empflehlt sich daher, erst
die therapeutischen Vorträge zu besprechen, or. 66, 16, 17.
Von diesen drei Vorträgen ist or. 66 (negl do^rjg a) leicht und
unmittelbar als Werk der Exilsperiode kenntlich. Zunächst zeigt schon
der Radicalismus des ganzen Standpunktes den aufserhalb der Gesell-
schaft stehenden, auf jede politische Wirksamkeit verzichtenden Ver-
bannten. Seit seiner Rückkehr nach Prusa hätte Dio nicht mehr so
Das Exil. 277
entschieden jede politische Thätigkeit verwerfen können. Er schildert
in der crassesten Weise das unselige Leben des auf Vertrauen und Bei-
fall des Demos angewiesenen Staatsmannes. Als Gegensatz des ehr-
geizigen Staatsmannes schwebt ihm hier nicht der uneigennützige yot,
der um des allgemeinen Besten willen Mühe und Verdrufs der politischen
Laufbahn auf sich nimmt, sondern der jede politische Thätigkeit zur
Wahrung seiner persönlichen Freiheit und Ruhe ablehnende „Philosoph^^
kynischer Observanz. Dieser aus dem Gesamtinhalt gewonnene Eindruck
empföngt willkommene Bestätigung durch eine Anspielung auf die Zeit-
verhältnisse, die uns sichere Datirung der Rede gestattet. Das Streben
nach dem königlichen Diadem, so wird § 5 ausgeführt, hat schon viele
tausende von Menschen zugrunde gerichtet. Um eines goldenen Schafes
willen hat sich das Pelopidenhaus in Blutthaten aufgerieben. So er-
zählen uns Sophokles und Euripides, glaubwürdige Gewährsmänner:
in dh ideiv eaiiv hiqav olxlav avvxQcßeloav nXovatwxiqav ixeivrjg
dia ykiHxtav %al vtj Jia irigav xivövvevovaav. Dies ist offenbar
eine Anspielung auf die von Dio miterlebten Vorgänge der römischen
Raisergeschichte. Jenes Haus, das noch reicher war, als das Pelopiden-
haus ist die gens Julia. Neros wahnwitzige Ruhmsucht, die sich am auf-
fallendsten in seinem Auftreten als Sänger kundgab {dia ykcÜTTav), hat
den Untergang dieses Hauses herbeigeführt. Aber auch das jetzt re-
gierende Haus — damit kann nur das flavische gemeint sein — steht
im Begriff zermalmt zu werden. Dio prophezeit also, dafs das flavische
Kaiserhaus, wie das julisch-claudisclie durch Nero, durch den zweiten
Nero, durch Domitian zugrunde gehen wird. Wie nahe es lag, dieses
Prügnostikon zu stellen, ersehen wir aus Sueton Domit. 14 sq. und Cass.
Dio 67, 16 sq. Die Prophezeiung von dem baldigen Untergang des
Kaisers war seit längerer Zeit allgemein verbreitet und auch dem Kaiser
selbst bekannt; nicht minder den Verschworenen: sie wählten im Ein-
klang mit der Prophezeiung Tag und Stunde für ihre That. Bekannt
ist auch, dafs Apollonius von Tyana die Ermordung Domitians in derselben
Stunde zu Ephesos verkündete, wo sie in Rom geschah. Es darf als
sicher gelten, dafs auch Dio mit jenen Worten der 66. Rede auf den
allgemein verbreiteten Glauben, dafs dem Kaiser ein Ende mit Schrecken
bevorstehe, anspielen wollte. Ist dies richtig, so gehört die 66. Rede
der letzten Zeit der domitianischen Regierung an.
Auch dieser Rede scheint der Redactor Bestandteile anderer Reden
neg} ö6£r]g am Schlufs als Anhänge beigegeben zu haben. Denn mit
den Worten nolkaxig ovx in ayad't^ anvivaTO § 26 ist wohl der
878 Drittes Kapitel.
Abschlufs der Rede erreicht. Währeod Dämlich in der ganzen vorauf-
gehenden Ausführung bewiesen wird, dafs es für den q)il6do^og
schwierig, ja unmOgUch ist, das Ziel seines Strebens zu erreichen,
wird zum Schlufs der Trumpf ausgespielt: selbst wenn er sein Ziel
erreicht, ist es ungewifs, ob es ihm zum Heile dient. Nachdem dieser
Gedanke ausgesprochen war, konnte nicht, wie es im folgenden geschieht,
auf das frühere Thema, die Unerreichbarkeit ungetrübter evdo^la, zu-
rückgegriffen werden. — Aber auch der folgende Anhang ist nicht in
sich einheitlich, sondern besteht aus drei lose aneinander gereihten
Stücken. Es ist leicht einzusehen, dafs mit den Worten ovt agyvgcov
i 27 extr. der Gedankengang sein Ende eireicht hat. Dadurch^ dafs
in dem Schlufssatz neben aqyvQiov auch ^vqov, atiqxxvog^ olvog ge-
nannt werden, ist aufser Zweifel gesetzt, dafs er den ganzen mit T(p BL-
iJVL doxel i 26 beginnenden Abschnitt abschliefsen soll. Unmöglich
kann also das folgende: rtSv fvlovalwv htaarog ^oixe %(^ vofilcfiaTi
an die Bemerkung über das aQyvgiov yevia&ai angeschlossen werden.
Sie hat auch mit dieser dem Gedanken nach nichts zu schaffen. Eine
rein äufsere Ähnlichkeit der beiden Gedanken scheint den Redactor
veranlafst zu haben, den Vergleich der Reichen mit dem vofiiofia hier
anzuschliefsen. In Wahrheit schliefsen sich § 27 und § 28 gegenseitig
aus, wenn dort gesagt wird: um den Leuten zu gefallen, müfste man
zu Silbergeld werden; da das doch unmöglich ist, so gebe man das
ganze Streben auf — und hier: der Reiche gleicht der Münze, die
niemand lobt, aber jeder braucht, bis sie abgegriffen und dadurch un-
gültig geworden ist. — Ebenso ist der in § 29 folgende Vergleich
der öo^a mit der tragischen Erinys, der abbricht, ohne zum Abschlufs
gekommen zu sein, ein versprengtes Stück einer Rede negl do^rjg,
das mit dem Voraufgehenden in keinem Zusammenhange steht.
Wenn die 66. Rede unzweifelhaft in die Exilszeit gehOrt, so mufs
dasselbe auch von or. 16 {fcegl Xv7Ct]g) und von or. 17 (negl Ttleo-
vertag) gelten. Alle drei zeigen uns den Philosophen als Seelenarzt
beschäftigt, die Seelen seiner Zuhörer von ihren krankhaften Affec-
tionen, den Leidenschaften zu befreien. Alle drei haben jene stereotype
Eingangsmanier. Es kommt noch eine weitere Ähnlichkeit hinzu zwi-
schen den JElxordien von or. 66 und or. 16. Beidemal wird die Be-
kämpfung des Fehlers, der das Thema bildet, durch eine Vergleichung
mit andern verwandten Fehlern eingeleitet. Wie die (piXodo^ia mit
der q)ikaQyvQla, 6ipoq)ayla^ oivoq)Xvyla^ so wird die XvTtri mit der
i^dovq bezüglich ihrer Gef^hrüchkeii für die Seele in Parallele gestellt.
Das Exil. 279
Beidemal ist es darauf abgesehen, den gerade in Rede stehenden Fehler
als ganz besonders geßihrlich zo erweisen. In der 66. Rede ist die
Benutzung ky nischer Quellen zweifellos; in der 16. ist nur die Deutung
der Medea :» (pQovriatg ein kynisches Motiv. Im übrigen waltet hier
mehr stoischer Geist. Der Salz in § 64 : ovnovv xad^ exaarov airciv
del Ttoieia&aL r^v Ttagajavd'lav — aXla olcjg i^ekovra %'qg tpvx^g
%6 Tta&og TLoi tovto xglvavTa ßeßaliog, ort fufi kvnrjTiov iarl negl
fir^öevog uj) vovv exovri, to Xoitcov ilev&eQia^eiv erinnert speciell
an Ariston, der nach Seneca ep. 94 die Speciaiisirung der philosophi-
schen Wahrheiten für die Einzelfalle des Lebens, den vTcod'erixdg to-
nog, verwarf. In or. 17 ist überhaupt kein bestimmter philosophischer
Standpunkt erkennbar, da sie sich, wie die ausführliche Einleitung
(§ 1 — 6) betont, auf die Einschärfung allgemein anerkannter Wahrheiten
beschränkt.
Or. 14 [Ttegl dovkelag xal iXev&eQiag a) stellt sich, wie schon
bemerkt, einerseits zu den protreptischen Dialexeis, mit denen sie die
Eingangsmanier teilt. Besonders erinnert die Einleitung von or. 14 an die
der 66., zum Teil auch an die der 96. Rede. Andererseits stellt sich or. 14
zu den Dialogen, da von § 14 an der zusammenhängende Vortrag in die
Gesprächsform übergeht. Ich habe bereits darauf hingewiesen , welche
grundlegende Bedeutung das Vorkommen dieser Zwitterform für die Beur-
teilung der dionischen öiaXi^eig und dioXoyoc hat. Ich erklärte es für
undenkbar, dafs ein für litterarische Publication arbeitender Schriftsteller
diese Zwitlerform anwenden sollte. Nur als treue Abbildung mündlicher
Lehrthätigkeit kann sie verstanden werden. Das diaXiyea&ai, das je
nach den Umständen zur öidke^ig oder zum didkoyog führt, erklärte
ich für die Grundform der Lehrthätigkeit Dios während des Exils. Ehe
ich versuche, diese Erkenntnis für die richtige Beurteilung der dia-
logischen Werke auszunutzen, mufs ich noch einen Augenblick bei
or. 14 verweilen. Die Rede ist (neben der 15.) unsere beste und reich-
haltigste Quelle für die stoische Lehre von der Freiheit der Weisen,
die, von zahllosen gelegentlichen Erwähnungen abgesehen, auch in der
pseudophilonischen Schrift Ttegl xov navTa onovdalov ilevd-egov elvai,
und für rhetorische Zwecke zugestutzt in Ciceros Paradoxa Stoicorum
behandelt wird. Nachdem sämtliche der gewohnlichen Meinung ent-
sprechende BegritTsbestimmungen der Freiheit als unzureichend nach-
gewiesen sind, wird von § 14 an der stoische Freiheitsbegriff positiv
entwickelt, demzufolge sich ergiebt: tovg fiiv (pgovljuovg kkev&igovg
z€ elvai xal i^eivai avToig nouiv wg kd'ikovac, tovg dk avarjtovg
280 DriUes Kapitel.
dovXovg TS elvai xal a ^i] %^eoxiv avrolgy ravta nouiv uod die
Freiheit definirt wird als iTtiaTrj/irj twv kq)€i^iviov xai rtSv nexwlv-
liivvDV. Deutlich tritt hier der ionere Zusammenhang und die Ober-
einstimmung der 14. Rede mit den früher besprochenen protreptischeo
Vorträgen hervor. Sie beruht wie jene auf dem Begriff der q)Q6vrjaig,
der sittlichen Erkenntbis. Diese ist das eine, was not ist. Durch sie
ist Tugend, Glückseligkeit, Freiheit bedingt. Es ist daher berechtigt
or. 14 den protreplischen Vorträgen zuzurechnen.
Mit der Definition der Freiheit § 18 Anf. ist streng genommen
der Abschlufs des Gedankenganges erreicht. Was Dio noch weiter hin-
zufügt, dient nicht mehr dem protreplischen Hauptzweck des Vortrags.
Aus dem, was wir bewiesen haben, sagt er, ergiebt sich, dafs nichts
uns hindert, den Grofskönig in aller seiner Pracht für einen Sclaven
zu halten, einen andern aber, der nicht einmal, sondern oft verkauft
worden ist und vielleicht schwere Ketten trägt, für freier als den
Grofskönig. Da der Mitunterredner dies für paradox erklärt, schickt
sich Dio an, seinen Satz zu beweisen. Er. bedurfte streng genommen
keines Beweises mehr, da er ja als Folgerung aus der gewonnenen Be-
griffsbestimmung der Freiheit abgeleitet wurde. Noch mehr zeigt sich
der mangelnde organische Zusammenhang mit dem voraufgehenden
darin, dafs Dio den Begriff der Freiheit plötzlich fallen läfst und den
des Königtums statt seiner unterschiebt. Er beweist nicht, dafs ein
Mann in Ketten und Gefangenschaft frei, sondern dafs er ein König
sein kann. Das andere kynisch-stoische Paradoxon ort fiovog 6 aocpog
ßaoilevg wird jetzt bewiesen. „Die Leute glauben nicht, dafs ein
Bettler oder Gefangener König sein kann, obgleich sie die Geschichte
des Odysseus kennen, der als Bettler unter den Freiern weilte und
darum nicht weniger König und Herr des Hauses war.^' Wir müssen
nach dem Grunde fragen, der Dio bestimmte, dem Gespräch diese von
dem Thema ablenkende Schlufswendung zu geben. Ich meine ,^ dieser
Schlufs ist ganz ebenso aufzufassen, wie der der sechsten Rede (^lo-
yivfig rj TtBQi TVQavvlöog). Wenn Dio von dem Grofskönig sprach,
sollten die Hörer an Domitian denken. Es spricht für diese Auffassung,
dafs die den Grofskönig betreffenden Worte in Präsens und Futiinim
stehen : ovdhv av xcokvoi rov /diyav ßaaikia — öovkov elvai xal
jUTj k^elvai avTff) nQxxTTeiv fxr]Ö€v luv noul' navrct yaQ hti^rj/iiiajg
xai aövficpoQwg ngd^ei. Da hier nicht Diogenes, sondern Dio redet,
läfst sich der Gebrauch der Tempora kaum anders deuten. Wenn
weiter in §22 der König-Bettler an Stelle des gefangenen Königs tritt
Das Exil. 281
und als Beispiel Odysseus unter den Freiern angeführt wird, so werden
wir um so weniger zweifeln, dafs diese Vertauschung durch die eigene
. gegenwärtige Lage des Redners hervorgerufen ist, als ja auch in der
Rede an die Legionen nach Domitians Tode Dio sich selbst mit
Odysseus unter den Freiern verglich (Fhilostr. vitae soph. I p. 206). So
darf uns der Schlufsteil der Rede als ein weiterer Beweis gelten, dafs
sie bei Lebzeiten Domitians von dem Bettler Dio gehalten ist.
Durch das, was uns die Betrachtung des Halbdialogs or. 14 gelehrt
hat, sind wir vorbereitet, die eigentlichen Dialoge Dios richtiger, als es
bisher geschehen ist, zu beurteilen. In seinem Buche „Der Dialog^^ hat
kürzlich Rudolf Hirzel eine Auffassung der dionischen Dialoge vertreten,
die der meinigen entgegengesetzt ist. Der Gegensatz unserer Anschau-
ungen beschränkt sich nicht auf die Dialoge. Seine ganze Beurteilung
des Autors ist das gerade Gegenteil von derjenigen, die ich für richtig
halte und in dieser Schrift vertrete. Jeden Versuch, den Schriftsteller
als einen leidlich vernünftigen Menschen verständlich zu machen, lehnt
er schon im voraus ab. Als Grundzug Dios betrachtet er die Eigen-
schaft, niemals selbst zu wissen, was er will, und sich fortwährend in
Widersprüche zu verwickeln. . Ich habe bisher geglaubt, von einer
Polemik gegen Hirzels Aufstellungen absehen zu dürfen, da ja meine
ganze Schrift sich die Aufgabe stellt, durch die Erkenntnis von Dios
Entwicklung die erforderliche Grundlage für das Verständnis des Ganzen
wie des Einzelnen zu schaffen. Aber in diesem Falle ist es unerläfs-
lieh, auf die Ansicht des Gegners einzugehen.
Hirzels Ansicht ist am deutlichsten in folgenden Sätzen ausgedrückt
(II 114): „So sind Dions Dialoge nicht der Abdruck einer inneren oder
äufseren Wirklichkeit, die notwendige formale Erscheinung zu einer
mächtig mit der Phantasie dramatisch oder mit dem Denken dialektisch
arbeitenden Seele; sie sind vielmehr Formen, die er sich aus der rhe-
torischen Vorratskammer zusammengesucht und dann mit einem nur
gerade nicht widerstrebenden Inhalt erfüllt hat. Durch den erwachsenen
Mann und Schriftsteller hindurch glauben wir noch den Schüler zu
sehen, dem gewisse Aufgaben gestellt werden. Ängstlich arbeitet er
nach der Schablone: Anfang und Ende seiner Dialoge sind abrupt: es
soll dies der Forderung der Natürlichkeit entsprechen, die man an den
Dialog stellte; unter Piatons originaler Künstlerhand thut es dies auch,
aber bei Dion ist die Natur zur übertreibenden Manier geworden und
konnte deshalb den Verdacht einer Verderbnis der Überlieferung be-
gründen.'' Ebenda S. 117 heifst es: „Während sonst die Diatriben auf
282 Drittes Kapitel.
wirklich gehaltene Reden und Gespräche zurückgehen, die ein Anderer
aufgezeichnet hat und die deshalb durch den Vorzug historischer Wahr-
heit ersetzen, was ihnen von kunstvoller Gestaltung der Dialoge abgeht,
so haben dagegen die Gespräche der dionischen Diatriben niemals mehr
als litterarisches Dasein gehabt und verdanken ihren Ursprung wohl
nur Dions Wunsche^ sich auch einmal auf diesem Gebiete als Darsteller
zu versuchen/^
Ich hingegen behaupte und werde zu beweisen versuchen , dafs
unter den dionischen Gesprächen weitaus die meisten von fremder
Hand herrührende Aufzeichnungen solcher Gespräche sind, die> er als
philosophischer Lehrer wirklich mit seinen Schülern gehalten hat und
deren Wert, wie der der epiktetischen Diatriben, vorzugsweise darauf
beruht, dafs sie ein im ganzen treues Bild von der thatsächlichen Lehr-
methode Dios gewähren. Hirzels Fehler scheint mir hier, wie in seiner
ganzen Abhandlung über Dio, darin zu bestehen, dafs er die verschie-
denen litterarischen Gattungen zu sondern verabsäumt und sogleich
über die ungeschiedene Masse ein litterarisches Gesamturteil f^llt. So
ist er dazu gekommen, alle dionischen Gespräche unter den Gattungs-
begriff des „rhetorischen Schuldialogs^^ als einer Kunstform sophistischer
Schriftstellerei zu subsumiren, während in Wirklichkeit nur wenige
Stücke dieser Gattung angehören.
Auszuschliefsen sind natürlich aus der Zahl der Diatribengespräcbe .
diejenigen, die die Form des wiedererzählten Dialogs haben, der zweite
Melankomas, dem ich oben seine Stelle anzuweisen versucht habe, und
or. 15 (TtsQi dovkelag xal ikevd'eglag ß'). Der Melankomas ist, wie
wir sahen, unzweifelhaft ein Werk der sophistischen Periode. Or. 15
. gehört mit or. 14 dem Inhalte nach eng zusammen. Der wiedererzählte
Dialog bildet hier den Kern des Ganzen. Aber auch hier zeigt sich
deutlich, dafs wir es nicht mit einem zur Leetüre bestimmten Erzeugnis
sophistischer Schriftstellerei zu thun haben. Denn im Schlufsteil von
§ 23 an tritt das dialogische Element zunächst etwas mehr zurück, in-
dem die Reden der Gesprächspersonen nicht mehr in directer Form
mitgeteilt werden, sondern nur noch ihr Inhalt berichtet wird. Weiter-
hin hört auch das auf. Es ist der Redner selbst, der zu seinen Hörern
spricht. W^äre das ganze eine Schulübung in der Form des Dialogs,
wie es nach Hirzels Darstellung alle dionischen Dialoge sein sollen, so
würde die Form des wiederei^ählten Dialogs bis zum Schlufs streng
durchgeführt werden. In den Dialogen Lukians besitzen wir ja ein
reiches Material für die rhetorisch - sophistische Dialogschriftstellerei.
Das Exil. 283
Strenge DurchführuDg der gewählten Form ist doch wohl das erste
und selbstverständliche Erfordernis einer vorwiegend dem formalen
Zweck dienenden Schulübung. Die dialogische Form war in der
15. Rede für den Inhalt wesentlich. Dio konnte kaum anders als in
der Form des wiedererzählten Dialogs den Gedanken veranschaulichen,
dafs niemand, welches auch immer seine Herkunft sein möge, sich den
Vorwurf des Sciaventums gefallen zu lassen braucht, da es unmöglich
ist, ihn zu erweisen.
Der wiedererzählte Dialog spielt auch sonst in Dios Reden eine
hervot*ragende Rolle. Von den Diogenesreden enthalten or. 9 (lad-puKLog)
und or. 10 {rceql oineraßv), in unerheblichem Mafse auch or. 8 (negi
aQerfjg) dialogische Bestandteile. Von den KOnigsreden sind die zweite
und vierte überwiegend in der Gesprächsform geschrieben, aber auch
in der ersten und dritten fehlt der wiedererzählte Dialog nicht. Das-
selbe gilt vom Euboicus und vom Borystheniticus. Nichtsdestoweniger
sind alle soeben genannten Werke nicht selbst Dialoge in dem Sinne,
wie etwa Piatos Charmides, Protagoras, Phaidon Dialoge sind, sondern
Reden (öiaU^etg), die sich in gröfserem oder geringerem Mafse der
Form des wiedererzählten Dialogs bedienen. Schon die Zusammen-
gehörigkeit der vier Diogenesreden beweist, dafs die gröfsere oder ge-
ringere Ausdehnung der dialogischen Bestandteile keinen Unterschied
der li tierarischen Gattung begründet. Über die übrigen genannten
Stücke wird im vierten und fünften Kapitel näher zu handeln sein. Hier
kommt es nur darauf an, dafs auch sie keine eigentlichen Dialoge, son-
dern Reden sind.
Von direclen (nicht wiedererzählten) Dialogen ist nur der Chari-
demos auszusondern. Hier bildet das Gespräch Dios mit den Eltern
seines verstorbenen Schülers nur den Rahmen für den von diesem hinter-
lassenen naQafiv&rjTinog loyog, den Dio unter dem Schutze seines be-
rühmten Namens der Öffentlichkeit übergiebt. Dafs Charidemos eine
fiugirte Persönlichkeit ist, wird kein Verständiger glauben. Hat er aber
wirklich gelebt, so ist auch die Rede von ihm. In der That ist ihr
Inhalt ganz und gar nicht dionisch. Von Dio ist nur das Rahmen-
gespräch, Grund genug für den Sammler, das ganze Stück wenigstens
anhangsweise an letzter Stelle in das Corpus aufzunehmen. Hieraus
ergiebt sich, dafs das Rahmengespräch wirkUch, wie es Hirzel für alle
dionischen Gespräche annimmt, „niemals mehr als Htterarisches Dasein
gehabt hat^. Es ist aber auch da& einzige in der dionischen Sammlung,
auf das dies zutrifft.
284 Drittes Kapitel.
Über uixikleig (or. 58) uod (PtAoxTr^Ti;^ (or. 59) habe ich im
zweiten Kapitel gehandelt. Da sie (frei umgestaltende) Paraphrasen
dichterischer Werke sind, gehen sie uns hier nicht an.
Vom Rahmengespräch des Charidemos abgesehen zeigen alle nicht
wiedererzählten Dialoge der dionischen Sammlung, zwölf an der Zahl,
einen in Inhalt und Form einheitlichen Typus: Or. 55 (neQi ^Ofi'qQOv
xal ^(s)%Qa%ovg) ^ 56 (Ayafjiipivuiv ij negi ßaaikeiag)^ 60 {Niaaog r]
Jr]iav€iQa), 61 (XQvarjig), 67 (Tcegl öoSrjg /?')» 70 {negl (pikoao(plag),
75 {7C€qI CLTttazLag), 11.1% (rtegi q>d^6vov)y 21 (negl xakXovg), 23
(oTi eiöalfiicüv 6 aocpog), 25 (7C€qI rov öalfAovog), 26 {7t€^l %ov
ßovXeiead-ai).
Bei diesen Werken, die allein den Namen von Dialogen verdienen,
ist „sophistische Buntheit^, um mit Hirzel zii reden, weder in der
Scenerie noch in der Wahl der Gesprächspersonen zu verspüren.
Scenerie haben sie überhaupt nicht. Die Personen sind durchweg der
philosophische Lehrer, sagen wir Dio, und seine Schüler, nur einmal
(or. 61) eine Schülerin. Der Inhalt ist in allen ein ethischer, mit dem
uns wohlbekannten Stjandpunkt Dios übereinstimmender. Diese zwölf
nach Inhalt und Form zusammengehörigen Dialoge sind es, die ich
unter dem Namen Diatrihengespräche zusammenfasse und in gleichem
Sinne wie die früher besprochenen öiali^eig als litterarische Nieder-
schläge der thatsächlichen mündlichen Lehrthätigkeit Dios erweisen will.
Den beiden Grundformen des philosophischen öiakiy€ad'ai entsprechen
die beiden Arten litterarisch erhaltener Stücke. Weder zwischen jenen
noch zwischen diesen läfst sich streng genommen eine scharfe Grenze
ziehen, da der Philosoph je nach den Umständen jederzeit aus der einen
in die andere übergehen konnte. Erst durch die Zerstückelung der
fortlaufendeo, höchstens nach Zeit und Ort gegliederten Diatribenmanu-
Scripte in scheinbar selbständige Xoyoi, wie sie der Sammler für seinen
Zweck vornehmen mufste, entstanden zwei formell verschiedene Gat-
tungen: öiaXi^€ig und öidkoyoi.
Zur Begründung meiner Auffassung darf ich zunächst daran erin-
nern, dafs ja Dio in der 13. Rede §31 das xata ovo xai rgelg cctco-
kafißdveiv iv TtakaiarQaig xal TvegiTvdtoig ausdrücklich als seine ge-
wöhnliche Unterrichtsmethode während des Exils bezeichnet Darunter
kann nur philosophische Gesprächsfühning mit einzelnen verslanden
werden. Sollte sich von dieser ganzen Seite seiner Lehrthätigkeit kein
litterarischer Niederschlag erhalten haben ? Wenn die Schreibrohre der
Tachygraphen arbeiteten, um die zusammenhängenden Stücke aufzu-
Das Exil. ^ 285
faDgeo uod festzuhalleD , unterbrachen sie vielleicht ihren Lauf, sobald
der Unterricht gesprächsweise fortgesetzt wurde? Dafür spricht weder
die Analogie der epiktetischen Diatriben , in denen auch die Zwischen- *
reden der Schüler gelegentlich mit aufgeschrieben sind, noch wäre über-
haupt für ein solches Verfahren ein vernünftiger Grund erfindlich. Von
Untersuchungen, die zum Teil in der einen, zum Teil in der andern
Form geführt worden waren, hätte man ja auf diese Weise nur Stum-
mel und Trümmer zu Papier gebracht. Von der 14. Rede steht es uns
bereits fest, dafs sie Aufzeichnung eines mündlichen Vortrags ist. So
wie liier der dialogische Bestandteil mit aufgeschrieben wurde und wer-
den mufsle, so auch in den übrigen Fällen. Wir müssen also von
vornherein erwarten, im dionischen Nachlafs auch Gesprächsaufzeich-
nungen dieser Art zu begegnen, und wer die thatsächlich vorhandenen
Gespräche anders deutet, als „blofse papierene Gespräche^, wie Hirzel
a.a.O. 124, dem darf man den Beweis seiner Behauptung zuschieben.
Es beweist nicht viel, mufs aber doch beachtet werden, dafs der Sammler
die Dialoge in demselben Teil des Buches wie die Dialexeis unterge-
bracht hat, mit denen er sie in bunter Reihe abwechseln läfst. Kein
Wunder, wenn er sie auch in den Aufzeichnungen, aus denen er
schöpfte, vereinigt und vermischt vorfand.
Fragen wir weiter, ob die allgemeine Wahrscheinlichkeit durch
positive Kennzeichen bestätigt wird, so verdienen in erster Linie die
Citate Beachtung, die sich in or. 56 {Ayafii/ivwv rj TteQl ßaaikeiag)
und in or. 75 {7C€qI fp&ovov) vorfinden.
Gegen Ende von or. 56 § 16 stehen die Worte: Ttegi fiiv drj
vovrwv avTOv T(v Xoyov idaüj/aev, x^^S iTiavaig elQrjfiivov, In
aXkov de Ttva iwfiev. Nachdem im Vorhergehenden bewiesen war,
dafs weder die spartanischen Könige, die der Oberaufsicht der Ephoren
unterstanden , noch Agamemnon, wegen seines Verhältnisses zu Nestor,
wirklich Könige waren — denn König ist nur der avvTtevd^vvog ag-
XCüv — bricht der Lehrer plötzlich mit den angeführten Worten die
Untersuchung ab und will sich einem andern Thema zuwenden. Er
rechtfertigt dies auffallende Verfahren mit dem Hinweis, dafs er das
Thema gestern bereits zur Genüge behandelt habe. Dem Hörer freilich
scheint diese Rechtfertigung nicht zu genügen. Denn er bittet den
Lehrer dringend in der Behandlung des Themas fortzufahren, da er sich
eben erst über Gegenstand und Tragweite der Untersuchung klar zu
werden beginnt. Damit schliefst das erhaltene Stück, was um so auf-
fallender ist, da im Anfang der Lehrer cpgovlfiovg Xoyovg acp' wv iariy
286 Drittes Kapitel.
wq)eXrid^vai rrjv diavoiav versprochen, dieses Versprechen aber bis
jetzt nicht eingelöst hat.
Stellen wir uns diesem Citat gegenüber auf den Standpunkt Hir-
zels, so mufs es als hlofse Fiction gelten. Der Dialog, in der Abgrenzung,
wie er uns vorliegt, ist ein selbständiges, in sich abgeschlossenes Werk,
das nie anders als auf dem Papier existirt hat, und dessen Anfang und
Ende abrupt sind, weil es die rhetorische Theorie so verlangt Wenn
in einem solchen Werk auf die gestrigen Xoyot verwiesen wird, so ge-
schieht das vielleicht nur, um das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler
als ein nicht erst vom heutigen Tage datirendes zu kennzeichnen oder
um das capriciöse Abreifsen des angesponnenen Fadens wenigstens durch
einen Scheingrund zu stützen.
Oder kann das Citat, nach Analogie der platonischen Rückver-
weisungen im Sophistes und im Politikos, auf einen anderen, ebenso
papiernen, uns nur leider nicht erhaltenen Dialog bezogen werden?
Dies würde voraussetzen, dafs Dio~^mehrere solche Dialoge, als an auf-
einanderfolgenden Tagen gehalten, zu einem gröfseren Ganzen verbunden
hätte. Aber es ist nicht glaublich, dafs ein Schriftsteller aus mehreren
Gesprächen ein Ganzes aufzubauen suchte, der das einzelne Gespräch
zum Ganzen abzurunden aus sophistischer Caprice verschmähte.
Ist also- diese Möglichkeit durch Hirzels Voraussetzungen ausge-
schlossen, so bleibt nur die reine Fiction übrig. Der Fingerzeig deutet
einfach ins Leere. Dafs die oben angedeuteten Gründe nicht genügen,
die Anwendung dieser Fiction zu rechtfertigen, liegt auf der Hand.
Dafs der Schüler schon gestern desselben Lehrers Unterricht genossen
hat, kann um so weniger als ein wertvoller Beitrag zur Charakteristik
der Gesprächspersonen gelten, als der Schüler mit dem Wink des Leh-
rers nichts anzufangen weifs. Soll er vielleicht als unaufmerksamer
Schüler charaklerisirt werden? und welchen Zweck hätte das? Wenn
der Dialog zum Lesen bestimmt war, so mufste auch das Citat für den
Leser verständlich sein; und wenn es das plötzliche Abreifsen des an-
gesponnenen Fadens motiviren sollte, so mufste eine vom Standpunkte
des Lesers, nicht nur der üngirten Personen zutreffende Motivirung
gegeben werden. Es würde wohl selbst den wohlwollendsten Leser
erzürnt haben, wenn man ihm das im Anfang verheifsene Vorenthalten
hätte, unter dem Vorgeben, dafs nicht etwa er, sondern der garnicht
existirende Schüler im Dialog schon gestern darüber belehrt worden sei.
Durch diese Erwägungen ist die Ansicht widerlegt, die den abrupten
Schlufs als in des Verfassers Absicht liegend und den Dialog, so wie er
Das Exil. 287
überliefert ist, als ein im Sinne des Verfassers vollständiges und litle-
rarisch lebensfähiges Werk ansieht. Wollen wir zum geschichtlichen
Verständnis antiker Litteraturwerke und ihrer litlerarischen Eigenart ge-
langen, so müssen wir von der Voraussetzung ausgehen, dafs ihre merk-
würdigen Eigenschaften nicht auf blofser thörichler Willkür des Autors
beruhen, sondern einen vernünftigen Grund haben. Ist das Werk, so
wie es uns vorliegt, ein jeder litterarischen Lebensfähigkeit ermangelndes
Ding, so dürfen wir schliefsen, dafs es uns nicht in der vom Autor be-
absichtigten Form vorliegt.
Die UnVollständigkeit des Inhalts und das Citat sind zwei von ein-
ander unabhängige Anstöfse. Da der Schüler sich bei der Verweisung
auf gestern nicht beruhigt, sondern um weitere Auskunft bittet, so
konnte auf keinen Fall hier das Gespräch abbrechen. Wie das Citat
auf etwas Vorausgegangenes, so weist auch der Schlufs auf etwas hin,
das noch folgen soll. Es mufste dem Schüler und damit auch dem
Leser erst zum Bewufstsein gebracht werden, dafs er gestern schon
genügenden Aufschlufs über den Gegenstand erhalten hatte. Dann erst
konnte das verheifsene (ofpekrjd-ijvai rijv öidvoiav bei ihm eintreten,
auf das die ganze Unterhaltung abzielt. Nur die von mir empfohlene
Hypothese erklärt beide Anstüfse auf einmal in einleuchtender Weise.
Bezöge sich das Citat auf einen andern, litterarisch selbständigen Dialog,
der mit dem „Agamemnon^ zusammengehörte, wie der Theaetet mit
dem Sophistes, so könnte dieser von dem Sammler aus Unachtsamkeit
fortgelassen sein. Aber der Defect am Schlufs wäre damit noch nicht
erklärt. Es müfste noch mechanische Verstümmelung des von dem
Sammler benutzten Manuscripts angenommen werden, da wir .ihm nicht
zutrauen können, dafs er ein vollständig überliefertes, wohlabgerundetes
Ganze aus freien Stücken zerstörte. Auch hätte, wenn die Analogie
Theaetet-Sophistes zutreffen soll, aus künstlerischen Gründen der Hin-
weis auf die gestrige Unterredung am Anfang des „Agamemnon^ stehen
müssen.
Wenn dagegen, wie ich annehme, der Sammler aus einer Nach-
schrift der dionischen z/ioTQißal die wichtigsten Stücke auswählte und
diese in eine Art von sachlicher Ordnung brachte, so erklärt sich sowohl
das Stehenbleiben eines Citats, das wir nicht mehr veriGciren können,
da das Stück, auf das es sich bezog, entweder anderswo untergebracht
oder garnicht aufgenommen wurde, als der abrupte Schlufs, der durch
des Sammlers Streben, Wiederholungen zu vermeiden, oder durch sein
Unvermögen, aus dem fortlaufenden Strom der Diatriben ein abge-
288 Drittes Kapitel.
schlossenes Ganze berauszuheben, bcrvorgerufeo wurde. Auf den Scblufs
unseres Agamemnon mufste der Beweis folgen, dafs nur der Weise
König ist, weil nur er die Ijtiazri^ri rwv i^eifiivwv xai ttiv xexio-
Jivfiiviov besitzt, also stets nur a €^€aTiv airq) noui, also aucb allein
avvTcev&vvog herrseben kann. Man könnte sieb sebr gut vorstellen,
dafs das Citat auf den Scblufsteil von or. 14 ginge. Dann wäre aucb
begreiilicb, dafs der Scbüler es nicbt sogleicb versteht. Ebenso mügbeb
ist es natürbcb, dafs das betreffende Stück sieb nicbt erbalten bat. In
jedem Falle mufs sieb die Fortsetzung des „Itiyafiifivwv^^ mit dem
Scblufsteil von or. 14 nabe berührt haben, und man begreift, dafs sie
der Sammler wegliefs.
Ähnliche Erscheinungen begegnen uns bei einer grofsen Zahl dio-
nischer Schriften. Die Erklärung darf also nicbt nur von dem ein-
zelnen Falle ausgeben, sondern mufs so beschaffen sein, dafs sie alle
gleichartigen Falle umfafst. Es wird daher ein endgültiges Urteil über
die Brauchbarkeit der Hypothese erst nach der Besprechung der übrigen
Dialoge gefällt werden können.
Ein zweites, dem in or. 56 gleichartiges Citat Gndel sich in or. 77.
78 {nEQi g)&6vov) § 15. Um zu beweisen, dafs der Weise nie auf
Neides Pfaden befunden wird, hebt Dio hervor, dafs er keines der Güter,
die den gewöhnlichen Menschen zur Mifsgunst Anlafs geben, hochschätzt
und für begehrenswert hält: olov örj x^^S ^^Qi ni.ov%ov ekiyofisv. —
Es liegt auf der Hand, dafs aucb dieses Citat, selbst wenn wir von
dem Ergebnis bezüglich des andern abseben wollten, nicht als blofse
Fiction gefafst werden könnte, weil kein vernünftiger Grund solcher
Fiction sich denken läfst. Wir müssen es einfach als Thatsacbe hin-
nehmen, dafs Dio am Tage vorher über das Verhältnis des Weisen zum
Reichtum gesprochen hatte. Auch diesejs Citat ist also ein vollgültiger
Beweis, dafs der Dialog kein „papierener" ist, sondern auf der münd-
lichen Lehrihätigkeit Dios beruht.
Dieselbe Rede enthält noch eine andere Stelle, die für die Beur-
teilung der Dialoge von entscheidender Bedeutung ist. Im Anfang
schlägt Dio den besiodischen Vers:
xal xsQafievg xega/ael TLOziei xai %hLTOVL tixTwv
seinem Scbüler als Gesprächsthema vor. Dieser erwidert: xal ytwg
rifidg avi^ovrat Toaovrog ox^og 7C€qI TOiovrwv dialeyofidvovg; Dio
beweist darauf, dafs in dem Vers allerdings ein bedeutsames Thema für
ethische Reflexion enthalten sei und schüefst diese Vorüberlegung mit
den Worten: ovxovv XQ^ V^'^J ^^^ anofiELQaad'at twv avögciv. Wir
Das Exil. 289
dürfen auf Grund der bisherigen Untersuchungsergebnisse unbedenklich
diese Worte benutzen, um uns von dem dionischen Gesprlichsunterricht
eine anschauliche Vorstellung zu bilden. Das Einzelgespräch wird nicht
unter vier Augen geführt, sondern in Gegenwart einer zahlreichen Co-
rona (roaovTog ox^og). Oder machte sich Diö das kindliche Vergnügen,
auf dem Papier sich eine zahlreiche Zuhörerschaft anzudichten, die er
in Wirklichkeit gern gehabt hätte? Epiktet läfst einen eitlen Philo-
sophen III 23, 19 sich rühmen, dafs er 500 oder gar 1000 Zuhörer
gehabt hat oder gar soviel wie Dio: ^Iwvog ovöinor^ ^xovaav
Toaovroi.
Wir können auf Grund dieser Stelle unterscheiden zwischen dem
engeren Schülerkreis Dios, aus dem er sich in der Regel seinen Ge-
sprächspartner wählte, und der oll sehr zahlreichen Corona, die einem
solchen Gespräch beiwohnt. Wenn Dio seinen Hörern Gespräche vor-
führen wölke, die in klarer, planvoller Entwickelung zu einem erbau-
lichen Ende führten, so mufste er sich dabei eines nicht ganz unge-
schulten Partners bedienen, der nicht mehr und nicht weniger antwortete,
als die Gesetze der Gesprächführung fordern. In unserm Falle ist es
ja unverkennbar, dafs der Gesprächspartner zu Dio in einem näheren
Verhältnis steht als die Corona. Er erinnert den Lehrer an die Rück-
sicht, die man auf die Corona nehmen mufs. Von dieser wird an-
genommen, dafs sie auseinander laufen würde, wenn das Gespräch sie
langweilte. Dio behandelt sie ziemlich von oben herab. Er. nimmt zu-
nächst an, dafs sie aocpa nai tccqI ao(pwv ijxovaiv axovGoinevoi und
will es darauf ankommen lassen, ob sich dieses günstige Vorurteil be-
stätigt: ovxovv XQV V^V ^^^ ccTCorceigaad-ac tuiv avÖQCJv. Aber wir
bemerken doch, dafs er auf seine zahlreiche Zuhörerschaft Rücksicht
nimmt. Schon von § 9 an werden die Zwischenreden des Partners
selten, um bald ganz aufzuhören. Dem in umfänglichen Perioden ein-
herschreitenden, schwungvollen Stil merkt man an, dafs der Redner die
Stimme erhebt, um einer weiten Volksmenge zu Gehör zu sprechen.
Die ganze Kunstform wird nur verständlich, wenn man an die concrete
Wirklichkeit denkt^ in der sie wurzelt
Ähnliche Erscheinungen , wie in der 56. und 57. Rede begegnen
zum Teil auch in den übrigen Dialogen. In dem Gespräch negl oLTttaTlag
(or. 74) wird die dialogische Form nur bis zur Mitte von § 2 durch-
geführt. Der dialogische Teil beträgt also wenig mehr als ein Zwan-
zigstel von dem Gesamtumfang des Stücks. Das liegt gewifs nicht daran,
dafs „die Dialektik nicht Dions Sache ist^ und „ihm daher der dialogische
T. Arnim, Oio. 19
290 Drittes Kapitel.
Athem rasch ausgeht^. So gut wie Lukian, Plutarch, Philostratus iD
ihren rein Schriftsteller ischen Dialogen, wäre, dünkt mich, auch Dio
noch allenfalls im Stande gewesen, in einem sophistischen q)g6vTiafia
die Dialogform, wie ers in der Schule erlernt hatte, kunstgerecht durch-
zuführen. Es ist hier wenig zu merken von dem y,formal rhetorischen
Interesse, das Dio am Dialoge nahm".
In dem Gespräch TteQi g)ikoaog)£ag (or. 70) ist das letzte Drittel
zusammenhängende Rede des Lehrers, in dem Ttegl ^O^nqQOv tlüi 2w-
xgdtovg (or. 55) weit über die Hälfte ; in or. 25 (negl tov dai^iovog),
die aus neun Paragraphen besteht, giebt es nur iu § 1 Zwischenreden
des Partners.
Der Mangel an abgeschlossener Ganzheit, den wir am „Agamemnon'*
beobachteten und aus der Zerstückelung des Diatribenmanuscripts durch
den Sammler erklärten, läfst sich noch für mehrere der dionischen
Gespräche nachweisen.
Or. 67 {jtegl öö^rjg ß') hat keinen regelrechten Anfang. Gleich
in den ersten Worten finden wir den Lehrer in einer Beweisführung
begriffen, ohne zu erfahren, was er beweisen will. Ehe der Lehrer
diesen Beweis antrat, mufste der Schüler über das Ziel der Untersuchung
aufgeklärt sein. Denn es genügt bei solchen Untersuchungen nicht,
dafs der Lehrer weifs, wo er hinauswill. Auch der Schüler, beziehungs-
weise der Leser mufs während der ganzen Zeit das Ziel im Auge haben.
Niemals hätte Dio in einem für litterarische Publication bestimmten
Dialog, wenn er auch noch so sehr nach abrupter NatürHchkeit des
Eingangs strebte, uns über den Gegenstand der Untersuchung im dunk-
len lassen dürfen.
Ebenso ist der Anfang von or. 70 {/tegl (piXoGocplag) zu beur-
teilen. Hier erfährt der Leser erst gegen Ende von § 6 das Thema,
nachdem er zwei Drittel des Ganzen hinter sich hat. Ein solches Ver-
fahren ist im mündlichen Unterricht wie in der Schriflstellerei gleich
unerhört. Or. 70 geht mit den Anfangsworten ipige €% rivog dxototg
gleich an den Inductionsbeweis heran. Man vergleiche, wie in or. 77
(Ttegi (p&ovov) eine ähnliche Induction § 3 ebenfalls mit qiige begonnen
wird, aber doch erst nachdem in § 2 das Thema aufgestellt war: 7C6qi
q)&6vov aal ^r]Xorv7clag xal rlveg eialv ol rtgbg aXXriXovg ovTOjg
exovreg xai e/ci tiaiv.
Auch or. 74 (Ttegi dnianiag) teilt mit or. 67 und 70 die Art von
Abruptheit des Anfangs, die nicht aus Koketterie des Verfassers, son-
Das Exil. 291
dern nur daraus erklärt werdeo kann, dafs das Stück aus seinem ur-
sprünglichen Zusammenhang gerissen wurde.
Der Mangel eines Abschlusses, den wir schon am „Agamemnon"
hervorhoben, zeigt sich in sehr auffallender Weise auch in dem Ge-
spräch 7t€Ql Tov öalfiovog (or. 25). Im Anfang wird das bekannte
stoische Paradoxon wg aga evöai/iicjy eirj /novog 6 aoq)6g ausdrücklich
als Thema aufgestellt. Der Schüler fragt den Lehrer, ob auch er diesen
Satz für wahr halte, und da dieser es bejaht, so bittet er um Aufschlufs,
was damit gemeint sei. Der Lehrer ist bereit diesen Aufschlufs zu geben.
Zuvor aber soll ihm der Schüler sagen, was er unter dem Dämon ver-
steht. Der Schüler denkt sich unter Dämon die Macht, die über eines
jeden Menschen Leben waltet und all sein Thun und Leiden bestimmt.
Auf die Frage des Lehrers, ob diese Macht im Innern des Menschen
wohne oder ihn von aufsen beherrsche, entscheidet er sich für die letz-
tere Annahme. Wenn daran anknüpfend der Lehrer in langer zusam-
menhangender Rede die Könige, Staatsmänner und Feldherren in ihrer
über dem Leben der Völker waltenden und die Geschicke der Völker
bestimmenden Macht schildert und den Schüler fragt, ob er diese mit
den Dämonen meine, von denen das Geschick der Menschen abhänge,
so ist ja, wie man auch über den voraussichtlichen Fortgang des Ge-
spräches urteilen mag, klar, dafs ein Abschlufs des Gedankenganges nicht
erreicht ist. Zu der anfcinglichen Frage des Schülers nach der Bedeu-
tung des stoischen Satzes vom Glück des Weisen ist die Untersuchung
noch nicht zurückgekehrt. Ja selbst die Vorfrage, was unter dem Dämon
zu verstehen sei, ist zu keiner positiven Lösung geführt. Denn die
ganze Rede des Lehrers über die Könige und Feldherren ist ja nichts
als eine einzige grofse Frage, auf die das erhaltene Stück die Antwort
schuldig bleibt. — In irgend einer Form mufste schliefslich der Nach-
weis des stoischen Paradoxon erbracht werden. Vermutlich geschah
dies in sehr ähphcher Weise wie in or. 23 {ozi eiöai/iwv 6 aoq^og).
Das veranlafste den Sammler, die Fortsetzung wegzulassen. Ihn hatte
offenbar die Auffassung der Staatsmänner und Feldherren als guter und
böser Dämonen als etwas neues und originelles interessirt und ihn be-
wogen , or. 25 in seine Sammlung aufzunehmen. Er übersah dabei,
dafs es sich hier nicht um ein Stück dionischer Lehre handelt, sondern
lediglich um eine Gesprächsepisode, die aus dem Bestreben, an die ge-
wöhnlichen Vorstellungen der Menschen anzuknüpfen, faervorgewacbseD
jedes positiven Lehrgehalts entbehrt
Auch das merkwürdige Gespräch tccqI xdkkovg (or. 21) ermangelt
19*
292 Drittes Kapitel.
der abgeschlossenen Ganzheit. Der Nachweis ist hier nicht so leicht zu
führen, weil die Unterhaltung keinen wissenschaftlichen Charakter tragt,
sondern mehr nach Art einer zwanglosen Plauderei rechts und links
vom Wege abschweift. Diese den IfArtlmovreg Xoyot folgende, schein-
bar in lauter Abschweifungen sich vorwärts bewegende Darstellung ist
recht eigentlich dionisch. Nur im Dialog wirkt sie ncfti und über-
raschend. Nach Analogie der grofsen Epideixeis der dritten Periode ist
diese Eigentümlichkeit zu beurteilen. Läfst man diese Analogie gelten,
so ist zu fordern, dafs die Irrfahrten des Redners {/tkavaad'ai Iv Tolg
loyoig) schliefslich doch unvermutet zu einem würdigen Ziele hinführen.
Dies wird jeder fordern und erwarten, der mit mir or. 21 zu den
ethischen Dialogen rechnet und für ein Werk des Philosophen Dio hält.
Dies ist freilich nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Denn das
meiste was in dem Gespräch gesagt wird, hat wenig mit Philosophie zu
schaffen. Die Begeisterung für Jünglingsschönheit erinnert an Melan-
komas. Aber es ist wenigstens eine Stelle vorhanden, aus der mit
Sicherheit hervorgeht, dafs Dio in der Rolle des Philosophen auftritt.
Ich meine die Bemerkung des Gesprächspartners in §10: av fikv ael
koyovg avBVQloxeig, loaxe öiaavQecv tcc tcSv avd'QWTCwv u. s. w. Das
diaovQUv %CL Twv avd'Qwrtwv ist eine Gepflogenheit, die den kynischen
Philosophen charakterisirt. Das Xoyovg avevQlaxeiv, um die Eitelkeit
des menschlichen Dichtens und Trachtens zu erweisen, kommt ihm
allein zu. Dem Sophisten Dio, dem Dio der vespasianischen Zeit, konnte
niemand mit einem Schein des Rechtes diesen Vorwurf machen. Auch
die Antwort des Lehrers auf diese Worte zeigt, dafs er in seiner Eigen-
schaft als Philosoph das Gespräch führt: lawg yaQ fiov xaratpgovelg
xal fiyij [le XriQeiv, ort ov Ttegl Kvqov xalWixißidöov kiyw, tuarteg
ol aoq>ol, €Ti xal vvv, akka Nigwvog xal toiovtwv ngayfianov
vewrigwv t€ xal ado^uiv /ivi]fjiov€viü. Der Sprecher konnte doch nur
dann seinem Partner durch die Bezugnahme auf moderne Personen und
Ereignisse Anstofs geben, wenn er ihm als philosophischer Lehrer gegen-
über stand und als solcher an die Kleiderordnung philosophischen Ge-
sprächsunterrichtes gebunden war. Für gewöhnliche Alltagsgespräche
hat die Regel: agxalov rivog öei ngayiiaxog doch nicht gegolten,
sondern nur für diejenigen Gespräche, die berufliche Leistungen sind,
d.h. für die der Philosophen. Auch erinnern die Namen Kyros und
Alkibiades jeden sofort an die Sokratik. Wenn im Anfang des ^Aga-
memnon" (or. 56) der Schüler gefragt wird, ob er nicht etwa gegen
die Nennung Agamemnons in dem Gespräch etwas einzuwenden habe.
Das Exil. 293
so ist das nicht io Widerspruch mit unserer Stelle, sondern ein voll-
kommenes Seitenstück zu ihr. Beidemal liegt die Pointe darin, dafs die
Wahl des geschichtlichen oder SagenslofTes, an dem eine ethische Wahr-
heit demonstrirt wird, etwas äufserliches und nebensächUches ist. Auch
diese Berührung mit einem Gespräch zweifellos philosophischen Inhalts
zeigt, dafs or. 21 (tcsqI xaklovg) den übrigen Diatribengesprächen
gleichsteht.
Übrigens sprechen auch die historischen Anspielungen für Abfas-
sung in domitianischer Zeit und somit indirect für die philosophische
Tendenz. Nachdem in § 6 — 9 erzählt ist, wie Nero durch gewisse Ver-
irrungen selbst seinen Sturz beschleunigt hat, heifst es in §10: die
näheren Umstände seines Todes sind auch heute noch nicht aufgeklärt.
Andernfalls (d. h. ohne jene Verirrungen) stände nichts im Wege, dafs er
die ganze Zeit seither KOnig wäre. Wünschen doch auch heute noch alle,
dafs er am Leben wäre; und die meisten glauben es sogar, obgleich er
doch in gewissem Sinne nicht einmal den Tod erlitten hat, sondern
oft, samt denen, die allzufest daran glaubten, dafs er lebe.*)
Besonders wichtig sind hier die Worte : ov ye xai vvv %xl Ticcvreg
i7ci&v/Ä0vai Zrjv ol dh TtXeiotoi 'Aal oXovzau Dafs damals, als der
Redner diese Worte sprach, alle wünschten, Nero lebte noch, ist eine
aller Wahrheit und Wahrscheinlichkeit widersprechende Obertreibung,
in der eine Bosheit gegen den jetzt regierenden Herrscher nicht zu
verkennen ist. Dio konnte so nicht sprechen', wenn ein von ihm als
tüchtig anerkannter Herrscher an der Spitze des Staates stand. Wir
sind um so mehr berechtigt dieses Tcavteg zu urgiren, weil es durch
die Gegenüberstellung von ol de Ttkelözoi gestützt wird. Nur unter
Domitian konnte Dio sich so ausdrücken. Er will zu verstehen geben,
dafs selbst eines Nero Regiment der Menschheit jetzt als „ein Loos aufs
innigste zu wünschen" erscheint, seit sie unter einer härteren Zucht-
lute seufzt. Seine tiefe Erbitterung gegen Domitian klingt durch diese
W^orte hindurch.
Ferner müssen die Worte: oiölv hciukvev avtov ßaaileveiv xov
oLTtavza xQovov zu einer Zeit gesprochen sein, wo Nero, wenn er nicht
eines gewaltsamen Todes gestorben wäre, der Wahrscheinlichkeit nach
1) a.a.O. §10: xal ^vdyxaaav ör<p nork rQÖntp anoXia&ai adröv* <yö8intü
yä.q xai vOv to€tö ye drjXöv ianv inel rßv ye äXXtov ivexev oiShv ixdtXvev
avr&v ßaaiXeiSeir räv änavra pf^xfvoy, (^öv) ye xal vüv in ndvres ini&v/uoifai
^fjv. ol Si nXeXorot xal otovrai^ xaineQ r^önov rivd o^x änai adroü re&pfi-
xÖTOif dXXa TtoXXdxiS fterd rdäv a^öSga olrj&irriov aitdv ^ijr.
294 Drittes Kapitel.
leben konnte. Denn der Snag xQovog ist nicht die ganze Zeit über-
haupt, sondern die ganze Zeit vom Jahre 68 bis zum Tag des Gesprüches.
Da Nero, als Domitian starb, ungefcihr 60 Jahre alt gewesen wäre, so
ist auch aus diesem Grunde unwahrscheinlich, dafs die Äufserung Dies
später f^llt Auf einen altersschwachen Greis hätten auch die Unzufrie-
denen keine Hoflnungen mehr setzen können. Andererseits scheinen die
Worte ovÖ€7cco yaq xal vvv und tov artavTa XQOvov und xai vvv exi
auf eine beträchtliche Reihe von Jahren zu deuten, die seit dem Sturze
Neros verflossen sind. Noch deutlicher wird dies durch die folgenden
Worte, in denen eine Anspielung auf die falschen Neronen enthalten
ist. Nicht einmal, sondern oft ist Nero gestorben, samt denen, die all-
zufest glaubten, er lebe. Das kann nur heifsen : es sind mehrere Kron-
prätendenten aufgetreten, die sich für Nero ausgaben; aber alle haben
samt ihren Anhängern das Wagnis mit dem Tode büfsen müssen. Der
erste der falschen Neronen war schon im Jahre 69 aufgetreten. Seine
Geschichte erzählt Tacilus Hist. II 8. 9. Cass. Dio 64, 9. Dies giebt uns
keinen genügenden terminus post quem; denn vor dem dionischen Ge-
spräch müssen mehrere Aufstände falscher Neronen unterdrückt worden
sein. Selbst wenn nokXaAig ein übertreibender Ausdruck ist, kann er
doch nicht weniger als „dreimal" bedeuten. Es haben auch noch meh-
rere derartige Aufslände aufser jenem ersten stattgefunden, wie aus den
Worten des Tacitus a. a. 0. c. 8 : ceterorum casus conatusque in contextu
operis dicemus hervorgeht. Denn die ceteri, von denen Tacitus im Forl-
gang seines Werkes handeln wollte, müssen zum mindesten zwei gewesen
sein. Aber die geschichtliche Überlieferung hat nur noch von einem
weiteren „falschen Nero", wie es scheint, Kunde bewahrt. Zonaras
Chron. XI 18 (d. h. Cass. Dio) berichtet von einem Asianer Terentius
Maximus, der unter Titus auftrat. Er glich dem verstorbenen Kaiser in
Geslalt und Stimme und war, wie er, ein Virtuos auf der Cither. Er
sammelte sich in Asien einen Anhang, der noch bedeutend wuchs, als
er sich an den Euphrat begab. Schliefslich sah er sich genötigt, zu dem
Partherfürsten Artabanos zu fliehen, der ihn aus Hafs gegen Titus auf-
nahm und sich rüstete ihn nach Rom zurückzuführen. An der Richtigkeit
dieses Rerichtes kann nicht gezweifelt werden. Die Notiz über Artabanos
und seinen Hafs gegen Titus zeigt, dafs kein Irrtum in der Datirung vor-
liegt. In der Thal haben wir Münzen mit dem Namen des Artabanos aus
dem Jahre 80/81.*) Ebenso wenig aber wird man von der Angabe
1) Mommsen Rom. Gesch. V 397, 1.
Das Exil. 295
SuetODs etwas abdingen können, der am Schlufs seines „Nero^, als Be-
weis für die in manchen Teilen der Bevölkerung lange fortdauernde
Beliebtheit des Kaisers, erzählt: Noch zwanzig Jahre nach Neros Tode,
als er (Sueton) im JüngUngsalter stand, sei ein Mensch von unbekannter
Herkunft aufgetreten, der sich für Nero ausgab; und so beliebt sei noch
damals der Name Neros bei den Parthern gewesen, dafs der Prätendent
bei ihnen kräftige Unterstützung fand und seine Auslieferung kaum zu
erlangen war.')
Die Angabe der Jahreszahl darf keinesfalls als eine ungefähre oder
abgerundete betrachtet werden. Denn Sueton will ja gerade zeigen,
wie lange das Andenken Neros sich erhalten hat. Also hat die Zahl,
dem Zusammenbange nach, einen Hauptton im Satze. Auch zeigt die
Hinzufügung von „adulescente me'% dafs Sueton eine persönliche Erinne-
rung an jene Ereignisse bewahrt und sich die Zeitverhällnisse klar ver-
gegenwärtigt. Wir kommen also auf das Jahr 88 oder frühestens 87.
Unter Titus war Sueton noch nicht adulescens, denn noch Vorkomm-
nisse der domitianischen Zeit hat er, nach seiner eigenen Angabe, als
adulescentulus erlebt (Domit. 12).
Wir sind also vor die Wahl gestellt, entweder den falschen Nero
des Zonaras von dem des Sueton zu unterscheiden — dann ist höchst
auffallend, dafs beide die Unterstützung der Parther gefunden haben,
die auch Tacitus Hist. I 2 erwähnt — oder sie für eine und dieselbe
Person zu halten — dann ergäbe sich, dafs der Betrüger, dem man wie
allen seinesgleichen nur ein ephemeres Dasein zutrauen möchte, seine
Rolle vom Jahre 80 bis ai^um Jahre 88 gespielt hätte. Beides hat sein
Bedenken. Aber wie man auch in dieser Frage entscheiden mag, sicher
ist, dafs das Gespräch Tcegi xaA.A.ot;g erst nach der Auslieferung und
Hinrichtung des letzten Prätendenten entstanden ist, dafs also das Jahr 87
(resp. 88) für dieses als tertninus post quem gellen darf. W-enn es sich
um zwei verschiedene Prätendenten handelt, so würde doch erst durch
den Tod des zweiten das ftoXlamg T€&vr^xojg Dios gerechtfertigt sein,
wenn wir an der Dreizahl als dem Mindestmafs der Vielheit festhalten.
Ist dagegen bei beiden Schriftstellern dieselbe Person gemeint, so müfste
man, um Dios Äufserung und die des Tacitus Hist. H 8 zu rechtfertigen,
einen dritten Prälendenten zwischen den des Jahres 69 und den der
1) SoeL Nero 57: denique cum pott viginti annos, adulescente me, exlitittet
condieionis incertae qui te Neronem esse iactaret, tarn favorabile notnen eins
apud Parthos fuit, ut vehementer adiutus et vix redditus sit.
296 Drittes Kapitel.
Jahre 80 — 88 einscbieben, von dem die Oberlieferung keine Kunde
mehr giebt. Ich halte diesen letzteren Weg für den richtigen. Denn
wenn zwei falsche Neronen von den Parihern thatkräflig unterstützt
worden wären, so waren die Worte Bist. 1 2 : mota prope etiam Partho-
rum arma fdUi Neronis ludibrio zweideutig gewesen.
Man kann wohl noch einen Schritt weiter gehen und die Ab-
fassung des dionischen Gesprächs fccQi Tcakkovg um 88 als wahrschein-
lich bezeichnen. Denn die Bezugnahme auf die falschen Neronen war
durch den Gedankengang des Gesprächs nicht gefordert. Es genügte
die sittliche GeHihrlichkeit schrankenloser i^ovala am Beispiele Neros
darzulegen. Was weiter über ihn gesagt wird, ist eine Abschweifung,
die sich am leichtesten erklärt, wenn der Gegenstand durch die neuesten
Ereignisse in Umlauf gebracht war. Übrigens dürfte auch der Glaube
und die Hoffnung des Volkes das Ende dieses letzten der falschen
Neronen nicht lange überlebt haben.
Wenn es nunmehr als feststehend geken darf, dafs das Gespräch
7t€Ql Tcakkovg aus der Zeit stammt, wo Dio als philosophischer Wander-
lehrer thätig war, so dürfen wir auch annehmen, dafs die philosophische
Tendenz ursprünglich klarer zum Ausdruck kam, als es in dem erhal-
tenen Stücke geschieht.
Der Gang des Gesprächs ist kurz folgender: Der Anblick eines
hochgewachsenen, in herber Schönheit prangenden Jünglings veraulafst
Dio zu der Bemerkung, dafs man diese Art von Schönheit wohl bei
alten Statuen, aber nicht mehr bei dem lebenden Geschlecht zu sehen
bekomme. Auf die verwunderte Frage seines Schülers, ob denn, wie
wohl die eine oder andere Tierart, so auch die Schönheit aussterbe,
schränkt Dio seinen Satz auf die männliche Schönheit ein. Weibliche,
meint er, sei eher im Übermafs vorhanden. Schöne Männer hingegen
giebt es heutzutage selten und die es giebt, werden kaum beachtet.
Darum werden sie auch bald ganz aufhören. Denn auch die Schönheit
mufs Anerkennung finden, wenn sie gedeihen soll. Die auf einseitiger
Hochschätzung weiblicher Schönheit beruhende Geschmacksrichtung, die
auch am Manne das weibähnliche schön Ondet, ist eine unhellenische
Verirrung. Sie findet sich bei den Persern und anderen Barbaren-
völkern. Bei den Persern hat sie ihren Grund in einer Erziehungs-
methode, die den Knaben und Jüngling unter Leitung von Weibern
und Eunuchen heranwachsen läfst, statt ihn mit den anderen Knaben
und Jünglingen in gymnastischen Übungen zu tmnmeln. Aber niclit
nur falsche Erziehung, sondern auch schrankenlose Macht führt zu
Das Exil. 297
solchen VerirruDgen, wie das Beispiel Neros beweist, der seinen Lust-
knaben zum Weibe machen wollte. Nachdem Dio sich ironisch ent-
schuldigt hat, dafs er statt altberühmter Namen ein so modernes Beispiel
gewählt hat — durch jenen äufserlichen Archaismus, der sich in der
Nennung der Alten gefüllt, gelingt es ja doch nicht, den Geist der
Alten einzufangen — , wird durch den Schüler das Gespräch auf den
schönen Jüngling zurückgebracht, von dem es ausgegangen war. Wer,
fragt er, und wessen Sohn ist er, dessen mit Scham gepaarte Schönheit
dem Betrachter, auch wenn er von Natur schamlos ist, Schamgefühl
einilöfst. Dio erläutert, dafs die durch den Anblick solcher Schönheit
eingeflörste Scham ein blofser Reflex und deshalb unstet und ohne
Dauer sei. Übrigens sei jener Knabe Niemandes Sohn. Wie? fragt der
andere, ist er der Sparten einer? Dio erwidert: Allerdings hat er mit
jenen, von ihrer Rohheit und Wildheit abgesehen, grofse Ähnlichkeit,
durch seine Gröfse und Mannhaftigkeit und namentlich durch den
boiotischen Typus seiner Schönheit. Die letztere Bemerkung führt zu
der Frage, ob es national differenzirte Schönheitstypen giebt. Dio
schickt sich an, dies zu beweisen. Aber er gelangt nur bis zu der
einfachen Behauptung, dafs ein Unterschied sei zwischen der hellenischen
Schönheit eines Achill, Menelaos, Patroklos, Nireus und der barbarischen
eines Ilektor, Alexandros, Euphorbos, Troilos. Hier bricht das Ge-
spräch ab.
Dafs kein Äbschlufs erreicht ist, liegt auf der Hand. Die zuletzt
behandelte Frage der nationalen Schönheitstypen ist in Angriff ge-
nommen, aber zu keiner befriedigenden Lösung geführt. Dafs ein
Unterschied zwischen hellenischer und barbarischer Schönheit besteht,
hatte der Schüler bezweifelt. Es mufste also bewiesen werden. In
der blofsen Aufzählung einiger hellenischer und einiger barbarischer
Sagenhelden ist ein Beweis dafür nicht enthalten. Man erwartet und
fordert eine generelle Bestimmung, welcher Art dieser Unterschied ist
und worauf er beruht. Aber auch das Motiv des nächst voraufgehenden
Abschnitts: oti ovtog TOiovtog wv ovöevog loriv ist nicht voll entfaltet.
Es mufste später darauf zurückgegriffen und das ovöevbg elvai^ das der
Schüler nicht verstand, erklärt werden. Aber auch das Gespräch als
Ganzes betrachtet entbehrt des Abschlusses. Dem ersten negativen Teil,
der die physische Entartung der hellenischen Race auf moralische und
culturelle Ursachen, vor allem auf TQvqii] und i^ovala zurückführt,
wird doch wohl ein positiver Teil gefolgt sein, der die moralischen und
culturellen Bedingungen für das Gedeihen der Race an dem Beispiel
298 Drittes Kapitel.
jenes Jünglings entwickelte. Dafs Dio bei seinen stoischen Vorbildern
Gedanken dieser Art finden konnte, zeigt die bekannte Schilderung eines
tugendsamen Jünglings, die uns Clemens Paedagog. 111 11p. 296 P* aus
einer Schrift Zenons, vielleicht der igiorixt] t^vij, erhalten hat. Nach
Diog. La6rt. Vll 129 lehrte Zenon: xai egaa&i^aead'aL 6k tov aog)dv
%u}v viix)v Twv ejLicpaivovTtüv dia zov eiöovg zijv TtQog ctQezriv
evq)vtav. Also die natürliche Begabung zur Tugend spricht sich in
der äufseren Gestalt der Jünglinge aus. Die Schönheit eines solchen
evq)vrjg Tcgog ägeri^v wird in dem Bruchstück bei Clemens geschildert.
Das Ideal von JünglingsschOnheit, das Dlo im Auge hat, ist ofTenbar
mit dem zenonischen identisch: alöcjg (xev iTtavd-eLxia xai aggsvcüTtla. —
Hierdurch ist das Thema des dionischen Gesprächs als ein dem stoisch-
kynischen Popularphilosophen angemessenes erwiesen, und wir dürfen
mit um so gröfserer Sicherheit voraussetzen, dafs es zu einem moralisch
erbaulichen Ende geführt wurde.
Das Ergebnis unserer Untersuchung der dionischen Dialoge dürfen
wir dahin zusammenfassen, dafs sie eine Reihe höchst befremdlicher
Eigenschaften zeigen, die uns, so lange wir sie mit Hirzel als „papierne
Dialoge" betrachten, rätselhaft bleiben, sobald wir sie dagegen als ächte
Diatribengespräche, als Niederschläge der mündlichen Lehrthäligkeit Dios
betrachten, alles auffallende verlieren. Hätte Dio diese Gespräche selbst
publicirt, so wäre ganz unerklärlich, wie so viele unter ihnen in der
eben geschilderten Weise verstümmelt werden konnten. Meine Hypo-
these giebt eine einheilliche Erklärung nicht allein für den bei vielen
beobachteten Mangel an abgeschlossener Ganzheit, sondern auch für
die Citate und für den Wechsel von Gespräch. und zusammenhängendem
Vortrag. Gr. 14 bildet das Bindeglied zwischen ihnen und den öiali^eig.
Es ist wahrscheinlich , dafs alle diese kleinen Stücke aus den Nach-
schriften der JUovog diarißal von dem Sammler ausgelesen wurden.
Ist aber dies richtig, so darf auch die für einzelne dieser Stücke nach-
gewiesene Entstehung in der Exilszeit für die ganze Gruppe angenommen
werden. Die Lehrweise, auf der diese Stücke beruhen, ist die nach
innerer Wahrscheinlichkeit und dem Zeugnis der 13. Rede für die
Exilszeit vorauszusetzende.
Der Inhalt ist der Herkunft nach nicht einheitlich. Bald fühlt
man sich an kynische, bald an stoische Vorbilder erinnert, bald bewegt
man sich auf rein sokratischem Gebiet. Aber diese Verschiedenheiten
sind nicht Widersprüche. Sobald man von den Unterscheidungslehren
der theoretischen Philosophie absieht und nur die Grundgedanken der
Das Exil. 299
Elhik ins Auge fafst, besteht eine ununterbrochene Tradition von So-
krates durch den Kynismus zur Stoa. Auch die Stoiker haben den
Sokrates als ccQxvyoQ ihrer Philosophie anerkannt. Als Popularphilo-
soph war Dio berechtigt, indem er sich auf dem Kynismus und Stoa
gemeinsamen Gebiet bewegte, auch auf die allgemein sokratischen Grund-
gedanken zurückzugreifen, aus denen die kynische und stoische Ethik
erwachsen war. Richtig ist, dafs in manchen Stücken, namentlich in
den Diogenesreden, mehr die praktische Übung der Seelenstdrke , die
Forderung des bedürfnislosen, naturgemäfsen Lebens, der Kampf mit
ftovog, Tjdovi] und tvq)og betont wird, während in anderen der Begriff
<ler (fQovrjaig als der klaren Einsicht in die Aufgabe und den Zweck
des menschlichen Lebens im Mittelpunkt steht. Möglicherweise sind
jene Stücke die früheren, diese die späteren. Aber eine principielle
Verschiedenheit des Standpunkts ist darin nicht zu erkennen. Wir
müssen darauf verzichten, innerhalb der Exilszeit verschiedene Ent-
wicklungsstufen Dios nachzuweisen. Wir können auch nicht die Reihen-
folge der diaXi^eig und didkoyot im einzelnen bestimmen. Aber dafs
ihm zunächst die praktische Askese die Hauptsache war und erst all-
mählich sein Interesse auch den theoretischen Problemen sich zuwandte,
ergiebt sich mit Notwendigkeit aus den Bedingungen seiner Entwicklung
zum Philosophen. Am Ende seiner Verbannungszeit trägt er den Be-
wohnern von Borysthenes die stoische Kosmologie vor.
Ein Unterscheidungsmerkmal des früheren und späteren im Stil zu
finden, ist mir nicht gelungen.
Nicht alle dcaXi^eig haben den knappen, einfachen, schUchten
Stil. Manche sind ganz nüchtern und schmucklos (z. B. or. 68 n€Ql
So^r^g y, 69 tvsqI aqexiig^ 7 1 jceqX q)Uoo6cfov, 24 neql evöaifxovLag) ;
andere sind mit Witz gewürzt (z. B. or. 65 tcbqI öo^r^g a, 16 Tteql Xv-
TtYjg) ; wieder andere reden eine schwungvolle, hochtönende, fast enthusi-
astische Sprache. Als Musterbeispiel der letzten Gattung darf der Schlufs-
teil des Gesprächs tcsqI (p&ovov gelten. Hier ist der Stil ein durchaus
rhetorischer, wenn auch nicht in dem Sinne, wie der der rhodischen Rede.
Man fühlt sich an die grofsen IradeL^eig der dritten Periode erinnert.
Dieser Stil setzt voraus, dafs Dio zu einer grofsen Versammlung redet.
Aber alle diese Unterschiede sind für die zeitliche Anordnung unver-
wertbar. Eine besondere Gruppe unter den Dialogen bilden die, welche
die ethische Belehrung an einen Stoff aus der Heldensage anknüpfen:
Agamemnon, Deianeira, Chryseis. Da diese Stücke oft mifsverstanden
werden, ist es vielleicht nicht überQüssig zu betonen, dafs der Sagen-
300 Drittes Kapitel.
Stoff für Dio keine andere Bedeutung hat, als die einer altbekannten
Geschichte, eines in den Seelen aller Hörer bereit liegenden Vorstellungs-
stoffes, an den er bequem anknüpfen kann, .was er zu sagen hat. Die
Umbildung, die in „Deianeira" und ,,Chryseis^ mit der überlieferten
Sage vorgenommen wird, ist natürlich nicht als ernstgemeinte ratio-
nalistische Sagenkritik aufzufassen, sondern als freies willkürliches Schal-
ten mit einem praktisch brauchbaren, aber an sich dem Autor ganz
gleichgültigen Stoff. Als am Schlufs der „Chryseis^^ die Gesprächspart-
nerin zwar dem Lehrer seine Folgerungen zugiebt, aber doch mit einem:
el ravTa ovta) yiyove Zweifel an der thatsächlichen Richtigkeit der
yon ihm entwickelten Form der Geschichte ausdrückt, erwidert er: ov
dh Ttoxeqov anoveiv d'iXoig av log yiyovev ovtwg rj ortcjg xakiug
bIxb yevio&ai; Darin ist deutlich ausgesprochen, dafs der Philosoph
nur mit dem Gesprächsstoffe spielt. Weit entfernt den wahren Sach-
verhalt der Geschichte ermitteln zu wollen, ist er bei seiner ganzen
Behandlung der Sage nur von dem Bestreben geleitet, ihr eine erbau-
liche Wendung zu geben. Noch deuthcher ist dies in dem Schlufsab-
schnitt der „Deianeira" ausgedrückt. Der Philosoph gleicht dem Töpfer,
der den Thon in seine Formen prefst. Was du ihm auch für Thon
geben magst, es sind doch immer wieder dieselben Formen, zu denen
er ihn gestaltet. Auch die Mythen sind für Dio nur Thon, der sich
gefallen lassen mufs, in die gegebene Form des ethischen Dogmas
hineingeprefst zu werden. Die Art, wie in der Trojana die überlieferte.
Sage umgebildet wird, ist ebenso willkürlich und ebenso wenig von dem
ernsthaften Bestreben geleitet, die Wahrheit zu ermitteln. Der Unter-
schied liegt nur darin, dafs die Umbildung dort rein epideiktischen
Zwecken dient, während in „Deianeira'* und „Chryseis" der Zweck ein
ethischer ist. Ganz in demselben Sinne ist es aufzufassen, wenn der
Dialog „über Homer und Sokrates*' Homer als Lehrer der Ethik er-
weist und einzelne seiner Erzählungen erbaulich interpretirt. Wenn
in anderen Vorträgen, z. B. im Euboicus, Homer samt den übrigen
Dichtern als Vertreter der gewöhnlichen Meinung behandelt wird, so
darf man darin keinen Widerspruch Dios mit sich selbst finden. Ob
der Popularphilosoph seine Weisheit in den Dichter hinein interpretirt
oder sie im Kampf und Widerspruch gegen eine Dichterstelle entwickelt
ist ein formal methodischer Unterschied, der den Kern seiner Predigt
unberührt läfst.
Wir haben die Lehithätigkeit Dios während der 14 Jahre des Exils
und ihre hauptsächlichsten litterarisQhen Niederschläge dem Leser vor-
Das Exil. 301
geführt« Es hat sich ergeben, dafs das Hauptgewicht in dieser Zeit auf
die mündliche Lehrlhätigkeit fiel und dafs das litterarische Dasein der
Vorträge Dios aus dieser Epoche nur ein secundäres ist. Für ihre ge-
schichtliche Würdigung ist dies eine Thatsache von grundlegender Be-
deutung. Es soll damit keineswegs geleugnet werden, dafs Dio neben
den diatribischen Dialexeis und Dialogen gelegentlich auch schrift-
stellerische Erzeugnisse in die Öffentlichkeit gelangen liefs. Or. 45 § 1
rühmt sich Dio, dafs er als Verbannter seinen kaiserlichen Feind durch
Angriffe gereizt habe: rä nQoaovxa ma'Ka ^a dC ov inikXiov vvv
igeiv ij yQcixjjeiv, aXX' elQtjXiig tjöri xal yeyQaqxog, xal
TOVTwv TcavTaxfi xwv Xoytav xai zwv yqafxfxazwv ovtwv.
Hier wird zwischen Xoyoc und yq^miaxa scharf unterschieden und
yeyQacpdg beweist, dafs Dio selbst Schriften gegen Domilian verfafst
und veröffentlicht hatte. Aber von diesen Schriften hat sich nichts er-
halten. Immerhin ist klar, dafs Dio, wenn er zu Studien und schrift-
stellerischen Arbeiten Mufse finden wollte, nicht die ganzen 14 Jahre
hindurch als Vagant leben konnte, sondern zeitweise ein sefshaftes Leben
führen mufste. Es war dies auch nötig für die Vertiefung seiner phi-
losophischen Studien. Zwar blieb er stets ein avTovqyog xrig oocplag
(or. I § 1). Er hatte sich in keiner der Schulphilosophieen mit dem
Aufwand von Fleifs und jahrelangem Studium, die im Allgemeinen für
nötig gehalten wurden, eine gelehrte Berufsbildung erworben. Er wäre
nicht im Stande gewesen, eine philosophische Professur in der her-
kömmlichen Weise zu verwalten. Aber die Schriften der dritten Periode
enthalten manche Beweise dafür, dafs er sich nicht mit der populär-
philosophischen Ethik begnügt, sondern sich eine umfassendere Welt-
anschauung anzueignen versucht hatte. Dieser Umstand ist geeignet,
unsere Vorstellung von seinem Vagantenleben einzuschränken. Aber
es bleibt darum doch nicht minder wahr und glaubwürdig, was er or. 12
§ 16 sagt: üioTteQ xal zov aXXov xQovov ITijxor aXwfxevog.
Von Dios Irrfahrten ist uns keine andere so wohl bekannt und
zugleich so bedeutungsvoll, wie die nach Skythien und Dacien, die in
die letzte Zeit seines Exils fällt. Auf sie beziehen sich die Worte des
Orakelspruches or. 13 §9: ^wg av Inl t6 ioxatov aniXd'ißg r^g yrjg.
Durch diese prophetischen Worte wird deutlich die Reise nach Skythien
als der letzte abschliefsende Act von Dios Irrfahrten bezeichnet. Auch
die Worte Hierosons in der Borysthenitica §25, in denen er dem Dio
baldige glückliche Heimkehr wünscht, haben ihre Pointe darin, dafs der
fromme Wunsch in Erfüllung gegangen war. Der Tod Domitians und
302 Drittes Kapitel.
die Restitution Dios waren dieser Reise auf dem Fufse gefolgt. Dafs
die skythische Reise noch in die Exilszeit fiel, ist auch dem Philostratus
bekannt, wenn er von Dio sagt: xai yaQ örj xal ig rirag ijXd'ev,
OTCote tjlaTO, Man mufs diese zweifellos feststehende Thatsache im
Gedächtnis behalten, um die Eingangsworte der Borysthenitica richtig
zu beurteilen, in denen Dio von seiner Reise erzählt: eTvyx^^ov fihv
i7tidrif.iu)v Iv BoQVö&ivei to -d-iQog, wg z6%e elai7ti.evöa [iiera Ttjv
(pvyrjv], ßovXofjiivog kX&elv, eav dvvwinai, öia JSxv&aiv eig rdtag,
OTüwg &eaa(s)fxaL Taycel ngay/iaTa OTiold ioTi. Die eingeklammerten
Worte f,i€Ta ttjv (pvyrjv können nicht echt sein. Denn sie widersprechen
der durch die Borysthenitica selbst §25 bezeugten Thatsache, dafs Dio
als Verbannter nach Borysthenes kam. Das ev nqa^avTa oXKoöe xarel"
d-eiv Trjv TaxloTrjv kann nur auf die Restitution bezogen werden. Nur
dann konnte Ilieroson dem hochwillkommenen Gaste sagen: „wir wün-
schen selbst nicht, dafs du lange bei uns bleibst ,'' wenn sein Besuch
ein wenigstens halb unfreiwilliger war. Die Worte ^eta ttjv q)vyrjv
können nur bedeuten: nach dem Ende des Exils, nach der Restitution.
Sie sind also aus dem Context der Rede zu entfernen. OfTenbar bildeten
sie ursprünglich einen der Überschrift oder am Rande beigefügten Ver-
merk, der ganz ebenso aufzufassen ist, wie das tcqo T'^g q)vy^g in der
Überschrift von or.46. Man vergleiche die Worte des Synesius II p.316, 14
meiner Ausgabe: öio ^oi doxei xaXaig ejfciy hciyQaq^etv ixTtaai toig
JLwvog koyotg, otl „tvqo rrjg cpvy^g'' rj „g^iera xriv q)vy7jv'% oix olg
ifiq)alv€TaL fnovoig fj (fvyr^, yM^aneg kuiyQaxpav ijörj tivig, aXX*
a7ta§d7caaiv. Synesius hatte also nicht nur den Vermerk tcqo Trjg
q>vyfjg, sondern auch /.lerd ttjv cpvyriv in seiner Ausgabe einigen Reden
beigefügt gefunden; und zwar konnten die Reden olg i^fpalverac r-
(pvyrj natürlich nur den letzteren tragen. Zu ihnen gehörte wegen der
Worte Hierosons in § 25 auch die Borysthenitica, Wir dürfen also die
Worte ^lerd ttjv cpvyriv mit grofs^er Zuversicht als in den Text gedrun-
gene Randbemerkung deuten.
Aus den Eingangsworten der Borysthenitica geht hervor, dafs Dio
die Reise unternahm, um in das Land der Geten d. h. der Dacier zu
gelangen. Zu Schiff fuhr er nach Borysthenes, um von dort aus durch
das Skythenland, wenn irgend möglich, nach Dacien vorzudringen. Als
Zweck der Reise giebt Dio reine Wifsbegierde an. Er wollte die Ver-
haltnisse in Dacien aus eigener Anschauung kennen lernen. Um sein
lebhaftes Interesse an diesem Volk und Staat zu erklären, erinnern wir
uns der überraschenden Erfolge, die sie wenige Jahre früher über die
Das Exil. 303
Römer davongetragen hatten. Es war hier plötzlich eine Macht er-
standen, die dem römischen Imperium gefährlich zu werden begann.
Zwei römische Heere unter Oppius Sahinus und Cornelius Fuscns
waren von den Daciern geschlagen worden. Beidemal hatten die Feld-
herren seihst in der Schlacht den Tod gefunden. Dann hatten die Römer
unter Tettius Julianus Erfolge errungen, aber bald darauf hatte sich
Domitian, durch seine Niederlage gegen die Jazygen, genötigt gesehen,
einen schimpflichen Frieden mit den Daciern zu schliefsen ^ indem er
sich zur Zahlung einer jahrlichen Abstandssumme verpflichtete, wogegen
die Dacier künftig die römische Provinz Mösien in Ruhe zu lassen ver-
sprachen. Diese Ereignisse waren dazu angethan, die Aufmerksamkeit
der ganzen römischen Welt auf dieses Volk zu richten, das auch nach
dem Friede nsschlufs eine fortdauernde Gefahr für die Provinz Mösien
bildete. Aber dieses allgemeine Interesse reicht doch nicht aus, um
Dios Reiseplan verständlich zu machen. Die eigentliche Erklärung liegt
in der Vorliebe des culturmüden Naturalisten für das in ungebrochener
Naturkraft emporstrebende Barbarenvolk. Die bei Jordanes erhaltenen
Reste der „getischen Geschichte^ Dios lassen diese Tendenz deutlich
hervortreten. An der Spitze des dacischen Staates stand damals
König Decebalus^ ein Herrscher von hoher Begabung, der persönlich
das Hauplverdieust an den errungenen Erfolgen für sich in Anspruch
nehmen durfte. In ihm konnte Dio das kynische Ideal des Völkerhirten
verwirklicht finden.
Wir müssen weiter fragen, ob es Dio wirklich gelungen ist da-
mals von Borysthenes aus nach Dacien vorzudringen. Dafs er „ge-
tische Geschichten" verfafst hat, scheint dafür zu sprechen. Man wird
um so mehr glauben , dafs er in diesem Werke die Ergebnisse eigener
Forschung an Ort und Stelle niederlegte, als ja Philostratus, dem die
rerixa bekannt sind, seinem Lob dieses Geschichlswerkes ausdrücklich
hinzufügt: xai yag 6fj xai ig FiTag 7jl^€v. Es ist wenigstens mög-
lich, dafs Philostratus diese aus der Borysthenitica nicht zu rechtfertigende
Behauptung aus der Einleitung der Ferixa entnahm, in der sich Dio
auf seine eigene ioTogia berufen mochte. Andererseits scheinen die
Worte der Borysthenitica, die jenen Reiseplan erwähnen: ßovXofjievog
IXdeiv, iav ävvcofiai, dia 2%v&(x)v Big Ferag, wie schon Emperius
gesehen hat, das Gegenteil zu beweisen. Die Worte des Emperius:
verba iav övvwfiai si non temere addita sunt, indicare videntur illo
quidem tempore Dionem ad Getos non esse profectum enthalten ein un-
widerlegliches Argument. Auch das ßovXofievog deutet nach derselben
804 Drittes Kapitel.
Richtung. Es zeigt, dafs es bei dem blofsen Wunsche geblieben war.
Die Worte: irvyxavov iTtiörjfxwv kv BoQvad'hBL %b d-igog zeigen, dafs
sich Dio damals einen grofsen Teil des Sommers hindurch in Borys-
thenes aufhielt. Denn wenn nur ein kurzer Besuch, der in die Sommer-
zeit fiel, gemeint wäre, mUfste es tov ^igovg oder h T(p &iQ€L heifsen.
Der Accusativ to ^iQog kann nur bedeuten: den Sommer hindurch.
Auch die Worte Hierosons § 25, auf die ich schon mehrfach Bezug ge-
nommen habe, setzen voraus, dafs nicht die geplante Reise nach Dacien,
sondern die Rückkehr Dios in seine Heimat seinem Aufenthalt in Bo-
ryslhenes ein Ziel setzen wird. Dio könnte den Hieroson so garnicht
sprechen lassen, wenn er nach kurzem Aufenthalt in Borysthenes die
Reise nach Dacien angetreten hätte. Es ist klar, dafs sich Dio zu einem
längeren Aufenthalt in Borysthenes erst entschlofs, nachdem er die Un-
ausführbarkeit seines ursprunglichen Planes eingesehen hatte. Andern-
falls würde er sicherlich die gute Jahreszeit für die Reise benutzt haben.
Endlich ist noch zu beachten, dafs nach § 6 der junge Kallistratos
hiTclsvaai avv s^iol knedv^iei. Die Worte beweisen, dafs Dio Borys-
thenes auf demselben Wege verliefs, auf dem er gekommen war, näm-
lich auf dem Seewege. Das ly,7tXevaaL entspricht dem eloTtXevoat
§ 1 und kann nur von einer Fahrt verstanden werden , die durch den
Bosporus aus dem Becken des Pontus herausführte. Es ist also sicher,
dafs Dio in diesem Jahre seinen dacischen Rciseplan nicht ausgeführt hat.
Emperius, der wie gesagt ebenfalls glaubt, dafs der im Eingang
der Borysthenitica erwähnte Reiseplan damals nicht zur Ausführung kam,
will aus der olympischen Rede § 16 ff. beweisen, dafs Dio ein anderes
Mal, noch wahrend der Verbannungszeit, wirklich nach Dacien gelangt
ist. Denn, sagt er, die olympische Rede hat Dio gehalten, nachdem er
soeben aus dem Getenlande zurückgekehrt war. Diese Ansicht beruht
auf ungenauer Interpretation der betreffenden Stolle. Dio sagt durchaus
nicht, dafs er soeben in Dacien gewesen sei. Vielmehr geht aus den
Worten TtejtOQevuivog ev&v rov **IaTQov xal Trjg FeTiuv x^Q^S "^»^
genügender Sicherheit hervor, dafs Dio höchstens bis an den Donau-
strom gelangt war, der zwischen der römischen Provinz Mösien und
dem dacischen Gebiet die Grenze bildete. Die ganze folgende Schil-
derung zeigt, dafs er sich im Lager der römischen Legionen befunden
hatte, die eben im Begriff standen, die Dacier anzugreifen. Ehe die
Feindseligkeiten zum Ausbruch kamen, hatte er das Lager verlassen,
um sich zur Erfüllung eines alten Gelübdes nach Olympia zu begeben.
Hätte er damals auf eigene Faust den Donaustrom überschritten und
Das Exil. 305
eine Vergnügungsreise in das feindliche Gebiet unternommen, so würde
er nicht unterlassen, diesen Beweis seiner Kühnheit der Festversamm-
hing vor Augen zu stellen. Es ist aber auch an sich unwahrscheinlich,
dafs er sich auf ein so waghalsiges Unternehmen einliefs. Er wäre
aller Wahrscheinlichkeit nach von den Daciern als Kundschafter aufge-
griffen und nach Kriegsrecht behandelt worden. Nur zu einer Zeit, wo
zwischen Rom und Decebalus Frieden herrschte, konnte Dio wagen,
das dacische Gebiet als Forschungsreisender zu betreten. Die olympi-
sche Rede gehurt, wie ich später beweisen werde, einer erheblich spä-
teren Zeit an. Der Krieg, dessen Vorbereitungen in §1811'. geschildert
werden, ist der zweite Dacierkrieg Trajans. Jene Stelle der olympischen
Rede lehrt also für die uns hier beschäftigende Frage nichts.
Dagegen mufs die bekannte Überlieferung bei Philostratus hier heran-
gezogen werden, dafs sich Dio, als Domitian starb, unerkannt in einem
römischen Heerlager befand und durch eine Ansprache an die Soldaten
eine ausbrechende Empörung dämpfte. Es ist zwar nicht überliefert,
dafs sich dieser Vorgang in MOsien abspielte. Aber die grOfste Wahr-
scheinhchkeit spricht dafür. Wir wissen durch den Orakelspruch der
13. Rede, dafs Dios Wanderungen während des Exils ,,an den Enden
der Erde'' ihren Abschlufs fanden. Gegen Ende des Exils ünden wir
ihn in Borysthenes. Wenn wir nun andererseits hOren, dafs er in dem
Augenblick, wo Domitians Tod seine Verbannung endigte, in einem
romischen Heerlager weilte, so wird eben das Heerlager gemeint sein,
das nach dieser Richtung hin „am Ende der Erde'* lag, das Stand-
quartier der musischen Legionen bei Viminacium. Haben wir mit Recht
aus dem Eingang geschlossen, dafs Dio in dem Sommer, wo er in Bo-
rysthenes weilte, nicht nach Dacien gelangte und ist es doch andererseits
glaubwürdig bezeugt, dafs er als Verbannter in Dacien gewesen ist, so
liegt die Vermutung nahe, dafs seine beiden dacischen Reisen, die er-
folglose, die in Borysthenes endete, und die erfolgreiche, die ihn wirk-
lich in das Innere des Getenlandes führte, in zwei aufeinanderfolgenden
Jahren unternommen wurden. Der Sommer, den er in Borysthenes
verlebte, würde der des Jahres 95 sein. Im Jahre 96 hätte er seinen
Versuch auf anderem Wege erneut, indem er von Süden her, von Mö-
sien aus, eine Excursion -in das Gebiet der Dacier unternahm. Da damals
der von Domitian mit Decebalus geschlossene Vertrag noch in Kraft
war, so war der Zeitpunkt günstig gewählt. Nachdem er den Frühling
und Sommer für seine Wanderungen im Getenlande verbraucht hatte,
war Dio im September wieder nach Viminacium zurückgekehrt uod
V. Arnim, Dio. 20
806 Drittes Kapitel.
weilte dort im Lager der römischen Legionen, als der am 18. September
erfolgte Tod Domitians bekannt wurde.
Dafs nach dieser Annahme Dio zweimal im Standlager an der Donau
gewesen ist, spricht nicht gegen sie. Die Situation, die in der bekannteo
Stelle der olympischen Rede geschildert wird, setzt voraus, dafs ein An-
grilTskrieg der Römer gegen die Dacier, der ihre vollige Unterjochung
zum Zweck hat, soeben beginnt und der Ausbruch der Feindseligkeiten
unmittelbar bevorsteht. Von einem solchen Angriffskriege war in den
letzten Jahren Domitians nicht die Rede. Erst Trajan hat gegen den
gefährlichen Nachbar wieder die Offensive ergriffen. Es ist also un-
möglich, das in der olympischen Rede geschilderte Lagerleben Dios dem
von Philostratus erwähnten gleich zu setzen. Nach der olympischen
Rede hat Dio das Lager verlassen, um sich einem alten Gelübde zufolge
zur olympischen Festfeier zu begeben. Das konnte nur die des Jahres 97
gewesen sein. Es würde also folgen, dafs Dio, der schon im September 96
in Viminacium war, bis in den Sommer 97 hinein dort geblieben wäre,
um sich dann nach Olympia zu begeben, statt sofort nach dem Regie-
rungsantritt Nervas und. der Rückberufung der Verbannten in seine
Heimat zurückzukehren. Dies ist undenkbar. Auch durch diese Er-
wägung wird es bestätigt, dafs das von Philostratus berichtete und das
vom Redner selbst in der Olympica erwähnte verschiedenen Zeitpunkten
angehört.
Nachdem die Datirung der Nordlandsfahrten Dios richtig gestellt ist,
dürfen wir den Besuch in Borysthenes vom Sommer 95, den Dio mit
grofser Anschaulichkeit geschildert hat, und seinen Aufenthalt im romi-
schen Slandlager vom Herbst 96, den wir durch Philostratus kennen,
unbedenklich zur Abrundung und Ergänzung des Bildes der Exilszeit
verwerten. Beide Scenen bestätigen vollkommen meine bisher gewon-
nenen Ergehnisse.
Wir wollen vorläufig von dem Inhalt des Vortrages absehen, den
Dio den Borystheniten über die stoische Kosmologie gehalten haben
will, und nur sein persönliches Auftreten und die Art seines Verkehrs
mit dem Publicum beachten. Es ist ein schönes Beispiel jenes dia-
Hyead'at, das vom Einzelgespräch anhebend zur Ansprache an einen
grofsen HOrerkreis übergeht. Was wir bei anderen Stücken lediglich
aus ihrer Form erschlossen, entwickelt sich hier anschaulich vor unsern
Augen. Die Veranlassung zum Lehren tritt von aufsen an Dio heran.
Er drängt nicht durch pomphafte Ankündigungen den Leuten seinen
Unterricht auf, sondern läfst sich von ihnen suchen. Aber sein Name
Das Exil. 807
• •
ist selbst den Einwohnern dieser entlegensten Griechenstadt so vorteil-
haft bekannt, dafs er auch ohne sich vorzudrängen sicher darauf rechnen
darf, seine Person zur Geltung zu bringen. Alte und junge Bildungs-
freunde in Borysthenes betrachten seine Anv^esenheit in ihrer Stadt als
eine günstige Gelegenheit, ihr geistiges Capital zu mehren, die sie nicht
ungenutzt vorüberlassen dürfen. Sehr schön hat Dio mit wenigen
Strichen das Bild dieser Borystheniten gezeichnet, die, weil sie nicht
mit Bildung überfüttert sind, ein reines und echtes Bildungsbedürfnis
haben, und durch die Notwendigkeit, sich gegen das Barbarengesindel
immer wieder ritterlich ihrer Haut zu wehren, in diesem Biidungs-
streben nicht gelähmt, sondern erfrischt werden. Es ist, in Dios Sinne,
ein Bild archaischer voller Menschlichkeit, die mit der Wehrhafligkeit
für den Kampf des Lebens das ahnende Verständnis der höchsten gei-
stigen Ideale verbindet. Einige Personen von Rang und Geburt sind
es, die in erster Linie den persönlichen Verkehr des berühmten Gastes
aufsuchen. Sie nähern sich ihm und knüpfen Unterhaltungen mit ihm
an; andere von geringerem Selbstgefühl stehen herum und hören zu.
Als Dio am Ufer des Hypanis, draufsen vor den Mauern der Stadt,
seinen Vormiltagsspaziergang macht, gesellen sich alsbald, wie gewöhn-
lich, einige Borystheniten zu ihm, um ihn in lehrreiche Gespräche zu
verwickeln. Auch der ritterliche, junge Kallistratos, der, obgleich erst
achtzehnjährig, in den Kämpfen gegen die Sauromaten schon manche
Heldenthat verrichtet hat, kommt von einem Recognoscirungsritt in die
Umgegend der Stadt zurückkehrend herbeigesprengt, übergiebt sein
Pferd dem Knechte und schliefst sich der Gesellschaft an. Mit ihm
beginnt Dio das Gespräch über Homer und Phokylides. Während dieses
Gesprächs sammelt sich um die Gruppe eine schnell anwachsende Corona.
Alle befinden sich in erregter Stimmung, weil über das Schicksal einiger
seit dem gestrigen Überfall und Gefecht Vermifsten noch Ungewifsheit
herrscht. Alle sind in Waffen. Denn jeden Augenbhck kann der Kampf
von neuem beginnen. Und doch brennen alle vor Begierde, Dio zu hören.
Die früher besprochenen W^orte aus dem Gespräch TteQi q^&ovov § 2 : xal
Tcwg '^fiag avi^ovtai %ooov%og ox^og tccqI toiovzwv öialeyofxivovg;
— Tc öi; ov aoq>a xal Ttegl aoqxjSv r^xovoiv axovoofievoc; — passen
ganz auch auf die hier geschilderte Situation. Beim Aufundabspazieren
können nicht alle Anwesenden gleich gut hören. Die weiter hinten
befindlichen belästigen, indem sie, um besser zu hören, vorwärts drän-
gen, die vor ihnen schreitenden. Darum macht Dio den Vorschlag,
irgend einen Platz in der Stadt aufzusuchen, wo zum Sitzen Gelegenheit
20*
308 Drittes Kapitel. Das Exil.
ist und alle hören können. Sogleich begeben sich alle auf den geräu-
migen Vorplatz des Zeustempels, wo die Ratsversammlungen der Bory-
stheniten stattzufinden pflegten. Der Redner, so dürfen wir voraus-
setzen, tritt auf die Stufen des Tempels. Die Alten, die Vornehmen,
die Magistratspersonen nehmen auf Bänken Platz. Die übrigen stehen
hinter ihnen im Kreise herum. Als der Redner seinen Vortrag begonnen
hat und gerade auf das Thema der besten Staatsverfassung lossteuert,
unterbricht ihn einer der Alten und veranlafst ihn durch seine Bitte
das Thema zu wechseln und seinem Vortrag eine andere Richtung zu
geben. Gern folgt Dio der gegebenen Anregung. Wie sich die Sophisten
die Themata ihrer fxeXhac oft aus der Mitte der Versammlung stellen
lassen und besonders die Vornehmsten und Angesehensten das Vorrecht
des TtQoßaXXuv ausüben, so mufs auch der Philosoph dieser Spielart
jederzeit bereit sein, den Bedürfnissen und Anforderungen des Augen-
blicks Rechnung zu tragen. Darin liegt, dafs er sein ganzes Gedanken-
inventar stets in Bereitschaft halten und in die improvisatorische %^tg
den Schwerpunkt seiner Ausbildung verlegen mufs. Ein Philosoph, der
nur mit auswendig gelernten Reden hätte aufwarten können, würde
nach den herrschenden Anschauungen dieser Zeit kaum einen Achtungs-
erfolg, geschweige denn Bewunderung und Ruhm geerntet haben. Wenn
schon von dem Sophisten eine solche %^ig gefordert wurde, die jede
seiner Äufserungen als spontanen Ausflufs seiner lebendigen Persönlich-
keit erscheinen liefs, wie viel mehr mufste diese Forderung auf den
Philosophen angewandt werden, bei dem die Einheit von Persönlichkeit
und Lehre als oberstes und selbstverständliches Erfordernis galt.
Die ganze Schilderung der Borysthenitica von Dios Auftreten und
Verkehr mit dem Publicum ist ein typisches Beispiel seiner Lehrweise
während der Exilszeit und bestätigt vollkommen die Auffassung von ihr,
die ich an den kleinen diali^eig und dcaXoyoi durchzuführen ver-
sucht habe.
Mit der Betrachtung der Lagerscene des Philostratus, die ebenfalls
sehr geeignet ist, die Richtigkeit unserer Gesamtauffassung nach ver-
schiedenen Richtungen zu bestätigen, beginnen wir passend einen neuen
Abschnitt unserer Erzählung.
Viertes KapiteL
Dio nach der Bestitation. Die bithynischen Beden.
Als im September des Jahres 96 die Nachricht von der Ermor-
dung Domitians im ganzen Umkreis des Reiches die Hoffnung auf den
endlichen Anbruch besserer Zeiten erweckte, befand sich Dio wahr-
scheinlich im Standquartier der römischen Legionen in Mösien, wohin
er sich, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, von seiner dacischen
Reise zurückkehrend, begeben halte. Philostratus sagt freilich nicht,
wo sich das römische Heerlager befand, in welchem Dio zur Zeit jenes
Ereignisses unerkannt inmitten der Soldaten weilte. Erwägt man aber,
dafs die borysthenitische Rede, welche Dio nach seiner Rückkehr in
Prusa gehalten hat, auf einen Besuch in Olbia Bezug nimmt, zu dem
die später als unausführbar erkannte Absicht Dios, durch das Skythen-
land nach Dacien zu reisen, Veranlassung gegeben hatte, und erinnert
sich ferner, dafs nach dem Orakelspruch der dreizehnten Rede die Ver-
bannung dauern sollte, bis Dio zu den äufsersten Enden der Erde ge-
langt wäre, so wird man die oben begründete Vermutung wahrschein-
lich finden, dafs Dio nunmehr von Mösien aus seine Reise nach Dacien
ausgeführt hatte und dafs folglich unter dt;m von Philostratus erwähnten
Heerlager das Standquartier der römischen Legionen bei Viminacium
zu verstehen ist. An der Glaubwürdigkeit des philostratischen Berichtes
zu zweifeln, liegt kein Grund vor. Die Unbestimmtheit in der Bezeich-
nung der Umstände erklärt sich leicht, wenn man annimmt, dafs Philo-
stratus keine andre Quelle für seine Erzählung hatte, als die eigene Rede
Dios, deren Inhalt er im folgenden angiebt. Wie oft während seines
Exils, hatte Dio auch diesmal die Rolle des unerkannten Beobachters
gewähh. Sein Bestreben, das Volk in allen seinen Schichten kennen
zu lernen, das Vergnügen, welches er im Verkehr mit dem gemeinen
Mann empfand, weil sich nirgend eine bessere Gelegenheit zur Er-
gründung der menschlichen Natur darbot, mufsten ihm das Soldaten-*
310 Viertes Kapitel.
leben zum anziehendsteD Schauspiel machen.') Da traf die Kunde im
Lager ein, die in ähnlicher Weise, wie einst die Relegation, in seinem
Leben Epoche machen und einen neuen Abschnitt desselben eröfTnen
sollte. Jetzt durfte er sich mit Genugthuung sagen, dafs er die über-
nommene Rolle bis zur letzten Scene durchgeführt halte. Wie der
sterbende Augustus konnte er rufen: acta est, plaudite; nicht wie jener,
von der Lebensbühne Abschied nehmend, sondern im Begriff, eine neue
Rolle zu übernehmen. Denn — wie ich im vorigen Kapitel gezeigt
habe — nicht aus philosophischer Überzeugung hatte Dio die Rolle
des heimatlosen Bettlers übernommen. Es lag. ihm sehr fern, die
kynische Lebensweise für die unter allen Umständen vorzüglichste und
menschenwürdigste zu halten. Nicht TtQorjyov^ivwg , sondern xara
TteQlazaaiv hatte er sie gewählt. Es war daher selbstverständlich, dafs
€£y sobald die Voraussetzungen sich änderten, seine Rolle als beendet
ansah. Er war nur heimatlos geworden, um seiner Heimat treu zu
bleiben, und hatte stets an der Hoffnung auf Heimkehr festgehalten.
Erst als weitere Folge war ihm aus der gewählten Lebensweise seine
Lehrthäligkeit erwachsen. Diese hatte darin bestanden, dafs er jeden
Geringsten, der ihm mit empfänglichem Sinn entgegentrat, an seinem
eigenen Gedankenleben Teil nehmen liefs, nicht als Verkünder einer
neuen Lehre und nicht mit dem Anspruch, die Wahrheit, deren der
Mensch bedarf, selbst erst zu erfinden, sondern in bescheidener, aber
ganz selbstthätiger Aneignung desjenigen, was die grofsen Weisen
früherer grOfserer Jahrhunderte gelebt und gelehrt hatten. Er war
seines Schicksals Herr geworden. Was bestimmt schien, ihn völlig zu
vernichten, war ihm eine Quelle der Kraft und der Erhebung gewesen.
Die Überzeugung, dafs keine Macht der Erde uns das Glück rauben
kann, welches Unabhängigkeit und Freiheit verleihen, auch wenn uns
das Schicksal alles nimmt, was es nehmen kann, hatte sich ihm wäh-
rend der Jahre des Exils bewährt. Diese Überzeugung war der Grund-
gedanke gewesen, den er bis zum letzten Augenblick festgehalten und
durchgeführt hatte. Jetzt durfte er hoffen, die Prüfungszeit überstanden
zu haben und zu dem unverlierbaren Besitz, den kein Schicksal an-
tastet, die Gaben des Glücks zurück zu gewinnen.
Bald wurde es im Lager bekannt, dafs der greise Nerva vom Senat
zum Nachfolger des ermordeten Kaisers erhoben worden war; denn
1) Vgl. die Schilderung or. 12 §16—20, von der in anderm Zusammenhang
die Rede sein wird.
Dio nach der RestitatioD. Die bithynischen Reden. 311
ohne Bestimmungen über die Thronfolge zu trefTen, war dieser aus dem
Leben geschieden. Bei den Legionen war keine Erbitterung gegen
Domilian vorhanden gewesen. Der Mifsbrauch, welchen dieser Herrscher
mit seiner Machtvollkommenheit getrieben hatte , war ihnen nicht fühl-
bar geworden. Während in der ganzen römischen Aristokratie eine
unsägliche Erbitterung herrschte, hatten die römischen Legionen keinen
Grnnd zur Klage gehabt. Im Gegenteil, die Soldaten hingen an diesem
Herrscher, der sie durch Solderhöhung und durch prunkvolle Triumph-
züge zu gewinnen gewufst hatte. So erklärt es sich, dafs die Truppen
die Nachricht von seiner Ermordung mit Entrüstung aufnahmen und
nicht gewillt waren, sich dem Manne zu unterwerfen, den die Ver-
schwörer zum Kaiser ausgerufen hatten. Aber ehe sich noch die Un-
zufriedenheit zum eigentlichen Aufruhr steigerte, gelang es Dio, durch
das rechte Wort im rechten Augenblick die Gemüter umzustimmen.
Nicht umsonst hatte er längere Zeit als unerkannter Beobachter unter
den Truppen geweilt. Ihm war es nicht allein gegeben, das verwöhnte
Ohr gebildeter Kunstrichter zu kitzeln, auch den gemeinen Mann wufste
er durch einfaches und treffendes Wort zu packen. Als er die meu-
terische Bewegung der Legionen bemerkte, sprang er auf einen hohen
Altar, die Bettlerkleider von sich werfend —
„Aus den Lumpen enthüllt sich der listenreiche Odysseus^*.
Mit diesem Verse der Odyssee eröffnete er seine Ansprache. Er gab
sich zu erkennen als Dio der Philosoph, der, wie einst Odysseus beim
Gelage der Freier, in ßettlertracht unter ihnen geweilt habe, solange
rechtswidrige Willkür und Grausamkeit die Welt beherrschten. Jetzt
trete er hervor, wie einst Odysseus, als die Stunde der Vergeltung ge-
kommen war. Und dann liefs er dem Strom des Hasses und der An-
klage freien Lauf {Ttokvg ^Ttvevae xarä rov rvQavvov). Er zeigte, daCs
den Frevler ein Strafgericht der Götter ereilt habe, die sich endlich der
Menschheit erbarmen wollten. Dann ging er auf die Person des neuen
Kaisers über. Von diesem konnte er aus genauester Kenntnis und mit
persönHcher Wärme sprechen, da er ihn seit vielen Jahren kannte und
in den freundlichsten Beziehungen zu ihm stand. Leicht konnte er
diese nahe persönliche Bekanntschaft in seiner Rede ausnutzen, um bei
den Hörern ein günstiges Vorurteil für Nerva zu erwecken. Es wäre
leicht, das Bild dieser verlorenen Rede nach Analogieen weiter auszu-
malen. Doch genügt das Gesicherte. Erinnert man sich der Meister-
schaft in der Beherrschung grofser Massen, die wir aus andern dio-
nischen Reden kennen, so begreift man, dafs auch diese Rede ihren
312 Viertes Kapitel.
Eindruck nicht verfehlte. Es mag dahingestellt bleiben, welche andern
Umstände die Wirkung seiner Rede unterstützten und den Soldaten die
Fügsamkeit gegen den Reichsrat und den neuen Kaiser ratsam er-
scheinen liefsen; soviel ist jedenfalls sicher, dafs es zu einer Meuterei
der Legionen in grOfserem Umfange nicht kam.
Bald nach seiner Thronbesteigung hatte Nerva einen grofsen Teil
der Verbannungsdecrete seines Vorgängers aufgehoben. Natüriich hatte
er sich dabei auch Dios erinnert, mit dem er befreundet war. Dafs
ihn die Strafe unschuldig getroffen ■ hatte, war bekannt. Die Öffentliche
Meinung forderte von der neuen Regierung seine Restitution. Es stand
also Dio jetzt endhch frei, in seine Heimat zurück zu kehren, seine
Angehörigen und Freunde wiederzusehen und den Besitz seines Ver-
mögens wieder anzutreten. Es ist wohl anzunehmen, dafs Dio nicht
unnötig zögerte, von dieser Erlaubnis Gebrauch zu machen und noch
im Spätherbst des Jahres 96 nach Prusa zurückkehrte. Dort hat er die
folgenden sechs Jahre, 97 — 102^ mit nur einer für uns nachweisbaren
Unterbrechung zugebracht. Keine Zeit seines Lebens kennen wir so
genau wie diese, da uns eine lange Reihe von Reden aus diesen Jahren
erhalten ist. Diese Reden sind voll von Beziehungen auf Dios eigenes
Thun und Erleben. Sie geben uns zugleich das anschauhchste Bild von
dem Öffentlichen Leben einer asiatischen Griecheustadt traianischer Zeit
und bilden neben Plutarchs „Politischen Ratschlägen^' die wertvollste
lilterarische Quelle für diese Verhältnisse. Es kommt uns überdies zu
statten, dafs auch der wenige Jahre spätere Briefwechsel des Plinius
mit Traian aus der Zeit seiner bithynischen Statthalterschaft gerade auf
Bithynien ein helles Schlaglicht wirft und uns vieles in den Heden Dios
erklärt, was wir sonst schwerlich enträtseln würden. Alle diese Reden
sind aus der politischen Thätigkeit Dios in seiner Vaterstadt Prusa und
anderen bithynischen Städten hervorgewachsen und beziehen sich auf
bestimmte Örtliche und zeitliche Verhältnisse. Es liegt darin für uns ein
grofses Hindernis des Verständnisses; denn natürlich durfte der Redner
den Sachverhalt des Augenblicks, der ihn zum Reden vcranlafste, als be-
kannt voraussetzen, während es uns nur durch genaue Beachtung aller,
auch der leisesten Andeutungen und Fingerzeige gelingt, die thatsäch-
lichen Voraussetzungen für jede einzelne Rede wieder zu erkennuen. Eine
Hauptschwierigkeil bildet dabei die Herstellung der zeitlichen Abfolge dieser
Reden. Es wird sich hierüber nicht in allen Fällen volle Gewifsheit erzielen
lassen. Wir werden uns begnügen müssen, die Entwicklung der Verhäll-
nisse und der Wirksamkeit des Redners in den Hauptzügen zu erkennen.
Dio nach der Restitation. Die bilhynischen Reden. 313
Ohne besondere Belege aus der Überlieferung würden wir annehmen
dürfen, dafs die Rückkehr Dios, der durch seine Thätigkeit als Philosoph
und seine in schweren Prüfungen bewährte Charakterstärke einen Weltruf
erlangt hatte, nicht allein in seiner Vaterstadt, sondern auch in den übrigen
bithynischen Städten, zu denen er von früher her Beziehungen hatte, zu-
nächst mit Freuden begrüfst wurde. Es ist bekannt, wie grofser Nutzen
gelegentlich den Städten durch einzelne berühmte Mitbürger, Sophisten
oder Philosophen, zugewendet wurde. Denn der Ruhm des Redners und
Philosophen bahnte in dieser Zeit mehr als jeder andre den Weg zu Macht
und Einflufs. Es wurde als selbstverständliche Pflicht des Sophisten von
Ruf betrachtet, die Angelegenheiten und Bedürfnisse seiner engeren und
weiteren Heimat bei den Statthaltern und nötigenfalls beim Kaiser selbst
mit aller Macht der Rede und mit dem ganzen Gewicht seines Ruhmes zu
vertreten. Trat noch, wie in unserem Falle, der Umstand hinzu, dafs
der Redner persönliche Beziehungen zu dem augenblicklichen Machthaber
in die Wagschale zu werfen hatte, so steigerten sich die Hofl'nungen
und Erwartungen, die man auf ihn setzte. Oft waren natürlich die
Wünsche, deren Vertretung an hoher oder allerhöchster Stelle dem be-
rühmten Manne zugemutet wurde, thöricht und anmafsend, oft gingen auch
die Ansichten über das, was man vernünftiger Weise anstreben könnte,
weit auseinander. Immer aber waren sich die Städte der Vorteile wohl
bewufst, die ihnen der Besitz eines Mannes von Ruf verhiefs, und bald
durch Schmeicheleien und Ehrenbezeugungen, bald durch Übertragung
amtlicher Stellungen suchten sie seinem Ehrgeiz eine gemeinnützige
Richtung zu geben. Wir dürfen also nicht bezweifeln, dafs Dio schon
um seiner Berühmtheit und um der Freundschaft des regierenden Kaisei*s
willen in Bithynien mit Jubel empfangen und mit Auszeichnungen jeder
Art überhäuft wurde. Aber nicht allein die materiellen Hoffnungen,
die man an seine Heimkehr knüpfen mochte, sicherten ihm freudigen
Empfang. Sein ganzes Schicksal war von der Art gewesen, welche die
Teilnahme weiterer Kreise auf sich zieht. Ein unschuldig leidender,
der sein Geschick mit Würde trägt und schliefslich doch über seine
Verfolger triumphirt, hat immer auf Sympathie zu rechnen; auch mufste
der Hafs gegen Domitianus, der in den asiatischen Provinzen sicher die
herrschende Stimmung bildete, den von ihm verfolgten in um so helle-
rem Lichte erscheinen lassen. Der Redner erwähnt in der Ansprache
an die Apamenser*), dafs sie ihn gleich nach seiner Rückkehr aus der
1) Or.41 §1.
314 Viertes Kapitel.
Verbannung durch einen Volksbeschlufs ehrten, der neben der Beglück-
wünschung die Einladung zu einem Besuch in Apamea enthielt. Aber
auch die meisten anderen Städte, in denen er aufgetreten war, ehrten
ihn durch Verleihung des Bürgerrechtes und Sitz im Stadtrat.') Auch
das Bürgerrecht von Nikoraedeia*) wird er bei dieser Gelegenheit er-
halten haben. Auf die Auszeichnungen endlich, die ihm in seiner Va-
terstadt Prusa bei seiner Heimkehr decretirt wurden, bezieht sich die
44. Rede, die also dem Winter 96/97 angehören würde.
Dafs nämlich diese Dankrede an seine Mitbürger für ihm erwiesene
Ehren nicht etwa einem späteren Zeitpunkt angehört, läfst sich zur Ge-
wifsheit erheben. Wenn der Redner gleich im Eingang ausspricht, dafs
ihm die Anerkennung seiner Mitbürger wertvoller ist, als Bewunderung
und Lob der Hellenen insgesamt und des Volkes der Römer, so setzt dies
voraus, dafs ihm kürzlich aus weiten Kreisen der hellenischen Welt und
aus Rom selbst Beweise der Verehrung zuteil geworden sind, was denn
auch durch spätere Stellen derselben Rede bestätigt wird. Man kann sich
aber keinen passenderen Anlafs dieser zahlreichen Ehrenbezeugungen
aus Nähe und Ferne vorstellen, als eben die Rückkehr aus der Ver-
bannung. Man beachte ferner, wie Dio, wo er, in bescheidener Ab-
lehnung der äufseren Ehrenbezeugungen, seinen schönsten Lohn in der
Liebe seiner Mitbürger zu finden erklärt und weiter entwickelt, dafs es
dieser Ehren nicht bedürfe, um ihn zu dankbarer Gesinnung zu ver-
pflichten, da er alle seinen Grofseltern, Eltern, Brüdern und sonstigen
Anverwandten früher erwieseneu Ehren als auch ihm erwiesen und auch
ihn zu Dank verbindend ansehe — man beachte wie er hier unmifsver-
ständlich ausdrückt, dafs dies die ersten Ehrenbezeugungen sind, die ihm
persönlich von den Prusensern decretirt werden. Bezöge man also die
44. Rede auf einen späteren Zeitpunkt, so müfste man annehmen , dafs
Prusa selbst seinen berühmten Mitbürger bei der nächstliegenden Ge-
legenheit, die so viele andere Städte benutzten, nicht geehrt hätte. Dies
ist völlig undenkbar. Ein weiteres Kennzeichen bietet die Stelle, wo
Dio von seinem Sohn und Neffen und von den übrigen jungen Leuten
redet.*) Der Sohn wird noch als veaviaxog bezeichnet, während er
gegen Ende von Dios Aufenthalt in Prusa bekanntlich eines der höchsten
Gemeindeämter bekleidete. Und die übrigen jungen Leute aus guten
Familien, die sich der municipalcn Laufbahn widmen, sind ihm vorläufig
nur dem Äufseren nach bekannt; denn, iim auch ihnen ein freundliches
1) Or. 41 § 2, vgl. or. 44 § 6. 2) Or. 38 § 1. 3) Or. 44 § 8.
Bio nach der RestitutioD. Die bithynischen Reden. 815
und ermutigendes Wort zuzurufen, weifs er nichts besseres zu sagen,
als dafs sie t6 ye eldog aya&olg o^olol sind. Die Gesinnung edlen
Ehrgeizes im Dienst der Heimat, die er weiter ihnen zuschreibt, hat er
in erster Linie an seinem Sohn und NelTen kennen gelernt und schliefst
nur die andern, ihm nicht bekannten, in das jenen gespendete Lob mit
ein. Wenn er ferner die Bürgerschaft ermahnt, das was der Machthaber
ihnen an Ehre, Ansehen oder Einkommen geben könne, ruhig abzu-
warten, vor allem aber ihre sittliche Kraft auf Mustergültigkeit des eigenen
Verhaltens zu richten*), so zeigt sich deutlich, dafs eine Petition beim
Kaiser um Verleihung irgendwelcher Gnadenbeweise zwar schon angeregt,
aber noch nicht zum Austrag gekommen ist. Zu dieser Auffassung
pafst auch die voraufgehende Stelle, wo er die Götter um Gelegenheit
bittet, den Dank, den er der Heimat schuldet, abzutragen. Wir dürfen
uns also nicht dadurch beirren lassen, dafs gegen Schlufs der Rede
diejenigen kaiserlichen Gunstbeweise, welche später durch des Redners
Vermittlung Prusa zuteil wurden, vermehrte Zahl der Buleuten und Ab-
haltung des Gerichtstages in ihren Mauern, erwähnt werden. Diese
Dinge werden hier nur als fromme Wünsche der Bürgerschaft genannt,
deren Verwirklichung noch im weiten Felde ist. Ist dem so, so haben
wir unter dem avTOKQaxcDQ ^ der an zwei Stellen erwähnt wird, den
Kaiser Nerva zu verstehen. Wir lernen hierdurch, dafs Nerva gleich in *
der ersten Zeit nach Dios Heimkehr ein Handschreiben an ihn gesandt
hatte, welches neben der Beglückwünschung und dem vollsten Ausdruck
kaiserlicher Huld die Aufforderung enthielt, nach Rom an den kaiser-
lichen Hof zu kommen. Wenn wir nun hören, dafs verschiedene Städte
wegen einer dem Redner erwiesenen Ehre Dankadressen an den Kaiser
schickten,*) so regt sich unwillkürlich die Vermutung, dafs dieser Brief,
abgesehen von der Einladung und dem allgemeinen Ausdruck gnädiger
Gesinnung, wohl noch andre greifbarere Gnadenbeweise enthalten haben
mufs. Aber welcher Art dieselben waren, ^ist unbekannt Sollte viel-
leicht durch diesen Brief Dio das Recht erhalten haben, den ehrenden
Beinamen Cocceianus selbst zu führen und auf seine Nachkommen zu
vererben? Wir erfahren weiter, dafs Dio die Einladung nach Rom aus-
schlug und seine abschlägige Antwort mit der Anhänglichkeit an die
Heimatstadt begründete, die seit lange ein Ziel seiner Sehnsucht gebildet
1) Or.44 § 10.
2) Or. 44 § 6 xal ynjflofiara Mnefixp&v rives tiqös töv aixonQdxoQa %A^iV
eiSöres Tfjs eis ifik riurjs.
316 Viertes Kapitel.
hatte und nun endlich dem durch lange Irrfahrten abgehetzten Ver-
bannten eine Stätte bescheidener aber friedlicher Wirksamkeit verhiefs.
Auf diesen Absagebrief Dios hatte Nerva in einem zweiten Schreiben
geantwortet. Alle drei Briefe verliest der Redner am Schlufs der
44. Rede „damit sie auch daraus seine Gesinnung erkennen^. Leider
ist der Text der Briefe nicht mehr vorhanden. Aber unzweifelhaft ist,
aus der Art wie ihre Verlesung an das Voraufgehende angeknüpft wird,
dafs in ihnen nicht nur von Dios personlichen Angelegenheiten die
Rede war, sondern auch von den städtischen. Es ist ja durchsichtig
genug, dafs Dio wohl weifs, welche Erwartungen man an sein Verhältnis
zum Kaiser knüpft, und dafs die Ehren, die man ihm decretirt, ihn
zu bestimmten Gegenleistungen verpflichten sollen. Er sagt das nicht
ausdrücklich, aber der aufmerksame Leser fühlt überall durch, dafs die
Stellungnahme zu diesen Wünschen der Bürgerschaft einen Hauptzweck
der Rede bildet. Wieviel lebhafter mufste es der Hörer fühlen, der
diese Wünsche selbst hegte. Er läfst die Hoffnung auf greifbare Be-
weise der kaiserlichen Huld als berechtigt gelten, sucht aber allzu
hastiges und weitgehendes Begehren zu beschwichtigen. Diesem Zwecke
dient auch die Ermahnung zu löblichem Verhalten, als der Vorbedingung
kaiserlicher Gnade. Wenn er an diese Ermahnung die Verlesung der
' Briefe unmittelbar anschliefst, so mufs wohl auch in diesen von der
Zukunft Prusas die Rede gewesen sein. Andererseits steht es fest, dafs
nicht Nerva, sondern erst sein Nachfolger den Wünschen der Prusenser
in einigen Punkten willfahrte. Vermutlich wird also das Handschreiben
Nervas nur in allgemeinen und unbestimmten Ausdrücken eine Be-
günstigung der Stadt ihrem berühmten Sohne in Aussicht gestellt haben,
sodafs wohl aligemeine und unbestimmte Hofl'nuugen, nicht aber be-
stimmte Erwartungen dadurch gerechtfertigt wurden. Möglicherweise
ist der Brief eines Kaisers, welchen Dio in der 47. Rede verliest, mit
dem der 44. identisch. Dort Gndet sich nämlich ein solcher unbe-
stimmter Ausdruck, wie man ihn auch hier voraussetzen möchte: otl
ßovkerai navxa tqotvov av^ea&ai trjv noXcv i^wv. Da indes die
47. Rede schon der Regierungszeit Traians angehört, wird man das
einfache tov avTOTCQazoQa doch wohl auf Traian beziehen müssen.
So bietet uns die 44. Rede, wenn sie richtig datirt wird, einen
schönen Einblick in das Verhältnis Dios zu seiner Vaterstadt und zum
Kaiser, wie es im Winter 96/97 bestand. Andre zum Teil erheblich
spätere Reden helfen dies Bild vervollständigen und weilerführen. Die
45. Rede enthält die Nachricht, dafs Dio nach dem Tode Domitians die
Dio Dach der Resütation. Die bilhynischen Reden. 317
Absicht hatte, sich nach Rom zu Nerva zu begeben, aber durch eine
schwere Krankheit zurückgehalten die günstige Gelegenheit versäumte,
seiner Vaterstadt zu nützen, *) indem nämlich , ehe Dio seinen Reise-
plan von neuem aufnehmen konnte, im Januar 98 der Kaiser starb.
Wir dürfen hiernach mit Wahrscheinlichkeit annehmen, dafs diese Reise-
pläue dem Sommer des Jahres 97 angehören. Denn die erste Auf-
forderung Nervas, nach Rom zu kommen, hatte der Redner nicht aus
Gesundheitsrücksichten abgelehnt. Wollte man annehmen, dafs die
Krankheit schon damals das Hindernis der Reise bildete, so wäre es
unverständlich, warum die 44. Rede dieses IJmstandes nicht erwähnt.
Die voaog x^i^^^fj müfste schon vorüber gewesen sein, als er mit dieser
Rede wieder Öffentlich vor dem Volke auftrat und könnte also nicht
begründen, warum Dio während der ganzen Regierungszeit Nervas nicht
nach Rom gelangte. Führt also diese Annahme zu unlöslichen Wider-
sprüchen, so bleibt nur' die schon bezeichnete Möglichkeit, dafs der
Reiseplan dem Jahre 97 angehört. Da der Zusammenhang der 45. Rede
lehrt, dafs diese Reise ausschhefslich im Interesse der städtischen An-
gelegenheiten geplant wurde*), so leuchtet ein, dafs er dieselbe in
officieller Eigenschaft als Vertreter der Stadt, nicht als Privatmann
unternommen haben würde. Die Schwächlichkeit seines Körpers hatte
dem Redner schon während der Verbannungszeit zu schaffen gemacht.
Die andauernden körperlichen Anstrengungen dieser Zeit hatten seine
Gesundheit in dem Grade erschüttert, dafs er sich nie wieder ganz
erholt hat. Im Sommer 97, als er die Gesandtschaftsreise nach Rom
antreten wollte, kam ein schweres acutes Leiden zum Ausbruch, welches
einen Aufschub der Reise nötig machte. Wir brauchen nicht anzu-
nehmen, dafs diese acute Krankheit bis zum Ende der Regierung Nervas
fortdauerte; denn abgesehen davon, dafs man nur die gute Jahreszeit
zu so weiten Seereisen benutzte, waren schon im Herbst des Jahres 97
in Rom Verhältnisse eingetreten, welche für eine städtische Petition beim
Kaiser nicht günstig scheinen mochten. Die Stellung des Kaisers selbst
schien erschüttert, seine Sicherheit gefährdet. Es kam zu jenem Auf-
stand der Prätorianer, welcher dem Kaiser entwürdigende Zugeständnisse
1) Or. 45 § 2 relevnjoavroe Si inelvov xcU vfjs ^eraßoX^s yevouivrjs dr^gtv
uäv TtQÖs TÖv ßdinarov Ni^ßav, lönd S^ vöaov y^aXenrjs xarao'^ed'eis Slov ixetvov
i^Tjf/tto&ijv TÖV xai^6vy äqxu^B&cls aL^TOx^dropoe ^tXavd'Qibnov x&fik äyanßvro£
xeU ndlat flXov,
2) Or. 45 § 2 aXV i^* oh r^ nölsi na^aoxalv idwdfitjVy rw&rrjv iydi fAsyd-
Ärjv oifid'f/ß ßXdßrjv xcU ^rjuiav.
318 Viertes Kapitel.
abzwang und ihn bewog, durch die Adoption des M. Ulpius Traianus
seiner schwankenden Herrschart eine feste Stütze zu geben. So kaai
es, dafs die Angelegenheit erst unter dem folgenden Kaiser wieder in
Flufft gebracht wurde.
Neben der bisher besprochenen Angelegenheit reicht eine andere,
ebenfalls städtische, die unserm Helden in der Folge vielen Verdrufs
bereiten sollte, wahrscheinlich noch in Nerras Zeit hinauf: die An-
gelegenheit der grofsen städtischen Bauten, die bestimmt waren, der
häfslichen alten Stadt ein ihrem finanziellen Aufschwung entsprechendes
würdiges und schönes Äufsere zu geben. Bekanntlich wurde Dio, der
als der Urheber des ganzen Planes galt, für die bei seiner Ausführung
sich ergebenden Mifsstände verantwortlich gemacht. Da indes diese
Bauangelegenheit sich besser im Zusammenhang wird erörtern lassen,
empfiehlt es sich, ihre Besprechung noch zu verschieben und zunächst
den privaten Angelegenheiten Dios in dieser Zeit einige Aufmerksam-
keit zu schenken.
Dios Gattin und Kinder hatten während der Abwesenheit ihres
Familienhauptes nicht in Prusa gelebt. Es scheint, dafs die Frau des
Redners in Apamea verwandtschafthche Beziehungen hatte, die es ihr
als Aufenthaltsort wünschenswerter erscheinen liefsen als Prusa. Wir
können dies nur ahnen aus Dios Äufserung in der 41. Rede, dafs
Apamea die eigentliche Heimat seiner Kinder sei.*) Es kann dies nur
so verstanden werden, dafs sie eben dort ihre Kindheit verlebt hatten.
Nehmen wir an, dafs Dios ältestes Kind jener Sohn war, der im Jahre
96 als veavlaytog bezeichnet wird, also damals wohl im Anfang der
Zwanziger stand, so müfste er nicht ganz zehnjährig gewesen sein, als
die Familie nach Apamea übersiedelte. Die übrigen Kinder waren
Töchter, da Dio in der Ansprache an die Apamenser von mehreren
Kindern'), in Prusa aber ohne unterscheidenden Beisatz immer nur
von seinem Sohne schlechtweg spricht. Seine Brüder waren vermutlich
nicht mehr am Leben, eine Schwester aber konnte er bei seiner Heim-
kehr noch begrürsen. Wenn er durch ihren bald darauf erfolgten Tod
den in ihren Händen befindlichen Teil seines Vermögens einbüfste, so
kann dies nur die Schuld seines Schwagers gewesen sein.') Ob der
Neffe, den er in der 44. Rede als Altersgenossen seines Sohnes erwähnt,
1) Or. 41 § 6 (in Apamea) xai fivjv röv ye ift&v riHrtav ^Se nax^is iari
fi&XXov,
2) Siehe vorige Anmerkung.
3) Or. 47 § 21.
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 319
ein Sobn dieser Schwester oder eines seiner Brüder war, bleibt un-
gewifs. Aufser diesen ausdrücklich erwähnten näheren Angehörigen
hatte er in Prusa eine sehr ausgebreitete Verwandtschaft, die wohl haupt-
sächlich in den marsgebenden Kreisen der kleinen Stadt vertreten war.*)
Diesem Umstände hatte es Dio zumeist zu verdanken, dafs er seinen
Besitz nicht in noch ärgerer Verwahrlosung bei seiner Heimkehr vor-
fand, als es thatsächlich der Fall war. Wie bereits betont wurde, war
mit der Exilirung Dios eine Einziehung seiner Güter, das gewöhn-
liche Zubehör der Kapitalstrafen, nicht verbunden gewesen. Da er von
Domitian in perpetuum relegirt war, so konnte niemand wissen, ob er
je seinen Besitz wieder antreten würde. Doch blieb derselbe rechtlich
sein Eigentum und es ist auch ohne besonderes Zeugnis so gut wie
gewifs, dafs er die Fürsorge für seine Güter, als er in die Verbannung
ging, einem seiner Verwandten übertragen hatte. Auch wenn er selbst
das Loos freiwilliger Armut wählte, mufste doch das Erbe der Kinder
sicher gestellt werden. Dafs es seine Brüder waren, denen er diese
Fürsorge übertrug, dürfte wenigstens die nächstliegende Annahme sein.
Wenn er nun gleichwohl bei seiner Rückkehr die Vermögensverhält-
nisse in arger Unordnung antraf, so. mag dies daran gelegen haben,
dafs nach dem Tode der Brüder kein näherer Verwandter vorhanden
war, der die Vormundschaft über Dios Kinder und die Verwaltung seines
Vermögens übernehmen konnte. Vielleicht wurde von Seiten der Ge-
meinde ein knlxQonog bestellt. Darauf scheint die Äufserung in der
40. Bede zu deuten, welche als besondern Beweis des Wohlwollens
seiner Mitbürger erwähnt, dafs sie die Hoffnung auf seine Restitution
nicht aufgaben, auch in der Zeit nicht, wo es als fragwürdig, ja un-
wahrscheinlich gelten konnte, dafs dieselbe jemals erfolgen werde.')
Der ganze Zusammenhang, in dem diese Äufserung gethan wird, zeigt
zur Genüge, dafs es sich um eine thatsächliche Bewährung dieser Hoff-
nung handelt; und worin sollte diese bestanden haben, wenn nicht in
der Fürsorge für das Vermögen? Es wäre dann weiter anzunehmen,
dafs der vom Demos bestellte Epitropos sich seine Aufgabe leicht ge-
macht hatte, sodafs der Vermögensstand zwar im grofsen und ganzen
erhalten blieb, im einzelnen aber mannichfache Schädigungen erlitt.
1) Or. 44 § 5 (nach Erwähnung der zahlreichen dya&oi drdpes Ton Prosa)
iXeyov 8* äv inl TtXiov xad'* inaorov, et n^ o%e8dv äTiavrtiS avyyevels öpras
diHvow inatveZv,
2) Or. 40 %% iv ToaoHroiS ireoi fpvyils^ öd'ev o^Seic äv Ttpoae^xtjaev iftk
aot&TJvai %ü)qIs i&fi&v 8i eivoias ÜTte^ßoXijv.
320 Viertes Kapitel
Die Nachricht über den beim Tode der Schwester erlittenen Vermögens-
verlust könnte die Annahme nahe legen, dafs dieser Schwager der be-
stellte Vormund war. Aber nähere Erwägung zeigt, dafs dies mit aller
Entschiedenheit zu verneinen ist. Denn in diesem Falle hätten ja Dio
alle Rechtsmittel zur Wiedererlangung des in des Schwagers Händen
befindlichen Vermögens zu Gebote gestanden. Er mufs vielmehr einen
Teil seines Baarvermögens der Schwester in einer Weise anvertraut
haben, dafs mit dem Tode derselben seine Rechtsansprüche erloschen.
Die Ilauptstellen über den Übeln Vermögensstand, den er bei seiner
Rückkehr antraf, finden wir in der 40. und der 45. Rede, die über-
haupt am meisten biographisches Detail enthalten. In jener sagt der
Redner*): es sei die höchste Zeit, dafs er sich seines Hauswesens an-
nehme, welches, seit langer Zeit verwahrlost, noch keine durchgreifende
Ordnung erfahren habe. Als Ursache der Verwahrlosung nennt er aus-
drücklich die langjährige Verbannung und sagt geradezu, dafs ihm die
Gefahr der Verarmung (TtevLag xlvdvvog) gedroht habe. Die zweite
Stelle geht noch mehr ins Detail.^) Hier sagt er, dafs er von verschie-
denen Seiten während des Exils in verschiedener Weise vermögens-
rechtlich geschädigt worden war. Einigen gegenüber hätte es nicht
einmal eines Processes bedurft; es hätte ein Wort genügt, sie zu er-
innern, dafs sie sein Eigentum occupirt hatten, und sie zur Heraus-
gabe zu veranlassen. Viele Sclaven hatten die Gelegenheit benutzt, sich
zu befreien. Manche hatten baares Geld veruntreut, andere Grundstücke
in Besitz genommen. Niemand war zur Stelle gewesen, diese ObergrifTe
zu hindern. — Dio hatte von vornherein die Notwendigkeit erkannt, in
diese Verhältnisse Ordnung zu bringen. Nicht als ob die Armut be-
sondere Schrecken für ihn gehabt hätte. Er weist mit Recht darauf
hin, dafs es ihm an Übung im Ertragen der Armut nicht mangele;^
und auch sein Sohn würde sich in die Armut zu schicken gewufst
haben. Aber gern würde er wenigstens einen Teil seines früheren
Wohlstandes gerettet haben, um im städtischen Interesse einen gemein-
nützigen Gebrauch davon zu machen. Es scheint, dafs ihm besonders
viel daran lag, den alten Grundbesitz seiner Familie wieder unverkürzt
an sich zu bringen und durch sparsame und weise Verwaltung zu einer
Quelle neuen Wohlstandes zu machen. Aber die Ausführung dieses
1) Or.40 §2, 2) 0r.4o § lOff.
3) Or.40 § 2 xairoi ui%gi fikv vTiifpxs nevias xiv8wos ^utv, irö8kv ijv Seivöv.
od ydp etjui npde rovro a^eiirtjros o%e86v — — aö rolvw edSä rdv vidv ijXTii-
^ov xnXeTtoJe dv lÖTtoueXvat Ttevlav, oifx Övra i/uov %cIq<o n^v ^aiv.
Dio nach der ResUtation. Die bilbynischen Reden. 821
Vorsatzes würde erfordert haben, dafs er sich wenigstens vorläuOg ganz
von den städtischen Angelegenheiten zurückgezogen und der Bewirt-
schaftung der Güter gewidmet hätte. Dies aber wurde ihm leider da-
durch ganz unmögUch gemacht, dafs in den ersten Jahren seine Zeit
und Kraft teils durch unausweichliche städtische Angelegenheiten in
Anspruch genommen, teils durch andauernde Kränklichkeit brach gelegt
wurde. So kam es, dafs sich die Ordnung seiner Vermögensverhält-
nisse länger als wünschenswert hinauszog. Es kam hinzu, dafs er jedes
rücksichtslose Vorgehen auf Grund seiner Rechte geflissentlich vermied.^)
Statt auf rechtlichem Wege seine Geldforderungen den einzelnen Schuld-
nern gegenüber geltend zu machen, borgte er sich ein gröfseres Kapital,
um zunächst den Grundbesitz wieder zu vervollständigen,') indem er
ofl'enbar den Plan verfolgte^ durch diesen allmählich seinen Wohlstand
herzustellen, ohne durch verdriefsliche Rechtshändel böses Blut zu
machen. Dies ist das Thatsächliche , was wir über die erste Zeit von
Dios Leben nach seiner Heimkehr wissen, und so wenig es ist, scheint
es doch zu genügen, um auch die seelische und sittliche Seite seines
damaligen Zustandes zu begreifen.
Die Sehnsucht nach seiner bithynischen Heimat hatte ihn ofl'enbar
während der langen Jahre seines Exils nie ganz verlassen. So zog er
denn auch jetzt allem Ruhm, aller Auszeichnung, jedem glänzenderen
Loose die Hoffnung vor, auf heimischem Boden zum Besten der Vater-
stadt zu wirken. Der municipale Patriotismus ist eine der schönsten
Seiten an den Griechen dieser Epoche. Er ist keine Ausnahmetugend
einzelner hervorragender Leute, wie Dio und Plutarch, sondern ein
gemeinsamer Grundzug aller besseren Naturen. Er ist kein kaltes Moral-
princip, sondern ein warmes Gefühl; ein unverlorenes Erbteil besserer
Zeiten, das dieser an idealen Triebfedern armen Zeit geblieben ist. W'er
irgend imstande ist, hohlen Woripomp von dem schlichten Ausdruck
ächten Gefühls zu unterscheiden, der wird in der besprochenen 44. Rede
die Sprache des Herzens vernehmen. In der Epoche seiner sophistischen
Thätigkeit, wo ihn der lockende Silberton des Ruhmes in die weite
Welt hinauslockte, mochte die Anhänglichkeit an die Scholle bei Dio
mehr zurückgetreten sein ; aber schon in den letzten Werken der vor-
exilischcn Zeit glaubten wir ein wachsendes Interesse für die Aufgaben
1) Or.45 § 10 xai roivw Stottojaeate v^ n^&rov dxO's/aijGj TtoXid ind TtoXXtSv
^iiXfjuivoß «- Tt^ds aidäva adr* ijut^a&tftf odre Xöyov inoirjadfitiv aidiva,
2) Or, 47 § 21 daveioAftev&v re Sore rd %(o(fia n^laad'ai,
V. Arnim, Dio. 21
322 Viertes Kapitel.
der städtischen Politik zu bemerkea. Durch die Verbannungsjahre, die
ihn wider Willen von seinem eigentlichen Berufe fern hielten, war
der schon vorher stark entwickelte politische Trieb nicht ausgerottet
worden. Er hatte nur seine ßethätigung verschieben müssen. Im
bürgerlichen Leben seiner Vaterstadt Gutes zu wirken, erschien ihm
noch immer als die schönste und würdigste Aufgabe. Aber freilich
hatte er zu viel von der Welt gesehen und seinen Gesichtskreis zu sehr
ausgeweitet, um in den kleinen Bedürfnissen einer bithynischen Klein-
stadt aufzugehen. Auch die ganze Landschaft Bithynien galt ihm als
Heimat, und über dem Wohl und Wehe der Landschaft stand ihm der
ideale hellenische Patriotismus und die weltbürgerliche Gesinnung —
ohne dafs ihn diese grofsen Gesichtspiinkte verhindert hätten, den Dienst
der Vaterstadt als seine dringendste und nächstliegende Pflicht zu be-
trachten. Alle die grofsen Philosophen der Vergangenheit, die er be-
wunderte, erschienen ihm ihn in diesem einen Punkte tadelbaft, dafs
sie im Widerspruch mit ihrer Lehre der Vaterstadt ihre Kräfte ent-
zogen.') Er wollte es anders machen, nicht allein aus sittlicher Über-
zeugung, sondern aus wirkliebem Herzensbedürfnis. Wie die Biene,
einem Naturtrieb folgend, nur den eigenen Stock mit Honig füllt, mögen
auch andere gröfser und reicher und von schönerer Blumenweide um-
geben sein, so wollte auch er nur Prusa den Honig seiner Weisheit
und seiner Rede zutragen.^) Man mag dies loben oder nicht, nur für
Phrase soll man es nicht halten.
Wenn nun die Aufforderung des Kaisers Nerva an ihn erging, nach
Rom zu kommen, so mufste darin trotz allem viel Verlockendes für ihn
hegen. Denn in der Hauptstadt der Welt, wo er von früher her zu
den vornehmsten und einflufsreichsten Römern Beziehungen hatte und
zu dem Machthaber selbst in ein vertrautes Verhältnis zu treten hoffen
durfte, winkte ihm in jeder Hinsicht ein gröfserer Wirkungskreis. Er
hätte unter anderen Umständen zweifeln können, ob ihn nicht das
Pflichtgebot an die Stelle riefe, wo gröfseres Gute zu wirken war; aber
nicht in diesem Augenblick, wo er, kaum in seine Vaterstadt zurück-
gekehrt, sich schon überzeugen mufste, wie dringend diese seiner Hülfe
bedurfte, nicht nur in diplomatischen Angelegenheiten, sondern auch in
denen des sittlichen Charakters. Denn einen sittlichen Charakter soll«
nach seiner Meinung, auch die ganze Stadt und Bürgerschaft haben.')
1) Or. 47 § 2. 2) Or. 44 f 7.
3) Or. 44 §11 iari yd^, c$ dv^peSy nai 8i^mov naiSeia neU nölsatG ij&os
ftlöao^ov xcU iTiteusis und öiter.
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 323
Zugleich mochte er denken, dafs aufgeschoben nicht aufgehoben ist.
Nachdem er seine nächsthegenden Pflichten erfüllt hatte, mochte ihm
das Schicksal gröfsere übertragen.
Es bedeutet keine Abschwächung dieser idealen Motivirung, wenn
wir gleichzeitig darauf hinweisen, dafs auch der Wunsch, mit seinen
Angehörigen nach so langer Trennung zusammenzuleben und vor allem
dem hoffnungsvollen Sohne den väterlichen Rat und Umgang nicht zu
entziehen, bei seinem Entschlüsse mitwirkte. Dafs neben den angedeu-
teten Motiven die Sorge für sein Vermögen zunächst ganz in den
Hintergrund trat, geht schon daraus hervor, dafs der Redner in einer
dem Jahre 101 angehörigen Ansprache sagt, er müsse nun endlich auch
für die Ordnung seiner privaten Angelegenheiten Zeit erübrigen, zu
denen er bis jetzt vor lauter städtischen Geschäften noch gar nicht ge-
kommen sei.*) Dafs endlich ein Mangel körperlicher Frische, der sich
als Nachwirkung der Strapazen des Rettlerlebens geltend machte, auch
mit dazu beitrug, ihn an der heimischen Scholle festzuhalten, steht
aufser Zweifel.
Die Richtung und Reschaffenheit seiner politischen Thätigkeit kann
hier noch nicht gewürdigt werden. Er befand sich von vornherein in
der schwierigen Vermittlerrolle zwischen den Organen der Rürgerschaft
und denen der Reichsregierung. Er vvar gesonnen, nach der einen Seite
die vernünftigen und berechtigten Wünsche der Rürgerschaft mit gröfster
Entschiedenheit bei dem Statthalter zu vertreten, wozu ihn sein Name
und sein Verhältnis zum Kaiser in hervorragendem Mafsc befähigte.
Nach der andern Seite hatte er teils zu anmafsende Wünsche zurück-
zuweisen, teils der Zerfahrenheit und inneren Zerklüftung der Rürger-
schaft zu steuern, in der er mit Recht das gröfste Hindernis erfolg-
reichen Vorgehens erblickte. Dafs er diese Rolle nicht durchführen
konnte, ohne sich Hafs und Anfeindungen zuzuziehen, ist selbstverständ-
Uch. Man versetze sich nur in die Lage jener Kleinstadtspolitiker, die
vor Dios Heimkehr eine bedeutende Rolle in städtischen Dingen gespielt
und darin Refriedigung ihres Ehrgeizes gefunden hatten und sich nun
durch den berühmten Mann in Schatten gestellt sahen. Man wird be-
greiflich finden, dafs sie Eifersucht empfanden. Besonders aber bildete
Dios Einflufs ein Ärgernis für die Rabulisten und Sykophanten, an denen
es in Prusa so wenig wie in irgend einer anderen griechischen Demo*
kratie fehlte. Diese Menschenklasse, die gewohnt ist im Trüben zu
1) Or. 40 §5 n^ÖTSQOV yd^ otJJ* in* öUyov a%olilv i'jyayop 0. 8. W.
21*
324 Viertes Kapitel.
fischen, wünscht immer lebhaft die Fortdauer innerer Zwietracht und
ungeordneter Zustände und erblickt in dem patriotischen Staatsmann,
der ordnend und versöhnend wirkt, ihren geborenen Feind. Ein Ver-
treter dieser Klasse in Prusa war jener „Philosoph'* Flavius Archippus,
der uns zwar nur in den Pliniusbriefen begegnet, der aber gewifs auch zu
deli ungenannten Gegnern gehört, mit denen sich Dio in den bithynischen
Reden herumschlägt. Soweit wir urteilen können, war Dios Verhalten
diesen politischen Widersachern gegenüber löblich und vernünftig.
Versöhnlich gegen anständige Gegner und stets gewillt in Kleinigkeiten
nachzugeben, wufste er gegen die Sykophanten mit rücksichtsloser
Schärfe vorzugehen.
Dafs er durch die Krankheit verhindert wurde, nach Rom zu gehen,
hat er später lebhaft bedauert Sein Verhältnis zu Nerva war wohl ein
näheres gewesen, als das in der Folge entstehende zu Traian. Denn
es stammte aus der Zeit, wo Nerva noch einfacher Privatmann war.
Man kann, sich leicht vorstellen , mit welcher Spannung Dio die Nach-
richten verfolgte, welche im Herbst 97 aus ftom einliefen und von
neuem die friedliche und gedeihliche Entwicklung des Reiches in Frage
zu stellen schienen. Wenn sich Nerva gegen die meuternden Praeto-
rianer nicht zu behaupten wufste, wem mochte schliefslich das Geschick
die Zügel in die Hände spielen? Es konnte schlimmer werden denn
zuvor. Vor allem aber mufsten die Hoffnungen, welche die Bürgerschaft
von Prusa auf seine Beziehungen zu Nerva gebaut hatte, ins unbestimmte
vertagt werden. Als dann im Spätherbst des Jahres 97 die Adoption
erfolgte, durch welche Traian das Recht der Thronfolge erlangte, und
es sich bald zeigte, dafs das Ansehen des Heerführers der germanischen
Legionen ausreichte, um die römischen Wirren durch den blofsen Klang
seines Namens zu beschwichtigen, da mochte auch Dio wie die gesamte
öffentliche Meinung neue Hoffnung fassen. Persönliche Beziehungen
zu dem designirten Thronfolger scheint er von früher her nicht gehabt
zu haben. Wir gehen wohl kaum fehl, wenn wir aus einer Stelle der
1. Rede tcsqI ßaac^elag diesen Schliifs ziehen*). Aber den Ruf, dessen
sich Traian schon. vor seinem Regierungsantritt erfreute und die freu-
digen Erwartungen, die man an seine Adoption knüpfte, kennen wir
aus der y^gratiarum actio^ des Plinius. Was Plinius in erster Linie als
die Gefühle der römischen Nobilität schildert, bildete sicher auch die
Stimmung Dios in jenen Tagen. Wenige Monate nach der Adoption,
1) Siebe unten S. 325f.
Dio nach der ResUtulion. Die bithynischeD Reden. 825
im Januar 98, starb der greise Nerva; aber der neue Kaiser war vor-
läufig in Germanieo unabkömmlich. Fast zwei Jahre verstrichen, bis
er (im Herbst 99) seine Hauptstadt zum ersten Mal als Kaiser betrat.
Hieraus ergiebt sich, dafs die Gesandtschaftsreise Dios nach Rom, von
welcher bald die Rede sein wird, nicht vor dem Jahre 100 stattgefunden
haben kann. Denn hatte diese Gesandtschaft den Kaiser in Germanien
aufgesucht, was schon an sich unwahrscheinlich ist, so würden wir
sicher in der bei dieser Gelegenheit gehaltenen Rede Dios, der ersten
„vom Königtum^, eine Beziehung auf diesen Umstand entdecken können.
Indem wir zu nilherer Begründung dieses Ansatzes übergeben, verschieben
wir abermals die oben bereits erwähnte Bauangelegenheit, von der es
feststeht, dafs sie den Redner in den der Romfahrt voraufgehenden
Jahren, wir wissen nicht genau von welchem Zeitpunkt an, vorwiegend
beschäftigte. Es versteht sich von selbst, dafs die Bürgerschaft von
Prusa ihre langgehegten Wünsche mit dem Scheitern der ersten Gesandt-
schaft und dem Tode Nervas nicht aufgab, sondern nur den günstigen
Augenblick abwartete, um bei dem neuen Kaiser durchzusetzen, was
man bei dem vorigen versäumt hatte. Obgleich nunmehr ein so hoff-
nungsvoller Umstand wie die alte Bekanntschaft ihres Mitbürgers mit dem
regierenden Kaiser fortfiel, blieb doch immer dieser Mann, sowohl durch
seine Verbindungen in der vornehmen römischen Welt, als durch das
Gewicht seines Namens und seine rednerische deivoiriQ ein brauchbares
Werkzeug ihrer Bestrebungen. Auch darf man nicht vergessen, dafs das
Verhältnis zu Nerva dem Redner auch bei dem neuen Kaiser zur Empfeh-
lung gereichen mufste. So erscheint es nur natürlich, dafs man Dio nach
Rom sandte, sobald der Kaiser aus Germanien nach seiner Hauptstadt
zurückgekehrt war. Der Redner selbst spricht von dieser Gesandtschafts-
reise in der 45. Rede. Dieselbe kann nur im Jahre 100 stattgefunden
haben, nicht vor diesem Jahre, aus dem oben angegebenen Grunde, nicht
nach demselben, weil sich Traian schon im Frühjahr des Jahres 101 zum
Kriege gegen die Dacier nach Mösien begab.
Unsere Berechtigung, die erste Rede „vom Königtum** mit dieser
Gesandtschaftsreise in Verbindung zu bringen, beruht auf der inneren
Evidenz, mit der sich diese Rede als das erste Auftreten Dios vor Traian
kundgiebt. Diese Evidenz tritt uns gleich in der Einleitung entgegen.
Der Redner kann nur deswegen auf das erste Auftreten des Flöten-
spielers Timotheos vor Alexander Bezug nehmen, weil er sich in ähn-
licher Lage wie jener befindet. Ober die Gemütsart seines erlauchten
Zuhörers ist er im allgemeinen von Hörensagen, noch nicht durch
826 Viertes Kapitel.
eigenen Umgang unterrichtet. Aber, wie jener Musiker, mochte er gleich
beim ersten Male die richtige Tonart treffen und die rechte Weise an-
stimmen. Man raubt der ganzen Einleitung ihre Feinheit, wenn man
die Beziehung auf den Augenblick verkennt. Nach derselben Richtung
deutet auch jener Auftrag, den ihm die elische Prophetin an den „gewal-
tigen Mann^ mitgiebt, dem er einst begegnen wird. Auch diese Stelle
ist nur dann von höchster Feinheit, wenn es die erste Begegnung mit
dem Gewaltigen ist, die er zur Ausrichtung jenes angeblichen Auftrages
benutzt. Die Enthaltung von jeder offenen Verherrlichung des Kaisers
zeigt ebenfalls, dafs eine Annäherung noch nicht stattgefunden hat. Er
giebt das Bild des idealen Königs im einzelnen nicht ohne Beziehungen
auf die thatsächlichen Eigenschaften Traians, aber er sagt nicht, dafs die
Persönlichkeit des Kaisers diesem Bilde entspricht. Seine Rede soll ein
Spiegel sein, in dem der Kaiser seine sittliche Gestalt erblicken kann.
Lob oder Tadel mag er sich selbst daraus entnehmen, je nachdem er
sich ihm ähnlich oder unähnlich findet. „Ich habe den KOnig wie er
sein soll geschildert. Trifft etwas von dieser Schilderung auf dich zu, so
bist du glücklich zu preisen um deiner edlen Anlage willen und wir
nicht minder, denen sie zugute kommt.^ Vergleicht man mit diesen
zurückhaltenden Äufserungen den Eingang der dritten Rede, der sich auf
längeren Umgang und genaue Bekanntschaft mit dem Kaiser beruft, so
erkennt man, dafs es nicht ein für allemal gegen Dios Gewissen ging,
den Machthaber zu loben. Aber das ging ihm wider die Natur, mit Worten
zu loben, ehe er bei sich in stiller Seele Lob gespendet hatte.*)
Geht man den Beziehungen auf Traian nach, die in der Schilderung
des idealen Königs enthalten sind, so zeigt sich, dafs auch sie nur auf
das Jahr 100 passen. Ich lege dabei namentiich auf diejenigen Äufse-
rungen Gewicht, die auf Traians kriegerische Tüchtigkeit hindeuten.
Es wird nämlich sehr ausführlich das Verhältnis des Feldherrn zu den
Soldaten geschildert, der als Kamerad an ihren Mühen und Anstrengungen
teilnimmt, aber weit entfernt sie zu verhätscheln, strenge Zucht aufrecht
hält. Kriegerisch ist der gute König, insofern es immer bei ihm steht,
ob er Krieg führen will.') Die Feinde fürchten ihn, niemand bekennt
1) Or. 50 § 6 ixelvo d* o^v iniaraa&e aayt»£ Sri oCre S^/utfi' oüre ßovlijv
aßre AvB^a oarpdnfjr fl Swdartjv ij ri^awov ari^yeiv ij d'e^ane^eiv rote Xöyotg
iydi S^vauaiy fi^l ?ra(>* ifiavrq^ n^öreQov aCrdv inaiviaas xai rd rfjs xpvxije ijd'os
AnoBe^d/uevoS,
2) Ür. 1 § 27 MüU TtoXe/utxös ftiv odrcoe iativ^ diäte in^ avT<p elvai rd
TtoXe/ietv,
Bio nach der Restitation. Die bithynischen Reden. 827
sich freiwillig als seio Feind. Das deutet darauf, dafs im Augenblick
nicht Krieg herrscht, sondern bewaffneter Friede. Die Dacier, die dem
Kaiser Domitianus durch ihre räuberischen Einfälle in Hösien soviel zu
schafTen gemacht hatten, verhielten sich jetzt ruhig. Es hing allein
von Traians eigenem Ermessen ab, ob er den Krieg für nötig hielt.
In der Schilderung des ZusammenstrOmens der Menschen, die von allen
Enden herbeikommen, um den ehrwürdigen Anblick des guten Herr-
schers zu geniefsen, wird man einen Anklang finden dürfen an die
Schilderung des Plinius von der begeisterten Aufnahme, die dem Kaiser
bei seiner Rückkehr nach Rom bereitet wurde.
Ist also einerseits die erste Rede ^vom Königtum^ bei Dios erster
Begegnung mit Traian gehalten, andererseits diese erste Begegnung mit
der Gesandtschaftsreise zu identificiren und bestätigt endlich Haltung und
Ton der Rede, dafs sie in Friedenszeiten gesprochen wurde, so dürfen
wir das Jahr 100 als Zeit der Gesandtschaftsreise in Anspruch nehmen.
Was war nun der Zweck von Dios Sendung, welche Aufgabe hatte
er übernommen? Was er erreicht hat, wissen wir ziemlich genau.
Prusa erhielt das Recht, von nun an 100 Buleuten zu wählen. Da
jeder Buleut bei seiner Aufnahme in den Stadtrat eine erhebliche
Summe zu zahlen verpflichtet war, so bedeutete dies vor allem eine
Vermehrung des Gemeindeeinkommens. Zugleich aber hing die Zahl
der Stadträte mit der Rangstellung der Städte zusammen. Unzweifelhaft
rückte Prusa nunmehr in eine höhere Rangklasse ein. Es ist bekannt,
welche Rolle danials in Asien diese uns schwer verständlichen Rang-
streitigkeiten der Städte spielten. Neben den materiellen Vorteilen, die
unzweifelhaft mit einer höheren Rangstufe verknüpft waren, war es das
municipale Ehrgefühl, in welchem diese Bestrebungen wurzelten. Dieses
erfüllte damals die Herzen in ähnlicher Weise wie im modernen Na-
tionalstaat das nationale Ehrgefühl. Man darf es trotz aller Auswüchse
nicht blofs lächerlich finden. Denn thatsächlich ging der materielle
Fortschritt mit den idealen Factoren des Ranges und der Ehre Hand
in Hand. Es ist ein Beweis, wie sehr Dio trotz seiner idealen Ge-
sinnung auf dem Boden der Wirklichkeit stand, dafs er den Wert dieser
Imponderabilien wohl zu schätzen wufste, obgleich er den krankhaften
Überreizungen des städtischen Ehrgefühls stets mit der gröfsten Entschie-
denheit entgegentrat.
Ferner hat Dio in Rom dahin gewirkt, dafs endlich von Seiten
des Statthalters eine durchgreifende Revision der städtischen Finanzen
vorgenommen wurde. Auch diese Mafsregel hatte eine Vergröfsening
328 Viertes Kapitel.
der GemeiDdeeinkünfte zur Folge. Die liederliche FinaDzwirtscbaft war
ein regelmäfsiges Übel der griechischen Politieen jener Zeit. Die Cod-
trole der Beamten, welche Gemeindegelder zu verwalten hatten, wurde
oft durch Schlaffheit und Gewissenlosigkeit illusorisch gemacht und die
Proconsuln, denen die Pflicht oblag, wenigstens einmal während ihrer
Provincialverwaltung eine Revision vorzunehmen, pflegten es auch nicht
genau damit zu nehmen.
Aus einer Stelle der 40. Rede scheint hervorzugehen, dafs auch
ein besonderer einmaliger Zuschufs aus Reichsmitteln gewährt wurde.
Ob endlich die Abhaltung eines Gerichtstages in den Mauern von Prusa,
welche ebenfalls in der 40. Rede erwähnt wird, schon gleichzeitig mit
den übrigen Vergünstigungen von Dio betrieben wurde, läfst sich nicht
entscheiden. Man hat den Eindruck, dafs diese Sache in der 40. Rede
als etwas ganz neuerdings bekannt gewordenes erwähnt wird: § 38 to
vvv avfjßeßr^üog Tte^l t^v fj/netiQav noXiv — oxi dij rag öUag vfieig
aTtodix^ad'B xal tcoq^ vfjiiv avrovg avdyxr] xglvead'ai. Während nach
§ 13 die wegen der übrigen Gnadenbeweise an den Kaiser geschickte
Dankgesandtschaft bereits aus Rom zurückgekehrt ist, steht nach §33
in Sachen des Gerichtstages eine neue Gesandtschaft eben bevor. Es
war also die Verlegung des Gerichtstages nach Prusa erheblich später
als alles übrige und kaum vor dem Jahre 101 gewährt worden. Eine
Stelle, wo Dio sich ausdrücklich auch dieses Verdienst zuschriebe, ist
nicht vorhanden. Übrigens hatte auch diese Sache neben dem Ehren-
punkt eine materielle Seite. Denn wenn zahlreiche Bewohner anderer
bithynischer Städte in Prusa vor dem Statthalter zu erscheinen genötigt
waren, so war ein starker Geldzuflufs hiervon die notwendige Folge.^)
Soviel hatte Dio zu erlangen gewufst. Der Kaiser hatte ihm alles
gewährt, was er erbeten hatte, und ihm soviel Huld und Gnade erwiesen,
dafs Dio wohl in der Lage gewesen wäre, irgendwelche persönliche Vor-
teile für sich herauszuschlagen. Aber das lag nicht in seiner Absicht.
Er wollte die Güte des Kaisers nur seiner Vaterstadt zugute kommen
lassen. Gleichwohl war man in Prusa mit dem Erreichten keineswegs
zufrieden. Es waren lauter Dinge, die man seit vielen Jahren ange-
1) Vgl. or. 35 {iv KelaivaXs) § 15 Ttpde 8b roi5rotS al S/xat xar' iroß ä/ovrai
Ttap üjuTv xai ^wdyeTai Til^&os Av&^t&natv änet^ov dtxatouivcov, Stxa^övrtoVy
^rÖQcov, ^ye/növcovj iSnrjperßVf oixerßv, ftaax^on&Vy ö^eoxöfnov, xaTttjXoßVy irai-
Qcüv re xai ßava'öaotv' diare rd re &via roi>6 i%ovras 7t Xc/arrjs diioSidoad'ai
riju^e xcU /uijSbv dpydv elvai rrje nöXeotSy fnljre rd ^efHyrj ^ijre rds oixias ju^re raff
yvral^ae. to€to Si o^ OfttxQÖv ian TtQÖs ei^Saiftoviav,
Dio nach der Restitution. Die bithyDischen Reden. 329
Strebt hatte. Jetzt fand man sie nichtig und UDbedeutend. Man halte
sich zu der UofTnung verstiegen, dafs Prusa aus einer gewöhnlichen
Unterthanenstadt eine freie Stadt werden könne. Ohne Zweifel handelte
Dio sehr weise, dafs er nicht gleich die stärkste Forderung stellte. Er
wufste nur zu genau, dafs diese völlig aussichtslos gewesen wäre. Diese
höchste Auszeichnung, gegen die^ allerdings alle übrigen Vergünstigungen
vergleichsweise unbedeutend erscheinen mufsten, konnte die kaisediche
Regierung vernünftiger Weise nur einem wohlgeordneten Gemeinwesen
zugestehen, in welchem die Vorbedingungen gedeihlicher Selbstverwallung
erfüllt schienen. Dio wufste so gut wie man es in Rom wufste, dafs
dies in Prusa nicht der Fall war. In seinen Reden in Prusa läfst er
wohl die MögUchkeit gelten, dafs schliefslich das höchste Ziel, die Frei-
heit, doch noch erreicht werde. Aber zugleich betont er, dafs man
erst das Wesen der Freiheit durch eigenes Wohlverhalten verwirkHchen
müsse; denn den Namen geben die Machthaber, die Sache habe man
selbst zu leisten. Dio hatte die richtige Einsicht, dafs nur eine allmäh-
liche Entwicklung seine Vaterstadt zu einer Stufe führen könne, wo
jene Forderung vernünftig und innerlich berechtigt erschiene. Seine
Überzeugung, dafs am kaiserlichen Hof nicht alles auf einmal^ sondern
nur in stufenweiser Folge zu erreichen sei, zeigt sich da am deutlichsten,
wo er die Vereilelung seiner Reise zu Nerva bedauert. Hätte er damals
von Nerva erlangt, was jetzt Traian gewährt hat, so hätte man die Gunst
des gegenwärtigen Augenblicks zu weiteren Vorteilen benutzen können.
Wie lange der Aufenthalt Dios und seiner Hitgesandten in Rom
dauerte, wissen wir nicht. Aber unzweifelhaft ist, dafs er, abgesehen
von seinen politischen Geschäften, auch als Redner und Philosoph auf-
zutreten Gelegenheit fand und zwar sowohl vor dem Kaiser und seinem
Hofstaat als vor dem grofsen Publicum. So wenig Traian die feinere
griechische Bildung seiner Zeit besafe, so wenig durfte er andererseits
die litterarischen Interessen völlig vernachlässigen. Zumal wenn es sich
um einen Mann wie Dio handelte, der nicht nur ein berühmter Philo-
soph und Redner, sondern auch, durch sein Schicksal unter der Regie-
rung Domitians, eine Persönlichkeit von hoher politischer Bedeutung
war, forderte schon die Staatsklugheit, ihm einige Beachtung zu schenken.
Dio besafs ohne Zweifel die volle Sympathie der römischen Arislokratie,
deren Widerwillen gegen die frühere Regierung er geteilt hatte. Wenn
der Kaiser ihn ehrte, drückte er damit seinen Gegensatz gegen die
frühere Regierung aus und zeigte, dafs er imstande war, die heftigsten
Stimmführer der Opposition in ebensoviele Freunde der jetzigen Re-
880 Viertes Kapitel.
gierung zu verwandeln. Und Dicht allein Klugheitsgründe mochten den
Kaiser bestimmen, den glänzendsten Vertreter des Hellenismus sich zum
Freunde zu machen. Obwohl kein Kenner der Philosophie und Rede-
kunst, wird er imstande gewesen sein, die geistige Bedeutung Dies
zu würdigen und die Zuverlässigkeit seines Charakters zu schätzen.
Die schöne Mischung von Herbheit und Milde, die den Gereiften aus-
zeichnete, wird ihren Eindruck nicht verfehlt haben. Dio seinerseits
war vor die Frage gestellt, wie er, der vielbeschrieene Tyrannenhasser,
sich zu dem neuen Machthaber stellen sollte. Er ging denselben Weg,
den die ganze Aristokraten partei ging. Zu gereift, um die republicanische
Gesinnung der früheren Exilsjahre noch länger festzuhalten, war er zu
der in seiner Familie von jeher herrschenden Ansicht zurückgekehrt,
dafs eine gute monarchische Regierung vergleichsweise am besten für
das Heil des grofsen Reiches sorgen könne. Die Regierung Traians
ist die Vollendung und der Höhepunkt in der Entwicklung des Princi-
pats. Die Opposition der senatorischen Partei verstummt für immer
und die Teilung der Gewalten , auf welche die augustische Verfassung
gegründet war, wird immer mehr durch die ausschliefsliche Machtvoll-
kommenheit des Kaisers ersetzt. Wenn Dio, in klarer Erkenntnis dieser
geschichtlichen Notwendigkeit, zum überzeugten Anhänger der aufge-
klärten Monarchie wurde, so hat er damit seinem Charakter nichts ver-
geben, sondern nur bewiesen, dafs er in der Welt der Wirklichkeit,
nicht in derjenigen der klangvollen Phrase lebte. Das glücklicherweise
erhaltene Document seiner Stellungnahme zu Trajan, die erste Rede
vom Königtum, ist ein schönes Denkmal der Manneswürde, die sich
auch da vor dem Machthaber zu behaupten weifs, wo sie zur Opposition
keinen Anlafs findet.
Sie gliedert sich deutlich in vier Teile, den meisterhaften Eingang,
in welchem der Redner sich und den Kaiser und das Verhältnis, in
das er zu jenem tritt, charakterisirt; die an Homer anknüpfende, mit
feiner Anspielung auf die Wirklichkeit gewürzte Schilderung des Fürsten-
ideals; drittens die philosophisch - religiöse Verliefung, die das ideale
Königtum als Abbild der göttlichen Weltregierung darstellt und dabei
von der volkstümlichen Auffassung des Zeus ausgehend zu der philo-
sophischen Goltesauftassung fortschreitet; schliefslich den erzählenden
Schlufsteil, der an die eigene Person des Redners anknüpfend das Motiv
aus der Einleitung steigernd wieder aufnimmt, indem sich der Redner
eine höhere göttliche Sendung an den Kaiser zuschreibt, und der in
geschickter Steigerung von der Erzählung eines Reiseerlebnisses durch
Dio nach der Restitution. Die bilhynischen Reden. 831
die Mittelglieder des Geheim aisvollen und Mythischen zu der Parabel
fortschreitet. Kaum kann man sich eine glücklichere Verbindung all
dieser Bestandteile vorstellen als die gewählte, in der wie in einem
organischen Gebilde ein Sprofs an den andern ansetzt. Die Parabel
verliert das Frostige, welches sonst so durchsichtigen Einkleidungen
abstracter Begriffe anzuhaften pflegt, durch die geschickte Verflechtung
mit der Heraklesfabel, und der ganze mythische Teil bekommt eine Be-
ziehung zur Wirklichkeit, weil er einerseits an die Person des Redners,
andererseits an die des kaiserlichen Hörers angeknüpft ist. Im ganzen
giebt dieser Teil das in concreter Form, was der vorige Teil — wenn
auch nur kurz und ohne lehrhafte Gründlichkeit — theoretisch darbot:
die Lehre vom Könige als dem Stellvertreter Gottes. Der Gottessohn
Herakles wird als Urbild dieser Stellvertretung hingestellt. Vor die gleiche
Wahl zwischen rechts und links wird jeder Herrscher gestellt. Nur wer
richtig entscheidet, ist König und Gott wohlgefällig. Aber dieser Herakles
ist in Dios Rede keine beliebige FabelQgur^ die als Träger beliebiger
Ideen willkürlich verwendet werden könnte, sondern der Gott Herakles,
dem an allen Enden der Welt geopfert wird, der himmlische Schutz-
heilige des Kaisers. Diese Vorstellung wird dadurch verstärkt, dafs die
Prophetin auf ihm geweihtem Boden und von seinem Geiste erfüllt jene
Geschichte erzählt, die nun als Botschaft des Gottes an den Kaiser
erscheint.
Ich sagte vorhin, dafs Dio während seines Aufenthalts in Rom auch
vor dem grofsen Publicum aufgetreten sei. Dafs er zu öffentlichen Vor-
trägen aufgefordert wurde, wird niemand bezweifeln, der Philostratus
gelesen hat Es versteht sich einfach von selbst. Ich möchte auf diesen
römischen Aufenthalt beziehen, was Dio den Athenern in der drei-
zehnten Rede erzählt. Es ist merkwürdig, dafs er hier, nachdem er
vom Exil und seiner philosophischen Thätigkeit während desselben ge-
sprochen hat^ ohne auch nur das Ende der Verbannung zu erwähnen,
von einer Fortsetzung dieser Thätigkeit in Rom spricht. Dafs er noch
während des Exils in Rom gewesen sei und die Rede, von der er be-
richtet, gehalten habe, ist durch alles, was wir sonst wissen, aus-
geschlossen. Wie erklärt sich nun am natürlichsten der unvermittelte
Übergang von seiner Thätigkeit als Verbannter zu dem römischen Auf-
treten? Auffallend bleibt es ja in jedem Fall, dafs das Ende der Ver-
bannung unerwähnt bleibt, aber eine teilweise Erklärung würde die
Annahme darbieten, dafs jener römische Aufenthalt nicht allzulange nach
Dios Heimkehr stattfand und dafs ferner den Athenern Zeit und Gelegen-
332 Viertes Kapitel.
heil dieses römischen Auftretens wohl bekannt war. Offenbar verfolgt
Dio in seiner Ansprache an die Athener den Zweck, seine ÄDsicbteo
über Bildung und Cullur — denn dies ist das Thema — in der Weise
zu entwickeln^ dafs er zugleich seine eigene philosophische Entwicklung
zur Darstellung bringt. Seine Ansicht vom Wert der Cultur stellt er
hier als den Kern seines ganzen Evangeliums hin und will den Athenern
zeigen, wie er sich materiell und formell an diesem Problem entwickelt
hat. Das römische Auftreten, von dem er erzählt, bezeichnet in doppelter
Hinsicht einen Wendepunkt seiner Wirksamkeit, der Form nach, weil
er hier zur Darstellungsform der moralphilosophischen Epideixis in
grofsem Stil fortschreitet, dem Inhalt nach, weil er nicht mehr die
falsche Bildungsrichtung einzelner Individuen, sondern die in Rom zu
vollster Entfaltung gelangte falsche Civilisation der gesamten Welt und
Zeit befehdet. Behält man im Auge, dafs Dio seine eigene Entwicklung
schildert, so wird man um so mehr geneigt sein, jenen ersten römischen
Aufenthalt vom Jahre 100 als den epochemachenden anzusehen. Denn
es ist nicht einzusehen, warum dieser Fortschritt erst bei einem spä-
teren römischen Aufenthalte sollte eingetreten sein. Nehmen wir einmal
an, die dreizehnte Rede sei noch im Jahre 100 gehalten, als Dio von
Rom nach Bithynien zurückkehrte. Denn es ist sehr wohl möglich^
dafs er den Rückweg über Athen wählte. Unter dieser Voraussetzung
erklärt sich am leichtesten die oben berührte Schwierigkeit. Die Zeit
und Gelegenheit des römischen Aufenthalts brauchte dann nicht weiter
bezeichnet zu werden, da nur einer, der einzige seit seiner Verbannung,
in Betracht kommen konnte, der als soeben verflossen seinen Zuhörern
bekannt war. Wir haben noch andere Beispiele dafür, dafs Dio eine
einmal gehaltene Ansprache an anderm Orte verändert oder unverändert
wiederholt. Es ist wohl im allgemeinen anzunehmen, dafs solche Wieder-
holungen nicht viele Jahre nach dem ersten Vortrag zu erfolgen pflegten,
sondern in kurzen Zwischenräumen. Vorträge, mit denen der Redner
an hervorragender Stelle, sei es vor dem Kaiser, sei es vor einem ver-
wöhnten grofsstädtischen Publicum, besondern Erfolg geerntet hatte,
wurden gern in den kleineren Städten gehört, ehe die Publication sie
zum Gemeingut machte. Man wende nicht ein, dafs jener erste sokra-
tische Vortrag, den Dio in die Zeit seiner Verbannung verlegt, doch
lange Jahre vor der athenischen Rede gehalten sein müfste. Er soll
nur als typisches Beispiel veranschaulichen, wie Dios Wirksamkeit aus
sokratischen Ideen hervorwuchs. Dagegen ist der römische Vortrag eine
einzelne, bei bestimmter Gelegenheit in Rom gehaltene Rede, auf deren
Dio nach der Resütution. Die bithyoischen Reden. 333
MitleiluDg an die Athener die ganze Composition der athenischen Dialexis
angelegt ist. Nach allem Gesagten stehe ich nicht an, den römischen
Vortrag der 13. Rede auf Dios römischen Aufenthalt im Jahre 100 zu
bezieben.
Glaubte Dio wirklich an die Möglichkeit der Umkehr zu einfacheren
Sitten, die er in diesem Vortrag als Bedingung der Rettung hinstellt?
Gewifs nicht! Der Mann, der so scharf die Physiognomie seiner Zeit
orfafst hatte, konnte sich so sehr nicht täuschen. Aber die Predigt ist
darum noch nicht vergeblich, weil sie nicht die Macht besitzt, die un-
erbittliche Naturnotwendigkeit der Gesamtentwicklung zu überwinden.
Sie sammelt eine Minorität um sich, von der neues gesundes Leben
ausgehen kann. Grofsartig sind die beiden Bilder, durch welche Dio
die von der Überzahl der Menschen und Dinge erdrückte Weltstadt ver-
anschaulicht, das Bild von dem zum Sinken überladenen Schiff, das nur
durch Minderung der Ladung und Bemannung seinen übermäfsigen Tief-
gang verliert und wieder seetüchtig wird, und das Bild vom hoch-
getürmten Scheiterhaufen, der von Fett und Öl trieft und nur der
Stürme harrt, die ihn im Nu in eine gewaltige Flamme auflodern
lassen.
Ob noch andere uns erhaltene Schriften diesem römischen Aufent-
halte Dios angehören, läfst sich nicht bestimmen. Wahrscheinlich ist,
dafs er mehr als einmal öffentlich auftrat. Alles in allem konnte der
Aufenthalt in Rom nicht ohne Einflufs auf ihn bleiben. Nachdem er
sich eine Reihe von Jahren den kleinen Angelegenheiten seiner klein-
städtischen Heimat mit Hingebung gewidmet hatte, sah er sich plötzlich
auf den buntesten Schauplatz der grofsen Welt versetzt. Der Macht-
haber des grofsen Reiches zeichnete ihn aus und bat ihn, seinem Hof
sich anzuschliefsen ; die Hauptstadt der Welt lauschte seinen Predigten
mit Beifall. Wenn er auch den Beifall, der den schönen Worten gilt,
gering schätzte und den Glanz und Prunk der Weltstadt eher unheimlich
als erfreulich fand, so bot sich hier doch ohne Zweifel der gröfste
Schauplatz reformatorischer Wirksamkeit. Dafs zwischen ihm und Kaiser
Traian wegen seines Verbleibens in Rom Verhandlungen gepflogen
wurden, können wir daraus entnehmen, dafs er sich seit seiner Rück-
kehr nach Prusa bewufst ist, sein Aufenthalt in der Heimat könne nicht
mehr von langer Dauer sein. Er kündigt seitdem oft seine bevor-
stehende Abreise an, verschiebt sie aber immer von neuem. Dies hängt
offenbar teils mit der Abwicklung seiner eigenen Geschäfte und Ver-
pflichtungen in Prusa, teils mit der Abwesenheit des Kaisers von Rom
334 Viertes Kapitel.
während des ersten Dacierkrieges zusammen. Die Abrede zwischen dem
Kaiser und dem Philosophen mochte dahin gehen, dafs der letztere auf
seine Bitte vorläufig nach Prusa entlassen wurde, wohin ihn dringende
private und amtliche Verpflichtungen riefet), zugleich aber versprechen
mufste^ wenn er diesen Pflichten genügt hätte und der Kaiser vom
Kriegsschauplatz zurückgekehrt wäre, wieder für längere Zeit nach Rom
zu kommen.
Wir begleiten den Redner auf seiner Rückreise nach Bithynien.
In Athen hält er die vorhin schon teilweise besprochene, leider kaum
zur Hälfte erhaltene Rede. Der erhaltene Teil gehurt zu den schönsten
Stücken der dionischeh Sammlung. Das trotz der etwas conventionellen
Stilisirung einfache und aufrichtige Selbstbekenntnis Dios über seine
Entwicklung zum Philosophen, das ich im vorigen Kapitel gewürdigt
habe, zeugt für seine tiefe Bescheidenheit, mit der sich ein gesundes
Selbstgefühl verbindet. Ich finde in dieser Rede nichts von dem falschen
und gemachten Pathos, das nach dem landläufigen Urteil Dios Reden
ausschliefslich erfüllen soll; auch nicht in dem hochpathetischen Schlufs.
Der Ton ändert sich nämhch mit dem Beginn der römischen Ansprache.
An Stelle der trocknen, nüchternen Redeweise des sokratischen Teils tritt
der epideiktische Stil Dios, der an Stelle der abgerundeten Periode der
klassischen Rhetorik jenen in die Länge wachsenden, gleichsam SchOfs-
ling auf Schöfsling ansetzenden Satzbaum oder Welle über Welle fluten-
lassenden Satzstrom als Element verwendet, welcher uns allerdings nicht
beim Lesen, aber beim lebendigen Vortrag unaufhaltsam mit fortreifst
und nicht sowohl eine Befriedigung des ästhetischen oder erkennenden
Bewufstseins, als einen aittlichen Enthusiasmus zu erregen bestimmt ist.
Der genauere Nachweis dieser Stileigentümlichkeit mufs einem andern
Orte vorbehalten bleiben. Der Inhalt der Rede ist bereits für die Dar-
stellung der Exilszeit ausgenutzt worden.
Wie schon bemerkt, kehrte Dio in ganz anderer Stimmung nach
Prusa zurück, als er ausgezogen war. Schon in dem Augenblick, wo
er den heimischen Boden wieder betrat, wufste er, dafs seines Bleibens
dort nicht mehr lange sein werde. Nicht als ob er je daran gedacht
hätte, seine Heimat für immer zu verlassen. Dort fühlte er doch
schliefslich , trotz aller Nörgeleien und Kleinlichkeiten des kleinstädti-
schen Lebens, die festen Wurzeln seiner Kraft. Aber es war ihm in
Rom klar geworden, dafs ihm noch ein höherer Beruf zu erfüllen blieb,
als die Kleinstadtspolitik. Um so mehr mufste er trachten, die not-
wendigen und unausweichHchen Geschäfte, die er in Prusa noch abzu-
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 335
wickeln hatte, mit aller Entschiedenheit in Angriff zu nehmen. Hierzu
war vor allem erforderlich, dafs er die Übernahme neuer Geschäfte und
Verpflichtungen gänzlich vermied. Denn er wufste aus Erfahrung, dafs
sich oft die anfangs leicht und einfach erscheinenden städtischen An-
gelegenheiten endlos hinzogen und eine Quelle ungeahnter Verwirrungen
und Verwicklungen wurden. So erklärt sich sein Entschlufs, den er
mehrfach erwähnt, sich nunmehr ganz aus der Öffentlichkeit zurückzu-
ziehen und womöglich nicht mehr in der Volksversammlung aufzutreten.
Das Schicksal hatte es anders beschlossen. Die folgenden Jahre sollten
ihm mehr Plackereien als die früheren bringen, was er um so schmerz-
licher empfand, weil er offenbar nicht mehr die anfängliche Freudigkeil
für den städtischen Dienst mitbrachte. Seine Unlust wurde durch die
Undankbarkeit gesteigert, mit der man in Prusa die Ergebnisse seiner
Gesandtschaftsreise aufnahm. Man fand dieselben jetzt unbefriedigend.
Vermutlich hatten seine Feinde die Zeit seiner Abwesenheit benutzt, um
die Erwartungen aufs höchste zu spannen. Der Redner spricht von
dieser Undankbarkeit nicht ohne Bitterkeit. Das also sei der Dank
dafür, dafs er alle Aussichten auf persönliche Vorteile, die ihm des
Kaisers Zuneigung verhiefs, ausgeschlagen habe, um nur der Vaterstadt
zu dienen.^) Er erinnert seine Mitbürger daran, dafs ihnen dieselben
Dinge, die man jetzt nicht mehr der Rede wert finde, früher als ein
„Ziel aufs innigste zu wünschen^ erschienen und dafs sie selbst zu
demütigenden Schmeicheleien ihre Zuflucht nahmen, um sich die Ver-
wendung einflufsreicher Römer zu sichern. Damals, wo sich die Stadt
vor blofsen Privatleuten so sehr erniedrigte, wäre es Zeit gewesen, auf
die Nichtigkeit dieser Bestrebungen hinzuweisen. Warum sind diese
Herren erst jetzt, wo durch Dios Vermittlung jene lang gehegten
Wünsche erfüllt sind, zu der Einsicht gelangt, dafs man nichts dadurch
gewinne? Dio meint, dafs es nur der Hafs gegen seine Person sei,
der sie treibe, das Erreichte zu verkleinern. Man hatte darauf hinge-
wiesen, dafs Smyrna ungefähr gleichzeitig eine viel gröfsere Zuwendung
aus der Reichskasse erhalten habe.*) Was der smyrnäische Redner für
seine Vaterstadt erlangte, das, meinte man, hätte auch Dio für Prusa
erreichen können. „Ihr scheint zu glauben,^ erwidert Dio, „dafs wenn
ein Anderer eure Sache beim Kaiser geführt hätte, dieser euch zehn-
tausend statt hundert Stadträte zugestanden und einem Goldstrom durch
1) Hierzu und zu dem folgenden Tgl. or. 45 §3 ff.
2) Or.40 §14.15.
336 Viertes Kapitel.
eure Stadt zu fliefsen befohlen hätte. Wollte Gott, ihr hättet Recht.
Kein Verständiger kann sich daran ärgern, dafs auch andern und viel-
leicht in höherem Mafse die kaiserliche Huld zugute kommt. Wer kann
verlangen, das Sonnenlicht, den fruchtbringenden Regen, die tränkende
Quelle für sich allein zu besitzen? Der Kaiser, in seiner Güte und
Verständigkeit, hat mir, um was ich bat, gewährt und jenen, was sie
erbaten.^ Wenn der Redner, um seinen Gegnern kein Ärgernis zu
geben, von den Auszeichnungen nicht reden will, die ihm der Kaiser
erwiesen hat, so zeigt dies, dafs jene seine Gesandtschaft als völlig ins
Wasser gefallen bezeichnet hatten.') Nachdem die Ergebnisse derselben
bekannt geworden, war alsbald eine zweite Gesandtschaft nach Rom
abgegangen, angeblich um den Dank der Bürgerschaft auszurichten^*)
Vielleicht aber sollte sie zugleich sondiren, ob sich nicht noch mehr
beim Kaiser durchsetzen liefse. Wenn, wie ich vermute, diese zweite
Gesandtschaft eine Veranstaltung von Dios Gegnern war, um ihn wo-
möglich zu übertrumpfen, so hatten sich diese bitler getäuscht Der
Kaiser empfing die Gesandten ungnädig. Daran trugen sie jedenfalls
selbst die Schuld, aber auch hierfür wird Dio verantwortlich gemacht
.,Was habt ihr euch nur vorgestellt,^ fragt Dio in Erwiderung auf
solche Beschuldigungen, „dachtet ihr, der Kaiser würde euch bis an die
Thür entgegengehen, euch umarmen und nach dem und jenem Daheim-
gebliebenen fragen, wie sein Befinden sei und warum er ihm nicht auch
die Ehre gebe?"
Dafs Dio trotz aller derartigen Anfeindungen eine starke Partei auf
seiner Seite hatte und dafs es gerade die Übermacht seines Einflusses
war, die ihm seine Gegner nicht verzeihen konnten, ist eigentlich selbst-
verständlich. In einer späteren Ansprache erwähnt er ausdrücklich,
dafs man seine Verdienste um die Stadt dankbar anerkenne, und ver-
1) Or. 45 § 3 inei ^' aöv ^ön^^^e Tta^d toütov tpiXav&Qtonia xai anovBifl
roaai^Tri ntQl ^ftäs, Sarjv- in/aravrai fihv ol TicL^arvxövTeSj iydf Sä äv Xiyeo vih^j
atpödga ivTirjoio rivds' toats Si oiiSä fpavelrai niOTÖs 6 iöyos, rd TfjXtxa^TT^s
Tiu^s Tvyx&vovra xai awrj&e/as xcU ^tUae änavra raüra iäaat xai Ttapi-
SeXv «. 8. w.
2) Or. 40 §13 TieQl rrfe Tzpeaße/ae, ^v iTtiw^are eöxapiaroih'Tes n.s.'W, Diese
zweite Gesandtschaft ist von Bedeatting für die dionische Chronologie. Da zar Zeit
der 40. Rede nach §33 schon wieder eine neue Gesandtschaft nach Rom gehen
sollte, wahrend jene Dankgesandtschaft als Ereignis der Vergangenheil erwähnt
wird, und doch schwerlich beide noch im Herbst 100 nach Rom gingen^ so müssen
wir mit der 40. Rede bis in das Jahr 101 hinabgehen. Weiter nicht wegen dy* o^
rihf ^xor § 1.
Dio nach der Reslilatioo. Die bilhyDischen Reden. 837
weist dabei ausdrücklich auf die besprochene Gesandtschaft.') Schliefs-
lieh mochte eben doch die gesunde Vernunft den Sieg davongetragen
und eine gerechtere Würdigung seiner Politik sich Bahn gebrochen
haben. Aber die ganze Gröfse seines persönlichen Einflusses wird uns
erst durch die Vorgänge bei der Wahl der neuen Stadträte veranschau-
licht, welche er selbst in der 45. Rede schildert. Natürlich versetzte
dieses wichtige Ereignis die ganze kleine Stadt in die tiefste Aufregung.
Die Vermehrung der Stadträte, deren Bedeutung für den Gemeindeseckel
bereits gewürdigt wurde, hatte auch eine ungeheure Bedeutung für den
Einzelnen. Jeder hoffte bei dieser Gelegenheit einen Vertreter seiner
persönlichen oder Berufsinteressen in die politisch einflufsreichste Kör-
perschaft hineinzubringen. Es entwickelte sich jenes in kleinen Demo-
kraticen übliche Stimmenkaufgeschäft, bei welchem der Candidat durch
Versprechungen an einzelne Cliquen und Gruppen der Bürgerschaft sich
die Wahl zu sichern sucht. Wir kennen den in Prusa üblichen Wahl-
niodus nicht hinreichend, um uns von der Art der Agitation eine genaue
Vorstellung zu machen. Aber soviel geht aus Dios Worten hervor, dafs
das ganze Getriebe nicht nur ein moralisch verwe]*fhches, sondern auch
ein ungesetzliches war. Vermutlich war ein Gesetz vorhanden, welches
die Bildung von Hetärien zu Wahlzwecken verbot. W^cnigstens ver-
sichert Dio, dafs es ihn nur ein Wort der Anzeige bei dem Proconsul
gekostet haben würde, um dem gesetzwidrigen Treiben ein Ende zu
machen. Und hätte dieser keine Neigung gehabt, sich mit der Sache
zu befassen, so würde eine Immediateingabe an den Kaiser in jedem
Fall den gewünschten Erfolg gehabt haben.') Dio aber wollte die ganze
Agitation weder begünstigen noch hindern, sondern sich jeder eigenen
Einmischung enthalten. Natüriich wäre es für ihn, als den Urheber
der ganzen Errungenschaft, leichter als für jeden anderen gewesen,
einen Einflufs auf die Wahl auszuüben und solchen Männern, die er
für geeignet hielt, Sitz und Stimme im neuen Stadtrat zu verschafl'en.
Und wenn er dies nach rein sachlichen und patriotischen Gesichts-
punkten gethan hätte, so würde er damit seiner Vaterstadt praktisch
mehr genützt als geschadet haben. Aber der ideale Gesichtspunkt galt
1) Or. 48 §11 Mnetra otfod'i ue roüro itinotetr, ft tt)v i/tavroO nargiBa
Ttiitoiti^ar inoifjoaj ^Qi^udrcov rivd d^opttrjv na^ao-^dir and rtov ßovlevrixßv
xcU vij sJta dnd rßv TtpoaöSatv rj^^rjftivtov 8id rrjr Sio/xijatv,
2) Or. 45 § S iidr M ^tjitart xatlCaa* xai xaraardvta jurjvvaai rd yr/vö-
ufvov xaineQ eiSöaiv vultf xai roli i/jye/uöatr, ei Si fiitjre ifiels TiQoaelxere utjre
Twy iiyefidvmv xd nQäyua i^TzrerOy oi xaXendv ijv iniaretXai rtp adrox^dro^t.
▼.Arnim, OIo. 22
838 Viertes Kapitel.
ihm in diesem Falle mehr als der praktische. Er verahscheute die
Wahlbeeinflussung durch persönliche Momente in dem Grade, dafs er
nicht einmal um des besten Zweckes willen Mitschuldiger des hetäristi-
schen Treibens werden wollte. Ein Hetärie würde sich offenbar um
ihn, ohne viel Zuthun von seiner Seite, geschart haben, sobald er nur
Miene gemacht hätte, an dem Wahlkampf teilzunehmen. Er beschlors
deshalb sich der Stimme zu enthalten und verliefs sogar Prusa während
der zwei bis drei Tage, welche die Abstimmung dauerte. Wir sehen
hieraus, dafs die Abstimmung eine öffentliche mit Namensaufruf war.
Denn nur in diesem Falle war Dios Befürchtung begründet, dafs seine
blofse Stimmabgabe viele Büfger hindern könnte, nach eigener Ober-
zeugung zu wählen, indem sie Bedenken trügen von seiner Abstimmung
abzuweichen. Dieses Verhalten Dios ist überaus bezeichnend für seine
ganze Stellung zur Bürgerschaft. Es zeigt uns das Gewicht seiner Per-
sönlichkeit, welche von hundert beobachtenden Augen verfolgt, durch
jeden auch nur zufälligen Schritt in wichtigen Dingen den Ausschlag
geben konnte. Natürlich war dieser Einflufs das Ergebnis einer ganzen
Abstufung innerer und äufserer Ursachen: von der Verehrung, die seine
Anhänger für ihn hegten , bis zu der Furcht ängstlicher Naturen , es
mit dem Freunde des Kaisers zu verderben. Um so peinlicher mufste
er jede seiner Handlungen und jedes seiner Worte überwachen.
Aber das Verhalten Dios in der Wahlzeit zeigt uns nicht nur in hand-
greiflicher Weise die Gröfse seines Ansehens, es zeigt uns zugleich in
seiner fast übertriebenen Bedenklichkeit, wie sehr bereits die Unbefangen-
heit seines Verhältnisses zur Vaterstadt getrübt war. Wir ahnen, dafs
die Anfeindungen, die er zu ertragen hatte, nicht die einzige, vielleicht
nicht einmal die schlimmste Ursache seines Mifsbehagens bildeten , dafs
vielmehr die niedrige Verläumdung und Verkleinerung in ebenso nier
driger Liebedienerei und Servilität ihre Kehrseite hatte. Ich bin über-
zeugt, dafs er auch diesmal das richtige traf, aber ich mufs dabei die
Voraussetzung machen, dafs ihm bereits die Unhaltbarkeit seiner Stellung
in Prusa zum Bewufstsein gekommen war. Es war ihm zweifelliaft ge-
worden, ob der Nutzen, den er seiner Vaterstadt brachte, wirklich die
Brachlegung all seines sonstigen Könnens verlohnte, zu der er sich
grofsmütig entschlossen hatte. Er erlebte ja täglich, dafs seine Be-
strebungen zur inneren und äufseren Hebung der Stadt ein Anlafs
widriger Parteiungen und Zänkereien wurden. Sein philosophischer
Idealismus hatte ihm geboten, die Teilnahme an dem bürgerlichen Leben
seiner Vaterstadt als die erste und nächste Menschenpflicht anzusehen
/
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 389
und sein Leben mit der Lehre, zu der er sich bekannte, in Einklang
zu setzen. Jetzt begann er zu begreifen, was er nie bisher begriffen
hatte, warum die grofsen Philosophen der Vorzeit, die er vor andern
verehrte, ein Zenon, Kleanthes und Chrysippos, diese Pflicht nicht auf
sich genommen hatten;') und hatte nicht Sokrates, der stets der Hei-
mat treu geblieben war^ gerade dadurch ewige Schmach auf sie geladen,
sodafs keine fernste Zukunft, was sie an ihm gesündigt^ vergessen wird?*)
Für denjenigen Leser, der sich in Dios Denkweise vertieft hat, spricht
sich dieser Herzenskampf in ergreifender Weise in der 47. Rede aus,
auf die wir später zurückkommen müssen. Er war nicht der Mann,
voreilig die Flinte ins Korn zu werfen. Was er in Prusa begonnen
hatte, mufste reinlich abgewickelt werden. Aber er begann allmählich
sich aus dem Zusammenhang der Geschäfte zu lösen, indem er nichts
neues übernahm, sondern nur das einmal Begonnene weiter forderte.
In diesem Zusammenhang läfst sich auch verstehen, dafs er nicht Miene
machte, das ungesetzliche Treiben bei der Wahlagitation zu hindern.
Er blieb damit nur seinem Vorsatz treu, sich völlig von den öffentlichen
Dingen fern zu halten. Die Begründung, die er selbst giebt, bringt ein
weiteres Motiv hinzu, das mit jenem nicht in Widerspruch steht. Er
wollte nicht als Ankläger und Denunziant seiner Mitbürger dastehen;
über keinen seiner Mitbürger sollte durch ihn Unglück kommen.') Es
stimmt dies ganz zu Dios sonstigen Grundsätzen, nichts an die Organe
der Reichsregierung zu bringen, was sich irgend innerhalb der Bürger-
schaft selbst zum Austrag bringen liefs. Aber gewifs hätte er Mittel
und Wege gefunden, auch ohne Hilfe der römischen Obrigkeit dem
verderbliehen Unwesen zu steuern^ wenn er sich noch als lebendiges
Glied des politischen Lebens gefühlt hätte.
Im Jahre 101 scheint auch die öioUrjaig stattgefunden zu haben,
von welcher Dio im Anschlufs an die Wahlaffaire redet."*) Es scheint
1) Or. 47 § 2 i&e iyd» nqdreQov fihv i&a^fta^ov r&v fpilooötpotv roife xaror
XtTiövras ßtkv rä£ ai^rßv nargidat o68ev6s Avayxd^ovroQ^ naq* äiXot£ Si ^rjv
dXojuiravSf xai raOra dno^a$vo/uirov£ €törai>e Srt Set rijv narpida riuäv nai
Tiepl Tiisiarov nouto&ai xal öri npärreir rd xoivä xal nolittÖBa&at rtp Ar&Qdtntp
xard ipi&aaf iariv, Idyof 8k rdv Ztjrafva, rdv X(fi&atnnov, rdv KXedy&tjv, <5v
o^8£iS otxoi ifteive raCra Xeyövrmv u. s. w.
2) Or. 47 § 7.
3) Or. 45 § 9 ro^o o^ fjv rd nonjoav ifik rijv ^av^iav äytiv^ Iva ft^ 8oxß
xarfjyopetv rivtov ^tj8k 8iaftdXXetr tijv nöXiv /ur^S* Sitae ivTtfj^öre^oe A rßp .
äv&dSe fti^8BvL
4) GaDZ sicher ist dies freilieh nicht. Den termnus ante quem bildet die
22«
340 Viertes Kapitel.
damit eine durchgreifende Reyision zunächst der städtischen Finanzen
von Seiten der Proconsuls gemeint zu sein, dieselbe öiolxrjaig, deren
Herbeiführung sich Dio in der 48. Rede als ein Verdienst anrechnet.
Dieselbe mufs sich aber auch auf die privaten Eigentumsverhältnisse
erstreckt haben, da sie Dio Gelegenheit bot, sein von anderen wider-
rechtlich occupirtes Eigentum zurück zu erlangen. Er liefs indes diese
Gelegenheit unbenutzt und wollte lieber auf seine Rechte verzichten,
als um eigenen Vorteils willen neuen Zwist in die Bürgerschaft hinein-
tragen. Die Zurückgezogenheit von den städtischen Geschäften ermög-
lichte ihm seit seiner Rückkehr eine sorgfältige Verwaltung seines
Grundbesitzes, und weiterhin die Rückzahlung jenes Capitals, welches
er gleich anfangs entliehen hatte, um ihn wieder an sich zu bringen.
So eröffnete sich ihm allmählich einige Aussicht auf die Herstellung eines
mäfsigen Wohlstandes und damit die Möglichkeit, zu den städtischen
Bauten beizusteuern, was er gleich anfangs versprochen hatte.')
Von diesen Bauunternehmungen war Dio gewissermafsen der mo-
ralische Urheber. Der Plan einer baulichen Verschönerung der Stadt
bildete ein notwendiges Glied in der Kette von Mafsregeln, die er, seit
seiner Heimkehr aus der Verbannung, für die äufsere und innere Hebung
Prusas durchzuführen suchte. Wir müssen hier auf den merkwürdigen
Widerspruch hinweisen, der zwischen Dios Moralphilosophie und seiner
praktischen Politik stattfindet. Gerade dieser Widerspruch ist für die
Beurteilung seiner Persönlichkeit von Bedeutung. Als Moralphilosoph
neigt er zur Geringschätzung der äufseren und materiellen Güter und
scheint nur auf die sittlichen Güter Wert zu legen. Als Politiker stellt
er sich auf den Standpunkt der gewöhnlichen Meinung. Ja, in jener
Bauangelegenheit ist nicht einmal der materielle Nutzen, sondern sinn-
liche Pracht und Schönheit, in die er seine Heimat kleiden möchte,
der leitende Gesichtspunkt seiner Politik. Der kynische Sittenprediger,
48. Rede, die, wie ich beweisen werde, dem Sommer 102 angehört. Id der etwas
späteren 45. Rede (siehe weiter unten) heifst es § 10 dtounfaecas v€v n^ßrav
A%&e(ariß. Dieses vtV beweist nicht, dars die StolMijaie kurz vor der 45. Rede
stattgefunden hatte. Es kann damit gut auf ein Ereignis des Vorjahres verwiesen
sein. Da Dio zweifellos im Jahre 100, als er in Rom war, die 8to(xrjais durch-
gesetzt hatte, so wird man nicht länger als bis zum Jahre 101 mit der Ausführung
gewartet haben.
1) Or. 40 §3 inel Si 6 Xöyos ^filv iariv inhQ roü /uij ytsiiaaa&at rijv naXQiSa
ufjSk äTtooreQfjoiu vfjv -öndoxeoiv ^ftäs, ijv i7teo%öfied'a juij^epöe dvayxd^ovroSf
o^Safitos faSlav o^Sä dllytov %Qvjfi&T€ov u. s. w. Or. 4S § 1 1 8iä xl bk naqä. rotJ-
rwv ukv dTtairetref naQ* iuoü Bk oim dTiairelre;
Dio nach der Restitotion. Die bithynischen Reden. 341
der so oft in seinen Ansprachen an grofsstädtische Bürgerschaften be-
tonte, dafs nichl auf der Pracht der Paläste und Marmorhallen, sondern
allein auf dem sitllichen und idealen Geiste die wahre Gröfse einer
Sladt beruhe, wird hier der Anwalt eines nichts weniger als kynischen
Verschönerungsstrebens. War dies ein Widerspruch, wie nicht zu leugnen
ist, so war es doch ein unvermeidlicher. Wenn sich der Philosoph im
bürgerlichen Leben praktisch bethätigen wollte, so mufste er der ge-
wöhnlichen Meinung Zugeständnisse machen. Das galt bei den Philo-
sophen selbst als notwendig und berechtigt. Denn schon Chrysippos
(b. Pliit. de Stoic. repugn. cp. 5) hatte gelehrt: ovto) QrjroQevaeiv xal
TtoXtievoBod-ai %6v ooq>6v, wg xal vov nXovtov ovrog ayad-ov xal
xfig öo^g xai Tfjg vyelag. Es ist kein Widerspruch der Anschauungs-
weise, sondern der, in den jeder Vertreter eines Ideals verwickelt wird,
wenn er im thätigen Leben mitzuschaffen beginnt. Hierauf hatte Dio
nur unter dem Zwange der Not verzichtet. Er hatte auch als Bettel-
philosoph nie aufgehört, nach seiner innersten Tendenz ein av^g no-
kirixog zu sein. Der Weg zu den ethischen Zielen seiner Politik führte
notwendig durch alle die Geschäfte hindurch, in denen auch der nicht-
philosophische Stadtpolitiker damals sich zu bewegen hatte. Wollte er
seinen Mitbürgern in dem Aufschwung ihrer Vaterstadt ein würdiges
Ziel höheren Strebens vor Augen stellen, so durfte die sinnlich greif-
bare Darstellung dieses Aufschwunges nicht fehlen, die der Menschen-
natur Bedürfnis ist. Mehrfach betont Dio, wie das Ansehen einer Stadt
den Behörden gegenüber auch von solchen Äufserlichkeiten beeinflufst
werde. Auch der Fremdenverkehr hänge zum Teil davon ab. Merk-
würdig sind die Äufserungen der 45. Rede über den ovvovKtafiog,
den Dio am liebsten bewerkstelligen möchte. Es geht aus ihnen her-
vor, dafs ein erheblicher Teil der Prusaner seine Wohnsitze nicht in
der Stadt, sondern in der umliegenden Landschaft hatte und dort ein
bäuerliches Leben führte. Diese ländlichen Elemente in dem städtischen
Mittelpunkt zu versammeln, hält der Redner für wünschenswert. Hierin
hegt ein befremdender Widerspruch gegen die Stelle der euböischen
Rede, wo die Rückleitung der städtischen Bevölkerung aufs Land als
Ideal hingestellt wird. Wir haben es hier mit verschiedenen Entwick-
lungsstufen von Dios Ansichten zu thun. Unzweifelhaft gehört ja die
euböische Rede einer erhebUch späteren Zeit an. Übrigens aber redet
Dio hier als Mann des praktischen Lebens, nicht als Philosoph und
leitet sein Programm nicht aus allgemeinen Grundsätzen, sondern aus
der lebhaften Empfindung concreter Bedürfnisse ab.
342 Viertes Kapitel.
Auf die Frage nach den Einzelheiten jenes Bauplanes giebt uds
die Überlieferung nur dürftige Auskunft. Am meisten ist tod einer
Porticus die Rede. Aber aus dem ganzen Verlauf der Angelegenheit
geht hervor, dafs es sich um sehr umfassende bauliche Veränderungen
handelte. So erwähnt die 47. Rede,*) neben der Säulenhalle, die ini.
Sommer Schatten, im Winter einen sonnigen geschützten Spaziergang
gewähren solle, stattliche Gebäude {olxqf^ara vxpr^Xa)^ wie sie einer be-
deutenden Stadt angemessen sind^ fordert auch gleichzeitig, dafs Raum
und Luft geschafft werde und erwartet, dafs die ganze Stadt dadurch
ein ansprechendes Äufsere gewinnen werde. Der Vergleich mit den
berühmten Säulenhallen, welche die Hauptstrafse von Antiocheia auf
beiden Seiten begleiteten, wird von Dio gezogen, um zu zeigen, dafg
die Antiochener eine viel gröfsere Strecke zu bewältigen hatten.*) Da-
raus geht hervor, dafs auch die Säulenhalle in Prusa einen Strafsenzug
von erheblicher Länge begleiten sollte, der freilich neben der riesigen
Ausdehnung jener antiochenischen Strafse winzig erscheinen mufste.*)
Auf umfangreiche Pläne deutet auch die Ausdrucksweise in der 40. Rede :
%r}v noXtv otfxeivov xataaneva^eiv aal aefivorigav noulv anaaar,
sowie die ausgedehnten Niederlegungen von Baulichkeiten und Trans-
locationen von Denkmälern und Heiligtümern, welche im weiteren Ver-
folg der Arbeit nötig wurden. Ich hoffe die Grenzen, die in einer
Darstellung wie der unsrigen der Phantasie gesteckt sind, nicht zu über-
schreiten, wenn ich annehme, dafs diese neue, breite, von der Säulenhalle
flankirte Hauptstrafse mit dem Marktplatz in Verbindung stand und dafs
eine teilweise Neugestaltung der dort belegenen öffentlichen Gebäude
beabsichtigt wurde.
Dio hatte zu diesen weitaussehenden Verschönerungsplänen durch
eine Rede den ersten Anstofs gegeben, die wir nicht mehr besitzen;
die Zeitbestimmung dieser Rede hängt — soweit sie überhaupt möglich
ist — von der genauen Erklärung einiger Stellen der erhaltenen
Reden ab. In der 45. Rede, die dem Jahre 101 oder 102 angehört,
verteidigt sich der Redner gegen den Vorwurf, dafs er durch die Bau-
angelegenheit (iv Tolg ^eQyoig) der Stadt Verdrufs bereitet habe.*) Er
1) Or. 47 § 15 nöXetoS 8k ö^elos eiungenoüs yiyvoftivris, ai^a nXeiova Xni/u^
ßayoi^aijs, e^^vxcoQiav , ro€ fiiv &i^ove oxukv, xoü 8i %F.tucovoe ^Xiov ^Ttd oriyjj^
dvri ^a^hov xai ranetvcäv igemitov olntjuara üy^Xä xai ueydXtjs nöXecas Ä^ta U. 8. w.
2) Cr. 47 I 16.
3) A. a. 0. (ur ^ nöXts ii xai r^idxopra oraditop iarl rd //^xoff xai arode
Jxari^at&ev Ttenotijxaoiv.
4) Or. 45 § 12 iXi^Arjaa S^ iv role t^yois rrjv TiöXtv,
Dio nach der RestUution. Die bithynischen Reden. 343
kano und will nicht io Abrede stellen, dafs ihn der lebhafte Wunsch
erfüllt, seine Vaterstadt durch Hallen und Wasserleitungen zu verschö-
nern und dafs er mit allen Mitteln auf eine Bevölkerungszunahme hin-
arbeiten möchte. ^Aber, i^hrt er fort,') da ich die Ansichten einiger
hiesiger Persönlichkeiten kannte, auch bedachte, wie gering mein Ein-
flufs ist, wieviel Geschäfte ohnehin auf mir lasten und wie kurz die Zeit
meiner Anwesenheit ist, so liefs ich mich auf keine weitaussehenden
Unternehmungen oder auch nur Erwartungen ein; nur brachte ichs
nicht über mich, was mir vorschwebte, für mich zu bebalten, sondern
wie der Verliebte gern von dem Gegenstand seines Begehrens spricht,
so sprach auch ich häufig von dieser Angelegenheit und von ihrem
Nutzen für die Verschönerung, die Bevölkerungszunahme, die Finanzen
der Stadt.^ Auf seine Anregung hin habe damals der Statthalter die
Sache in die Hand genommen*) und zum Gegenstand einer Verhand-
lung der Ekklesie gemacht. In dieser Verhandlung sei auch er, Dio,
mit einer Rede aufgetreten und habe seinen Plan auseinandergesetzt.
Er betont, dafs der Statthalter jene Ekklesie zwar ihm zu Liebe, aber
ohne sein Vorwissen berufen habe. Es kommt ihm darauf an, einen
Teil der Verantwortung von sich abzuwälzen. Seine früheren Äufse-
rungen über die Angelegenheit bis zu jener Verhandlung in der Volks-
versammlung waren rein privater Natur gewesen, ein blofser Ausdruck
seines persönlichen Wünschens und HofTens, den keine politische Ver-
antwortung treffen konnte. Die Initiative zu einer öffentlichen Verhand-
lung der Sache war nicht von ihm, sondern von dem Statthalter aus-
gegangen, und erst durch diese Verhandlung war er gedrängt worden,
mit seinen Plänen hervorzutreten.
Zur Zeitbestimmung dieser Vorgänge bietet die Stelle wenig Anhalts-
punkte. Die Worte: iTtiOTcifievog — xal %ov XQOvov t^q iTtidrjfilag
o%i fioi ßQccxvi; ioTi ftavreXuig machen durch ihre Unbestimmtheit bc-
1) Ebd. § 14 01$ /iijv dXX* imarduevöe ye räe Siavoias rßv iv&dSe Av&Q(&-
Tttov ivitov xcU rijv ifiavroH 8ivafitv xcU rdQ da%oXiaJB xcU rdv %q6vov rijS im-
drjßi/aSj öxi fioi ß^axCs iari TtarreXße, oüre ifnrö/ufjv aiidevds fiei^ovos aCre ijXntr
^ov^ fiövop 8i Ttjv 8$dvoMiv o^K iSvt'd/uijv Ttjv ifiavxoi) xaxi%civ^ äXX diane^, ol
ipdivTes ds/ nore Ttepi rßv touh&xwv 9uiiaatv oltov Koi im&vfioüai^ xd/eb noX-
XdxiS iuefivi^firjv Sv xal ivöttt^ar ovinpi^eiv yeviad'tu rff TtöXst xaraaxevijs irexa
xai awoiMiottov xal 7tQoa69o>v xal fiv^ltov dXXtov.
2) Ebd. § 12 xdra 3* o^ ro€ ifye^dvos Seiofiipov rd n^äyfta^ Tv%dv ftkv
81* i^/uäSf lacas 8k xal St* 4/ti, xal awayaydvroß ixxXijaütp a^ TtpoeiSdros ifioH
xal nepl rovrcav dvayiyvdtaxovroSy o^x idvrtjdt^v rfjv ^av%lav dyeiv^ dXX* drionjv
xai aweßovXfvaa xai ireSsiSdjufjv roZs dyvoovai rd n^äy/ua.
844 Viertes Kapitel.
sondere Schwierigkeiten. Will der Redner sagen, dafs er damals noch
nicht lange in Prusa weilte ? Diese Deutung ist ausgeschlossen, weil der
Redner aus der Kürze seines Aufenthalts den Schluis zieht, dafs er sich
auf kein weitaussehendes Unternehmen einlassen dürfe. Oder will der
Redner sagen, er habe gewufst, dafs er nicht mehr lange in Prusa an-
wesend sein werde? In diesem Falle würde man eher ^iarai, als Uoti
erwarten. Doch scheint dies die einzig mögliche Deutung. Die Schwie-
rigkeit liegt nun darin, den Zeitpunkt zu finden, auf welchen diese
Äufserung pafst. Nach seiner Rückkehr von der römischen Gesandt-
schaflsreise wufste Dio allerdings, dafs er nicht mehr lange in Prusa
bleiben könne. Die sicher nach derselben gehaltenen Reden äufsern
dies mehrfach. Aber es ist ganz undenkbar, dafs die Bauangelegenheit
erst damals in Flufs gekommen sei. Es spricht dagegen zunächst die
allgemeine Wahrscheinlichkeit. In der ersten Freude des Wiedersehens
oder doch in der frischen, schaffensfreudigen Stimmung der ersten Jahre
nach seiner Restitution mufs Dio sein Programm zur inneren und
äufseren Hebung der Vaterstadt entworfen haben. Dies ist eine psycho-
logische Wahrscheinlichkeit. Urkundliche Bestätigung erhält sie durch
richtige Interpretation des Einleitungsabschnitts der 40. Rede.
Gleich aus den ersten Worten erfahren wir, dafs Dio, als er die
40. Rede hielt, vor nicht langer Zeit nach Prusa zurückgekehrt und
seit dieser Rückkehr nicht mehr öffentlich aufgetreten war.') Um die
Rückkehr aus der Verbannung kann sichs hier nicht handeln. Denn
das TtQoregov in § 5, welches den Gegensatz zu vvv yolv el xal fiij
TtQOJBQov bildet^ weist auf einen früheren Aufenthalt des Redners in
Prusa hin, wo er den Entschlufs völliger Enthaltung von öffentlicher
Thätigkeit noch nicht gefafst hatte.*) Damals war er ganz und gar mit
städtischen Angelegenheiten beschäftigt. Jetzt endlich glaubte er den
Zeitpunkt gekommen, der ihm zur Herstellung seiner Gesundheit und
zur Ordnung seiner Vermögensverhältnisse Mufse gewähren sollte. Auch
erwähnt er ein früher gegebenes Versprechen, welches sich auf eine
1) Or. 40 § t ivöftt^ov tiiVf (5 ävS^es, vvv yovv^ ei xai /ri} TtQÖregov, d^eiv
riiv änaaav i^ov%iav^ Seijpo d^txöuevo6f xai /urj npoadrpeod'ai /uijre ixdfv ,uijze
dxtav ftrjSevÖQ xotvoiJ ngdyftaros,
2) Or. 40 § 5 TtpÖTepov yd^ adS* in^ dXiyov a^ol^v ijyayov tarne Sid t^v
i/iavroü TioXvTtpayuoaüvijVf Ss Sedv ivTv%elv iuZv xai ^iXo^povijoao&ai roaoCro
fidvov xai düaai rote &£ols xai vij dla dvayvmvat xd y^dftftara rd roG atJro-,
x^drofoe, Sn dvayxatov ijv^ ineira eö&if£ dva%(ogrjaai xai TQinea&ai. xaO" aj^rds^
Xöyov Tivd flTiov i>Jtkg i^yov rtvöe, o^x a'Crds uövov etc.
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 345
freiwillige Beisteuer zu den Kosten der stadtischen Bauten bezogen
haben mufs.*) Dieses Versprechen könne er erst dann erfüllen, wenn
er in seine eigenen Verhältnisse Ordnung gebracht hätte. Da der
Redner dieses Versprechen als Beweggrund des zurückgezogenen Lebens
anführt, in dem er seit seiner Ankunft verharrte, so mufs dieses Ver-
sprechen einer Zeit angehören, die seiner letzten Abwesenheit von Prusa
voraufging. Dafür spricht noch besonders, dafs dem Redner die über-
nommene Verpflichtung bereits schwer auf der Seele liegt. Zwar mahnt
ihn Niemand an die Erfüllung seines Versprechens. Aber ein uner-
fülltes Versprechen, mag es auch aus freiwiUiger Entschliefsung hervor-
gegangen sein, ist oft drückender als eine klagbare Schuld.*) So konnte
Dio nur sprechen, wenn eine beträchtliche Zeit verstrichen war, seit
er die Verpflichtung übernommen hatte.
Kann nun die im Eingang der Rede erwähnte Rückkehr nach
Prusa keinesfalls die Rückkehr aus der Verbannung sein, so spricht alle
Wahrscheinlichkeit für die Rückkehr von der römischen Gesandtschafts-
reise des Jahres 100. An eine noch spätere Rückkehr zu denken ver-
bietet der ganze Zusammenhang. Wenn der Aufenthalt Dios in Prusa
bis zur 40. Rede mehrfache Unterbrechungen erhtten hätte, so könnte
nicht die ganze frühere Zeit als etwas Einheitliches dem mit der letzten
Rückkehr anhebenden Zeitabschnitt entgegengesetzt werden, wie es § 5
TtQovegov yag ovi* In oXlyov axoXriv ^yayov etc. geschieht. Aus
der auf diese Worte folgenden Schilderung der Mühseligkeiten, die ihm
während seiner früheren Anwesenheit die Mufse geraubt haben, scheint
auch deutlich hervorzugehen, dafs diese frühere Anwesenheit mit der
Rückkehr aus der Verbannung anhebt. Denn nur auf diese kann man
es beziehen, wenn der Redner sagt: ich hätte mich begnügen sollen,
euch zu begrüfsen (ivzvx^lv vfilv xal q)iXog)Qovrjaao^ai), den Göttern
ein Opfer dazubringen (ein Dankopfer nämlich für die Heimkehr aus
der Verbannung) und den Brief des Kaisers zu verlesen, dann aber hätte
ich mich alsbald zurückziehen sollen. Statt dessen verleitete mich mein
Übereifer zu jener Rede u. s. w. Der Brief des Kaisers, der hier er-
wähnt wird, ist identisch mit jenem Briefe des Kaisers Nerva, welchen
Dio am Schlufs der 44. Rede verliest. Er stand, wie wir gesehen haben.
1) Gr. 40 § 3 inei 8ä 6 Xöyos ^/utv iartv ^nkg ro€ fiij yferSaaa&ai n^v TtargiSa
aiiSajußs fqS/av oidi dXfytov %^ri/idrcov u. 8. w.
2) Gr. 40 § 3 and besonders § 4 o^Siv yä^ o€rto d^arat roi>e ö^tilovrae
■öutv rä ToiaifTa iSjiouijunjoxeiPj tbs rd ^/uäs ixlel^a&ai.
346 Viertes Kapitel.
io unmittelbarem Zusammenhang mit der Restitution Dios und verhiefs
zugleich seiner Vaterstadt in allgemeinen Ausdrücken das kaiserliche
Wohlwollen. Könnte man bei diesem Brief noch allenfalls an einen
Brief Traians denken, den Dio aus Rom mitgebracht hätte, so pafst doch
das (ptXoq)Qovriaaad^ai und das d^vaai roig ^eolg unfraglich besser
auf die Rückkehr aus der Verbannung. Für einen Gesandten, der von
der Reise zurückkehrt, die er im Auftrage der Gemeinde unternomaieD
hat, wäre das q>iko(pQovrjaaad'ac ein wenig passendes Ding, zumal an
erster Stelle als Hauptsache aufgeführt. Vortrefflich pafst es dagegen
für den Ausdruck der Liebe zur Heimat, mit welchem Dio in der
44. Rede die Ehrenbezeugungen erwidert, die ihm die Bürgerschaft bei
seiner Wiederherstellung erwiesen hatte, und mit vollem Recht trägt
diese Rede in den Handschriften den Titel: OiXoqiQOvijTixcg rcQog %rjv
ftanqlda. Am Schlufs dieses Oiloq^Qovrjrtxdg Xoyog wird der kaiser-
liche Brief verlesen, der auch an unserer Stelle in Verbindung mit dem
q>iloq)Qovi^aaad'at erwähnt wird.
Die frühere Anwesenheit in Prusa, welche Dio (in der 40. Rede)
der gegenwärtigen, erst seit kurzem begonnenen entgegensetzt, begiDDt
also mit der Rückkehr aus der Verbannung. Wir dürfen hinzufügen,
dafs nach der weiteren Schilderung diese frühere Anwesenheit so ganz
und völlig von den Mühseligkeiten jener Bauangelegenheil erfüllt wurde,
dafs Dio alles übrige hintansetzen mufste. Bei unbefangener Auffassung
wird man nicht geneigt sein, diese intensive Thätigkeit durch den
römischen Aufenthalt unterbrochen und erst durch eine weitere uns
unbekannte Reise Dios beendigt zu denken. Ich möchte schliefslich noch
§ 12 für meine Ansicht ins Feld führen,') wo das Bild von dem Schiff-
bruch im Hafen nur dann ganz passend ist, wenn die Beschwerden, auf
die es sich bezieht, an die Stürme der Verbannungszeit sich anschlössen,
nicht aber, wenn sie viele Jahre später eintraten. Es spricht also alles
für die Annahme, dafs sich jenes deigo aq>Lx6fi€vog im Eingang der
Rede auf die Rückkehr von der römischen Gesandtschaftsreise des Jahres
100 bezieht.*) Natürlich wird damit auch die 47. Rede ungeßlhr der-
1) Cr. 40 § 12 Mai yäg ijv yeloZov ftexä tpvyijv oürms ftaxqäv xai npdyßtaxa
TooaCra xcU r^^awov ixd'^dv SeC^o ä^ixöuevov^ diare Avanaiaaad'cu xai rd
)*oi7t6v imla&iad'ai rßv Tzpörepov '^aXf.nßv, olov an ScivoÜ xaU dyp/ov neXdyovc
xai xettißvos dSoxtJTcaS aof&ivra ftöXiS di ei/votar &eo{f nvoSf inara irraif&a
AoneQ iv Imivt vavayelv,
2) Dafs die Rede selbst und die ilir nahestehenden (41 und 47) nicht mehr
dem Jahre 100, sondern bereits dem Jahre 101 angehören, wurde in diesem Kapitel
S. 336 Anro. 2 bewiesen.
Dio nach der Restitation. Die bithynischeD Reden: 347
selben Zeit zugewiesen, da auch sie § 8 den Entschlufs des Redners
erwähnt, in keiner Öffentlichen Angelegenheit aufzutreten: ev d' iGTe
tioTcsQ TtQoeiXofiriv ai/av, atp^ ov vvv fj'KOv^ ovx av itp&ey^d^tjv
€l ^rj %i avayyMloy ov/ußeßrjxei.
Wenn es mir, wie ich glaube, gelungen ist, diesen Cardinalpunkt
für die ganze Chronologie der bithynischen Reden endgültig festzulegen,
80 dürfen wir sehliefsen, dafs die ersten Anfänge der Rauangeiegenheit
bis in die Regierungszeit des Nerva hinaufreichen, daCs sie den Redner
vor allem in den seiner Romfahrt voraufgehenden Jahren beschäftigt
hat und dafs sie auch nach seiner Rückkehr aus Rom eine Quelle
immer neuer Verwirrungen und Verdriefslichkeiten bildete. Was wir
über den weiteren Verlauf der Angelegenheit aus Dios häufigen, mehr
andeutenden als im Zusammenhang erzählenden Erörterungen entnehmen
können, ist etwa Folgendes.
Die Raupläne waren für Dio ein unentbehrliches Glied im Zu-
sammenhang der mannichfachen Restrebungen für die Hebung und
Förderung des prusanischen Gemeinwesens, die er seit seiner Rückkehr
aus der Verbannung mit Feuereifer betrieb. Auch in seiner äufseren
Erscheinung mufste sich Prusa als ein kräftig aufstrebendes Gemeinwesen
darstellen, wenn je das höchste Ziel der Rürgerschaft, die iXev&eglay
erreicht werden sollte. Aber zwei Vorbedingungen mufsten erfüllt
sein, ehe solche Pläne ernstlicher ins Auge gefafst und der Verwirk-
lichung zugeführt werden konnten, die Reschaffung der nötigen Geld-
mittel und die Einwilligung der römischen Oberbehörde. Die letztere
wurde natürlich nur erteilt, wenn die finanzielle Grundlage des Unter-
nehmens gewährleistet schien. Nun war die Gemeinde Prusa nicht in
der Lage, aus ihren regelmäfsigen Einkünften die erforderlichen Mittel
zur Verfügung zu stellen. Es mufste also die private Freigebigkeit in
die Rresche springen. Die Förderung gemeinnütziger Zwecke durch
freiwillige Reiträge der vermögenden Rürger ist in den griechischen
Politien kein Ausnahmefall, sondern einer der regelmäfsigen Factoren
im städtischen Haushalt. Der in jener Zeit so scharf ausgebildete Gegen-
satz von Arm und Reich wird in seinen Folgen dadurch teilweise aus-
geglichen, dafs mit dem Resitz eines bedeutenden Vermögens Verpflich-
tungen verbunden sind, denen sich Niemand entziehen kann, obgleich
sie nicht rechtlicher, sondern moralischer Natur sind.
Wenn der römische Statthalter eine Verhandlung über die Rau-
angeiegenheit einleitete, so that er dies natürlich nicht ohne vorauf-
gegangenen Antrag von Seiten der Gemeindebehörden. Dio war es
348 Tiertes Kapitel.
Dicht, der diesen Antrag gestellt hatte; wohl aber galt er als der geistige
Urheber des Planes. So war es denn unvermeidlich, dafs er in der
öffentlichen Verhandlung selbst auftrat, uro der Bürgerschaft Bauplan und
Kostenanschlag vorzulegen und die Vorteile, die er sich von dem Unter-
nehmen versprach, zu entwickeln. Der Erfolg dieser Rede war ftlr die
Verwirklichung des Unternehmens ein überraschend günstiger. Weder
von Seiten der Beamten noch von Seiten des Demos wurde ein Wider-
spruch erhoben.*) Allen leuchtete die Sache ein und mehr noch —
schon bei dieser ersten Verhandlung, scheint es, worden bedeutende
Summen für die Baukosten gezeichnet.^ Der Statthalter gewann die
Überzeugung, dafs die erforderlichen Mittel aufzubringen seien und ver-r
sagte seine Einwilligung nicht.
Einen ähnlichen Verlauf nahmen auch die zahlreichen weiteren
Verhandlungen im Rat und in der Volksversammlung, in denen wohl
auf der Grundlage jener erstmaligen principiellen Verständigung die
Einzelheiten des Planes nach der technischen und flnanziellen Seite
durchberaten wurden.^) Unter den Bürgern, welche Summen zeich-
neten, war auch Dio selbst. Aber immer wieder betonte er, dafs dem
Demos die Entscheidung zustehe, dafs der Demos die Verantwortung
übernehmen müsse. Durch all diese Erklärungen konnte er nicht ver-
verhindern, dafs die Verantwortung an seinem Namen haften blieb. Die
grofse Bereitwilligkeit der prusanischen Geldmänner zur Beteiligung mag
in besonders günstigen wirtschaftlichen Conjuncturen ihren Grund gehabt
haben, die sich später änderten.
Als die Vorbereitungen zu dem Bau begannen, scheint Dio in ofß-
cieller Eigenschaft, als Commissar der Gemeinde, längere Zeit die Ober-
aufsicht über die Arbeiten geführt zu haben. Darauf deutet doch wohl
die Schilderung der 40. Rede, wie er mit endlosem Hessen und Rechnen
und allerhand bautechnischen Fragen sich zu befassen hat, von denen
1) Or. 45 §16 xcU /uerA raCra <rö% 6 fikv 8fjfios ^juels ine&vjuijaarg rßv
ipyofVf rdiv dh iv riXei rie AvreZnev^ oiSk dvreZne /uiv oiSeiQ^ ov /uilv Ttpo&v^oiii-
/uevos e^fi&Tj xai avuTtQdxTtov^ dXXä ndvres (bs in* dya&ote oiSoi xai avfupi^ovatPy
ov Xöycp uövoVf avftn^drrovres xai aweiOfi^ovrcs,
2) Or. 40 § 6 ToÜTov iuoü röre einövTos rdv Xöyov^ inijp&rj re npös tvör&v
6 Srjftos — xai noXXoi TtpoerpdTtijaav ^iXorifirid'rjvai räiv noXirßiv o. 8. w.
3) Or. 40 § 6 TidXtv Si ^arepov iuov rd srpäy/ua itp {>utv noiovuivov noX-
Xdxis fihv iv T^ ßovXevrrj^itp^ noXXdxis S^ iv r^ d'edr^^^ Iva et urj Soxi/ud^are
jurjSk ßoiiXotod'e urjSiva ivo%Xßj' rrjv ydp da^oXiav rrjv iaof^ivrjv ^TZi&nrsvöv ftoi
neql TaCra' noXXdxts fihv tJjp' ifißv ixv^io&Tj, noXXdxtS Si "önd rdiv i^ye/növcovy
aöSsvös dvreiTiövTos,
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 349
er wenig oder nichts versteht.*) Nur wenn er in amtlicher Eigenschaft
diese Geschäfte betrieb, können wir begreifen, dafs sie ihn so völlig
in Anspruch nahmen. Schliefslich mufste er gar das Brechen des Bau-
materials in den Steinbrüchen des benachbarten Olymposberges beauf-
sichtigen, wobei er sich, trotz des tröstlichen Bewufstseins erfüllter
Bürgerpflicht, nicht recht in seinem Elemente fühlte. Wen erinnert
nicht dieser Zug an Plutarchos, der in Chaironeia die Strafsenreinigung
überwacht? Wir verstehen, dafs Dio diese Art von praktischer Beschäf-
tigung und Pflichterfüllung in der Ausführung schwieriger und weniger
befriedigend fand, als er erwartet hatte. Aber er unterdrückte dieses
Mifsbehagen, weil sein Ideal bürgerlicher Tugend diese Entsagung
forderte.
Je weiter die Bauthätigkeit vorschritt, desto mehr häuften sich un-
vorhergesehene Schwierigkeiten. Es entstand nachträglich, nachdem die
Arbeiten längst begonnen hatten, eine heftige Gegenströmung, der es
fast gelungen wäre, ihre Weiterführung zu hintertreiben.^) Schwerlich
war es nur Hafs und Neid gegen Dio, der die Bewegung hervorrief,
obgleich Dio selbst das Verhalten der Gegner auf diese niedrigen Be-
weggründe zurückführt. Unzweifelhaft spielten auch diese persönlichen
Motive eine Rolle. Wir werden mit hoher WahrscheinUchkeit annehmen
dürfen, dafs jener Flavius Archippus, den wir als Dios Feind aus den
Pliniusbriefen kennen lernen, auch damals einer der ärgsten Hetzer war.
Aber die Ursachen für den Wechsel der öfifentlichen Meinung müssen
tiefer gelegen haben. Wir können darüber nur unsichere Vermutungen
aufstellen. Einem grofsen Teil der Bürgerschaft mochte die Zerstörung
der älteren Gebäude, an deren Stelle die neuen sich erheben sollten,
wirklich ein Gegenstand des Ärgernisses sein. Man braucht sich nur
vorzustellen, wie tief die Expropriationen in die Verhältnisse zahlreicher
Privatleute eingreifen mufsten und wie leicht dabei der Einzelne sich
benachteiligt glauben konnte, selbst wenn von Seiten der Gemeinde mit
gröfster Gewissenhaftigkeit verfahren wurde. Mancher, der anfangs
freudig dem Plane zugestimmt hatte, mochte bedenklich werden, als er
nun wirklich das altgewohnte und durch Gewohnheit mit einem Schein-
wert bekleidete vom Erdboden verschwinden sah. War einmal das Ge-
1) Or. 40 § 7 inei 3h AqxAv Haßev, daa ukv aörde Mna&ov fier^&v xai Sia-
uBTQ&v xcU Xoyi^ö/uevoSy öntos ^i) yivoiro dnpeTiis firjSi a^^etov — xai reXev-
ralov eis rd öqti (p&eigöfievoSj oüx div ittTtetpos raiv roio^rtov o^Sevös — — km
vüv ine^iävai,
2) Vgl. namentlich or.40 §8—12.
350 Viertes Kapitel.
fühl des Volkes gegen die Neuerung eingeDommen, wurde es durch
agitatorische Betriebsaiiikeil noch mehr erregt, kamen einzelne berech-
tigte Klagen der Leute hinzu, in deren Geschäfts- und VermögensTcr-
hältnisse die Neuerung eingriff, so war damit für ein fortwucherndes
Hifstrauen gegen die Leitung und Ausführung der Neubauten der Boden
bereitet. Aus Dios Erwiderungen geht mit besonderer DeutUchkeit her-
vor, dafs die am Ahgewohnten hängenden Gefühle des Volkes von den
Gegnern des Entwurfes ausgebeutet wurden. Man warf ihm vor, dafs
er die Stadt zerstöre, die Bürger ihrer Heimstätten beraube, das Oberste
zu Unterst kehre.^) Besonders hatten die Gegner über die Abtragung
einer alten Schmiedewerkstatt ein ungebührliches Geschrei erhoben.
Nach Dios Schilderung handelte sichs um einen häfslichen, niedrigen,
halb verfallenen Schuppen, kaum so hoch, dafs ein Mensch sich darin
aufrichten konnte, ohne mit dem Kopf gegen die Decke zu stofsen.*)
Wenn der Proconsul nach Prusa kam, so schämte man sich vor ihm
der betlelhaften alten Bude, die wohl gerade an der Hauptstrafse und
in der Nähe der wichtigsten Offentüchen Gebäude lag, und wenn der
gnädige Herr der Stadt ungnädig gesinnt war, so durfte man sich auf
ein beifsendes Witzwort über die prusanische Baupolizei gefafst machen.
Wenn der Schmied und seine Gesellen in halbgebückter Stellung — denn
aufrichten konnte man sich nicht — ihre Arbeit verrichteten, so zitierte
bei jedem Hammerschlag das ganze Haus, barst in seinen Ritzen weiter
und drohte jeden Augenblick zusammenzustürzen. Und gleichwohl wurde
die endliche Entfernung dieses Denkmals der Dürftigkeit und Unehre
mit einem Pathos bejammert und beklagt, als ob es sich um Parthenon
und Propyläen oder sonst ein hochberühmtes Bauwerk handelte.') Einem
noch gröfseren Widerstand begegnete die durch den Bau geforderte Ver-
1) Or. 40 § 8 Xöyoi S* iyiyvovjo Ttokkoi, o^ TrapA noXXßv Si, xai a^dd^a
drjStle, diS xaraox&Ttxoi rr^/r ttöIip, (be dvdoTarov nenoirjua oj^eSdv iieXaCvtm'
roi>s noliraSy d/s dr/j^ijTai Tzdvra, av/xi^vratf Xotnöv oiSiv Sarir,
2) Ebd. § 9 aiaypd xai xarayiXaara kgeimay 7ToXi> ranftvörega rßv xXfiaicaVy
oh lÖTtoS^erai rd Tipößara, rßv noiuivon- dk a^8els Av Süvairo etoeX&eZv o^Si
r&v yevf'aioripcav xwöJv' iq>* oh iutJs fikv ^Qv&giäre xai Sierpinea&f rdh^
ijys/uöra}V eiaiövratv^ ol Sh dijSiöe i%ovrts Tt^de -öftäs ini%ai^ov xai iyiXwv önov
urjd'a rote %aXxei)Oiv iiijv Stdgao&ai oiedöv^ dXXd ei^yat^ovro xexv^ÖTtC xai ra€Ta
TziTCTorra xai {>7ifQi^Qt>iattivay & Tipde rr^v TrXrjyi^r rov ^aiairJQOs Mr^e/ue xai
8itararo.
3) Op. 40 5 8 diontQ rdiv *A&i^'r}Ot UpoTtvXa/iov xtrovttivmv fj roiJ JTap&t
9 fj TÖ l'auituv 'H^aiifv i^uäi dvar^inovras fj rd Mikrjoiatv ^Mueioiß ij rd
V(ovos fj rd l'auituv 'H^aitfv i^uäi dvarpiTiovras fj rd Mürioiatv ^Mueioiß ff rdtf
vtdtv TTJe Efftoias ^yi^riuiSos,
Dio nach der ResUtutioiL Die bithynischen Reden. 351
legung voD HeiligtUmero uod Denkmälern (IcQa und iivriiiata)^) Um
die religiösen Bedenken zu beschwichtigen, die yon der Menge aufrichtig
gehegt, von den Führern als politische Kampfmittel ausgenutzt wurden,
weist Dio darauf hin, dafs auch in andern Städten grofse bauliche Ver-
änderungen nicht ohne Verlegungen der gedachten Art durchgeführt
werden konnten. Ist es denkbar, dafs in Antiocheia, wo die Säulen-
hallen eine Strafse von 36 Stadien Länge begleiteten, keine solchen Ein-
grifTe erforderlich waren? Besonders glaubt der Redner sich auf das
benachbarte Nikomedeia berufen zu dürfen, dessen Bürgerschaft aus-
drücklich durch Volksbeschlufs die Translocalion der Denkmäler gutge-
heifsen hatte.^ In derselben Stadt hatte ein gewisser Makrinos, dem
die Prusaner die Ehren eines Wohllhäters der Stadt decretirt hatten,
den sie also unmöglich für einen gottlosen Menschen halten können,
die Entfernung des Denkmals und der Bildsäule des Königs Prusias vom
Marktplatz bewirkt. ^Giebt es denn nur bei uns gottesfürchtige Männer,^
fragt Dio, „nicht auch in jenen Städten?'^
So sehr die Eingriffe in das Bestehende, die wir geschildert haben,
bei der Masse des Volkes als Gefühlsmomente mitwirken und von den
Demagogen ausgebeutet werden mochten, so darf es doch als sicher
gelten, dafs die Hauptursachen der Gegenströmung auf einem anderen
Gebiete lagen. Wir können nur ahnen, dafs es vor allem technische
und finanzielle Schwierigkeiten waren, durch welche die mit Feuereifer
begonnene Bauthätigkeit bald ins Stöcken geriet. So viel ist sicher,
dafs die anfangs mit grofser Bereitwilligkeit gezeichneten Beiträge der
Privaten teilweise nicht rechtzeitig gezahlt wurden. Man würde gern
wissen, in welcher rcchtUchen Form diese mtoaxioeig geleistet wurden.
Dafs es in einer Form geschah, welche einen klagbaren Rechtsanspruch
der Gemeinde begründete, ist an sieh selbstverständlich und wird über-
dies durch die Äufserungen der 47. und 48. Rede bestätigt, welche dem
Proconsul die Befugnis zur Eintreibung der Summen zuschreiben.') Aber
wie erklärt es sich, dafs die Leistung von einigen, z. B. von Dio selbst,^)
1) Or. 47 § 16. 17.
2) Or. 47 § 16 ol iyrqipioavTo rä fin^fiara uerai^eiv, 6 Si McucpZvoSf Sv
etfepyirrjr dve/^dtpare rijs TtöletoSj rd üqovalov ro€ ßaaiXiüßS uprj/uetop fietfj-
veyxev ix rijs ayopäs xai töv avSgiAvra,
3) Or. 47 §19 7iaiQ€txaXfZv rdr avd^narovj öntos nqqa>9 xai npds Hvauiv
eianqdxTn roifs ineoxrj/uivovt, Or. 48 §3 verglicheo mit §11.
4) Or. 40 §3.4« Or. 48 § 11 Std ri Sä noQd rojiran' fikv oTicurelre, naq'
iuoü 9k ovx cLTtaiTitre;
^52 Viertes Kapitel.
um soviele Jahre hioausgescboben werden koDOte? Irgendwie mufs
doch die Fälligkeit der Zahlungen in der über die Pollicitationen auf-
genommenen OfTentlichen Urkunde geregelt gewesen sein. Ich ver-
mute, dafs dies durch Festsetzung nicht sowohl bestimmter Fristen, als
vielmehr einer Reihenrolge der Verpflichteten geschah. Oder die Ver-
pflichtung des Einzelnen bezog sich, wie es oft in den inschriftiicb er-
haltenen Bauurkunden vorkommt, auf bestimmte einzelne Bestandteile
der zu errichtenden Gebäude. In beiden Fällen konnte die durch
schlechte Ernten oder geschäftliche Krisen hervorgerufene zeitweilige
Zahlungsunfähigkeit eines einzelnen Verpflichteten unter Umständen die
Fortführung des ganzen Baus unmöglich machen. Erst wenn der eigent-
lich zur nächsten Zahlung Verpflichtete seiner Pflicht nicht nachkam,
konnte der Fall eintreten, dafs von dem guten Willen eines andern die
Fortsetzung der Arbeit abhing. Leicht konnten nun die Gegner des
Unternehmens solche gutwillige Zahler von ihrem Vorhaben abzubringen
suchen, indem sie ihnen vorstellten, dafs doch nichts aus der Sache
würde, dafs sie ihr Geld wegwürfen, dafs sie nicht ohne Not die Grofs-
mütigen spielen sollten; und in demselben Sinne konnten sie all jene
früher besprochenen Bedenken gegen die Wegräumung des Besteheoden
geltend machen. Dafs dies wirklich geschah ergiebt sich aus or.40 § 12.')
Solche Verhältnisse, wie ich sie zu schildern versucht habe, müssen
schon im Jahre 99 bestanden haben, als Dio in amtlicher Eigenschaft
die Oberaufsicht über die Bauten zu führen hatte; sie dauerten noch
fort in den Jahren 101 und 102, aus denen uns in der 40., 47. und
48. Bede darauf bezügliche Kundgebungen Dios vorliegen. Wenn die
entwickelte Ansicht richtig ist, dafs die 40. und 47. Bede zeitlich nicht
weit von einander liegen und beide dem Jahre 101 angehören,^) so dürfen
wir sie verwenden, um über Dios Verhältnis zu der Bauangelegenheit
in dieser Zeit Auskunft zu erhalten. Es ist nun ohne weiteres klar,
dafs Dio, als er die 40. Bede hielt, kein öfl'entlicbes Amt bekleidete;
1) Or.40 §12 öftcos 8* ini rojirots axerlid^orree xcU roiavra Xiyovres xcU
SiSövai /urjSiva iiovres xai role M^yots iftnoSdtv ytyvöfjevoi, o^rtus ifih SU&tjHOpf
•tSare dXlyov fvyrjv iftavrov xaray.'rjfiaaad'ai. Zur freiwilligen Leistang einer
nicht falligen Zahlung erbietet sich Dio or. 47 §19 xal tovto iroiuos noietv aii
uövov, AXXä xal wurds ovftßal),fO&ai fiiQoi t^s iönoa%ioeoiS , düare xov^/^ea&eu
roifs äi,lov£.
2) Dieses Datum ergiebt sich für die 40. Rede, wie oben bemerkt, durch
Combinatioo des auf die Rückkehr von der Romreise bezüglichen d^^ o^ vffv ^xov
§ 1 mit den Nachrichten über die beiden späteren Gesandtschaften in § 13 und § 33.
Dio nach der Restitution. Die bithynisclien Reden. 353
deno nur in diesem Fall konnte er den Vorsatz fassen, sich weder
freiwillig noch unfreiwillig mit öffentlichen Angelegenheiten zu befassen.')
Er hatte damals die Stellung eines Aufsehers der städtischen Bauten
nicht inne. Dazu stimmt es auch, dafs er §7 ff. die Unmufse, die ihm
aus jener amtlichen Thätigkeit erwachsen war, durchaus als etwas ver-
gangenes, in die Gegenwart nicht mehr hineinreichendes hinstellt. Zu-
gleich aber merkt man, dafs ihm daran gelegen ist, über die Bauange-
legenheit einmal wieder seine Meinung zu sagen. Der ganze auf sie
bezügliche Abschnitt dient ja scheinbar nur zur Begründung der Be-
hauptung, dafs er bisher für die dringendsten Privatangelegenheiten
keine Zeit tinden konnte. Da aber für diesen Zweck ein so ausführ-
liches Verweilen bei dem Gegenstande nicht erforderlich war, dürfen
wir schliefsen, dafs Dio mit Fleifs die Gelegenheit aufsucht, sich über
die Sache zu äufsern; und hieraus folgt weiter, dafs sich die Sache
wieder einmal in einer Krise befand. Die heftigen Ausfälle gegen die
dem Bau feindliche Partei in § 10 und 11 müssen durch gegenwärtige
Verhältnisse veranlafst sein. Ich kann nicht glauben, dafs Dio seinem
Unwillen über längst vergangene Sünden seiner Gegner ohne besondere
Absicht so freien Lauf läfst. W^ährend der ganze auf die Bauangelegen-
heit bezügliche Abschnitt wenigstens scheinbar in den Gedankenzusam-
menhang der Rede eingefügt ist, sind die Bemerkungen in §13 — 15,
welche sich auf die übelwollende Beurteilung der Ergebnisse seiner
Gesandtschaft bezieben, ganz ohne Verbindung dazwischen geworfen.
Weil es aller W^ahrscheinlichkeit nach dieselben Personen waren, die in
beiden Angelegenheiten dem Redner feindlich gegenüberstanden, hat er
sich durch seinen Ärger hinreifsen lassen, diese polemischen Bemer-
kungen hier einzuschalten.
Einer späteren Entwicklungsstufe der Angelegenheit mufs die
47. Rede angehören. Denn während der Redner in der 40. Rede
zum ersten Mal das Schweigen zu brechen scheint, das er sich auf-
erlegt hatte, ist er sich in der 47. Rede schon klar darüber, dafs, so-
lange er in Prusa weilt, an keine Mufse für ihn zu denken ist. Zwar
spricht er auch hier wieder von seinem Vorsatz, zu schweigen;') aber
wenn man die Form, in der dies hier geschieht, mit der Einleitung der
1 ) Or. 40 § 1 kvöfii^ov uiv, (5 ävS^es Ttoltrai, rvv yovvj ti xai //j} n^örc^ov,
ä^eiv rijv änaaav ^avxiav , SeO^o a^ixöfievos, xai ,urj npoodxpeaO'ai jutjrs ixdtv
firiTB äxtov fitjSevds Hotvoi) npdyftaroe.
2) Or. 47 § 8 £^ S* iare, diaTrep npoeUÖurji^ oiyäv, atp* oiT vvv ^xov, aix Ar
iff 9'eyidf4rjv el uij rt avayxaXov av/ußeßijxsi,
V. Arnim, Dio. 23
354 Viertes Kapitel.
40. Rede vergleicht, so kann man sich leicht aberzeugen, dafs jene
froher sein mufs. Die 47. Rede setzt voraus, dafs die Rauangelegenheit
gegenwärtig die ganze RUrgerscbaft in heftige Aufregung versetzt, und
handelt von dieser gegenwärtigen Not, während die 40. Rede nur von
vergangenen Nöten mit einem SeitenbUck auf die Gegenwart berichtet.
Die Unruhen, die sich zur Zeit der 40. Rede vorbereiteten und den
Redner zu jener Abschweifung veranlafsten , sind inzwischen wirklich
zum Ausbruch gekommen, und da die Angelegenheit, als deren geistiger
Urheber er unabänderlich in Prusa gilt und deren ganze Verantwortung
ihm aufgebürdet wird, seinen Namen in gutem und bösem Sinne auf
allen Gassen widerhallen läfst, so bleibt ihm allerdings keine Wahl. Er
mufs nochmals versuchen, die öfTentliche Meinung in die rechte Bahn
zu lenken.
Man darf freilich nicht meinen, dafs Dio unthätig der Entwicklung
der Sache zugesehen habe, bis er mit dieser Rede auftrat. Aus ver-
schiedenen Andeutungen der 47. Rede geht unzweideutig hervor, dafs
er den Vorsatz: fifj nQoadipaa&ai firjTe kxiov fAi^re axwv fitjdevdg
xoivov Ttgay^arog längst aufgegeben hatte — denn wie konnten sonst
seine Feinde ihn als Tyrannen bezeichnen? — und dafs er besonders
in der Bauangelegenheit seinen Einflufs mit solcher Thatkraft geltend
gemacht hatte, dafs dieser Einflufs von einigen Widerstrebenden als
tyrannischer Druck empfunden wurde. Aber seine Einwirkung nach
dieser Seite war durch keine amtliche Stellung gestützt gewesen und
durch kein öffentliches Auftreten zum Ausdruck gekommen. Ohne ein
Amt zu bekleiden und ohne in Rat oder Volksversammlung aufzutreten,
hatte er durch sein persönliches Ansehen die eingetretene Stockung zu
heben gesucht. Einen besonders deutlichen Einblick in die augen-
blickliche Lage giebt § 18.^) Dio sagt hier, er wisse nicht, wie ers
der Bürgerschaft recht machen solle; wenn er die Angelegenheit tüch-
tig angreife und zu fördern suche ^ so treffe ihn der Vorwurf, dafs er
tyrannisch vorgehe, die Stadt und die Heiligtümer zerstöre; wenn er
sich hingegen nicht um die Sache kümmere, um nicht zum Stein des
1) Gr. 47 §18 nXfjv ö ye ^iliooa, ovfißovXe6oaT6 ftot, t5e i/cb ßovXö^ef'OS
i^uiv dpiaxftp ndi'Ta tqötiov d7iopc5, t^vv ydp iäv äTirrttttat rov Trpdyitaroe Moi
anov^d^of ylyvaad'ai rd fyyov, wQat'vfJv fti tfaai nvee xai xaraoxdnretv njv
nöXiv xai rd Upd ndvra. SijXov ydp Srt iväTipijaa töv reibv rov ^%69 — — .
idv 8h r^v ^av^tav äyat, urj ßovXö/tevos fitjSiva oxfvoxot^slv /urjSk Ttpoox^oiieiv
/ui^Ser/y ßoäre v/ufZi, riyvia&fo rd ipyov ij xa&aiQclad'ot rd yeyorös' <&aneQ
iuol roüro 7ipoy>iporree xai öreiSi^ovreS»
Dio nach der RestitaUon. Die bithynischen Reden. 355
Aostofses zu werden , so sei man wiederum nicht zufrieden , sondern
fordere stürmisch den Fortgang der Arbeit oder die Wiederabtragung
des bisher fertiggestellten. Nichts kann gewisser sein, als dafs die Be-
hauptung im ersten Teil dieser Alternative die zuletzt und ganz kürzlich
gemachte Erfahrung des Redners ausspricht, während der zweite Teil
auf die erste Zeit nach der Rückkehr aus Rom zu beziehen ist. Es
wird nicht nötig sein auch die übrigen Stellen der Rede herzuzählen,
welche beweisen, dafs Dio vor derselben eifrig für die Sache thätig ge-
wesen ist. Ich verweise nur noch auf ^yefiovag ^egoTtevecv in § 21
und auf die erste Hälfte von § 23.
Welcher Art waren nun diese Bemühungen Dios? Teils suchte
er säumige Zahler zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen zu bewegen,
teils zwischen diesen und dem Proconsul zu vermitteln, indem er ihn
einerseits abhielt gegen Unvermögende mit Strenge vorzugehen, anderer-
seits vielleicht gegen bösen Willen zu Hilfe rief, teils scheint er auch
gegen Unordnungen, die in der Rechnungsführung und Verwendung
der Baugelder vorgekommen waren, eingeschritten zu sein. Das letztere
scheint aus § 19 hervorzugehen.^) Diese Thätigkeit Dios mufste natür-
lich die Gegenpartei um so mehr aufbringen, je erfolgreicher sie war.
Sie beriefen sich besonders auf das illegale eines solchen Einflusses, der
ohne amtliche Stellung in den wichtigsten Dingen den Ausschlag gebe.
Wie früher die Niederlegung der Schmiedewerkstatt, so scheint jetzt die
Verlegung von icQa und ^vrjfiara das Schlagwort gebildet zu haben.
Auch scheint man versucht zu haben, Dios Eifer für die Säulenhalle
als Ausflufs persönlicher Eitelkeit und Ruhmbegierde hinzustellen.*) Man
wird endlich nicht verfehlt haben, auf Dios rednerische deivorrjg hin-
zuweisen, die als Irrlicht die Bürgerschaft in den Sumpf hineingelockt
habe und immer tiefer hinein locken werde.
Dies dürften etwa die Voraussetzungen für das Verständnis der
47. Rede sein. Die Kunst des Redners zeigt sich darin , dafs er die
Vorstellung irgendwelcher duvozrig^ durch die er auf die Gemüter ein-
wirken könnte, völlig fernzuhalten weifs. Er giebt sich sogar den
1) Or. 47 § 19 nal nepi rßv äXXtov &7tdvxtoy (^tröSäv igß)^ <yöSk äv fi riQ
fyyov nsTioitjxt&e f ^nkg oi Xöyov nii iiintxev, oid^ Ar in Ttoißv xcU %Qi^fiara
lafißdvoiv dei napd rßv xar* iros dQ%6vTtov, Saneg eis rdv Anltjarov nld'ov
rdSe Xrjxpößievos, adSä &v dXXo ri yiyvtixcu.
2) Or. 47 § 17 r/ yd^ ifioi r^s iv&dSe aroäe; dianef arin i^oprd /r«, ÖTtoi
ßo^Xofiai negiTcareZVy rrjv üoutlXrjv 'ji&i}njai u. 6. w. ^ fi&vov iiovrd fie xcU
TtegiTtari^oovraL, rßv Sk dXXwv o^8iva noXträhf,
23*
856 Viertes Kapitel.
Anschein völliger Absichtslosigkeit. Er will garnichts erreichen, er will
nur das Volk fragen, was es eigentlich von ihm verlangt. Immer wieder
b(*tont er, dafs er kein selbstsüchtiges Interesse an der Vollendung der
Säulenhalle habe, dafs ihm auch wenig daran gelegen sei, in Pnisa
seinen Willen durchzusetzen. Die Gründe, die zur Empfehlung des
Unternehmens dienen können, werden zwar vorgebracht; aber jedes-
mal wird ihnen zur scheinbaren Abschwächung ein Ausdruck persön-
licher Gleichgültigkeit hinterhergeschickt, der ihre Wirkung noch ver-
stärkt. Während die Widersacher ihn als einen Mann geschildert
hatten, der um jeden Preis seinen Kopf durchsetzen wolle und wie
ein Tyrann in Prusa schalte, nimmt er hier den Standpunkt ein, dafs
man Niemand zu seinem Glücke zwingen dürfe. Die Widersacher
sorgen eigentlich am besten für sein Wohl, wenn sie ihn verhinderD
wollen, sich mit den städtischen Dingen zu befassen.*) Sein bester
Freund könnte nicht besser für ihn sorgen. Wenn Prusa ihn nicht
braucht, er braucht Prusa sicherlich nicht. Er kann nur froh sein,
wenn sein Opfer nicht mehr angenommen und er dadurch von der
Qual erlöst wird, die jedem Philosophen das Leben in der Vaterstadt
bereitet. Ihm steht die weite Welt offen ; überall winkt ihm Ruhm,
Ehre, Freiheit. Fröhlich wird er von dannen ziehen und den Staub
von seinen Füfsen schütteln.
Wir müssen immer im Auge behalten, dafs der Hauptzweck der
Rede die Umstimmung des Volkes in der Bauangelegenheit ist. Dieser
Zweck wird erreicht, obgleich oder vielmehr weil der Redner nicht mit
voller Entschiedenheit für den Bau eintritt. Denn die Thatsache des
Erfolges ist durch die Worte § 20 /iij fioi vo^l^ere xagll^ead^ai tcbqI
TTJg aroag ijtißowvreg bezeugt. Obgleich oder vielmehr weil er mit
keinem Worte seiner Verdienste um die Stadt gedenkt, wird das Volk
desto lebhafter an sie erinnert, wird sich seiner Undankbarkeit bewufst
und von dem W^unsche erfüllt, sie wieder gut zu machen. Dio ent-
waffnet die Gegner, indem er selbst die Waffen wegwirft, und das ver-
blüffte Volk kann nur wünschen, dafs er sie wieder aufnehmen möchte,
da ihm nun erst klar wird, dafs Dios Kampf für eine gute Sache ge-
kämpft wurde. Es ist ungeheuer schwer, eine so im lebendigen Augen-
blick wurzelnde Rede ohne Einzehnterpretation erschöpfend zu charak-
terisiren. Ich wenigstens bin mir bewufst, den Reiz des Ethos nur
zum kleinsten Teile schildern zu können. Die Schwierigkeit wird noch
1) Zum folgenden vgl. §20.21.
Dio nach der Restitution. Die bitliynischen Reden. 357
besonders durch die zwanglose Form der Mitteilung erhöht, die es völlig
unmöglich macht, eine Disposition, wie sie der schulgerechten Rede zu-
kommt, nachzuweisen. So spricht der Freund zum Freunde, der ihn
durch Undank gekränkt hat, wenn er ohne offenen Vorwurf ihm seinen
Fehler zum Bewufstsein bringen will. Es ist vor allem die überzeugende
Wahrheit des Ethos, die, ohne demosthenischer oder lysianischer Rabu-.
listik zu bedürfen, in dieser Rede ihre Macht bewährt; und die kluge
Berechnung des Wirksamen ist in diese Wahrheit des Ethos so völlig
aufgehoben und mit ihr verschmolzen, dafs man nirgends durch auf-
dringliche Absichtlichkeit verstimmt wird. Lebensklugheit und Lauter-
keit der Gesinnung stehen hier nicht mehr in Widerstreit. Der Erfolg
der Rede war jedenfalls der, dafs Dio von Seiten des Volkes eine Ver-
trauenskundgebung empfing, die ihn ermächtigte und bestimmte, seine
Abreise von Frusa vorläufig noch zu verschieben und auch weiterhin
für die Förderung der Bauangelegenheit zu sorgen.
Jedenfalls ist es ein späterer Zeitpunkt, auf den sich die Erwähnung
derselben in der 48. Rede bezieht. Diese während der Anwesenheit
des Proconsuls Varenus in Prusa gehaltene Ansprache setze ich aus
später zu entwickelnden Gründen in den Sommer des Jahres 102.
Das Bild, welches wir durch Dios ziemlich kurze Erwähnung von dem
Stande der Angelegenheit erhalten, ist ein von dem vorigen wesentlich
verschiedenes. Dio setzt nunmehr bei dem Volke den Wunsch voraus,
dafs die Arbeit fortschreiten möchte. Die Opposition war inzwischen
verstummt. Statt dessen scheint das Volk nun auf die säumigen Zahler
erbittert und gewillt durch Klage beim Proconsul die Zahlungen zu er-
zwingen. Dio rät hiervon aufs entschiedenste ab.') Es wird nicht
nötig sein, die Sache bei der römischen Regierung anhängig zu machen,
ein Schritt, der viel Bedenkliches hat und nur im äufsersten Notfall
gethan werden dürfte. Dio glaubt dem Volk die beruhigende Ver-
sicherung geben zu dürfen, dafs ohne solche gewaltsamen Schritte die
Sache bald ins rechte Fahrwasser kommen, die Zahlungen geleistet und
die Arbeit wieder aufgenommen werden dürfte.*) Auch ihm selbst war
es noch immer nicht möglich geworden, seine Schuld abzutragen. Er
deutet an, dafs man ihm um seiner sonstigen Verdienste willen gern
die Schuld erlassen hätte, erklärt aber, dafs es ihm fern liege von dieser
t) Or.48 S 3 verglichen mit § 9—11.
2) Op. 48 § 11 äXX* tatos iSvaxe^dvare Sri otJx iyivero rd igyov, yiyvBxai
xal OföSga iarai raxiats^ ^dXwra roiörtov n^odvftovttirwv xai OTiovSa^örrtuv,
iäv ixovri dtSßatv oidb yStp äxorrss i6ulr lÖTtia^ovra,
868 Viertes Kapitel.
Nachsiebt Gebrauch zu machen. Was dem einen recht ist, ist dem
andern billig.^) Er denkt nicht daran, sich seiner Verpflichtung zu
entziehen. Dies ist die letzte Spur der Bauangelegenheit in der dio-
nischen Sammlung. Erst viel später, zur Zeit der bithynischen Statt-
halterschaft des Plinius, wird noch einmal ein Schlaglicht durch eine
zufällig erhaltene Nachricht auf sie geworfen.
Eines der hauptsächlichsten Documente für die Bauangelegenheit
bildete die 40. Rede, die sie nicht zum Hauptgegenstande bat, son-
dern, wie auch die Ergebnisse der römischen Gesandtschaft, nur ge-
legentlich in der Einleitung berührt. Hauptgegenstand <lieser Rede ist
vielmehr eine andere Angelegenheit, deren Besprechung sich hier am
besten anscbliefsen wird, der Streit Prusas mit dem benachbarten
Apameia. Leider wissen wir über den Gegenstand des Streites so gut
wie garnichts. Weder die in Prusa gehaltene 40. Rede noch die in
derselben Sache zu Apameia gehaltene 41. Rede spricht sich darüber
mit hinreichender Deutlichkeit aus. Immerhin ist das, was diese Reden
lehren, so bezeichnend für den Redner, dafs wir die Angelegenheit
nicht übergehen dürfen. Apameia, das alte Myriea, war die nächste
Nachbarin von Prusa. Das Gebiet von Apameia schlofs sich nach Norden
unmittelbar an das Gebiet von Prusa an. Statt seines ursprünglichen
Namens Myrleia hatte es von Prusias, des Zelas Sohn, nach der Gattin
desselben, den Namen Apameia erhalten. Von Augustus war eine römische
Bürgercolonie nach Apameia entsandt worden,') das also zu den recht-
lich bevorzugten Städten Bithyniens gehörte. Die nahe Nachbarschaft
der beiden Städte hatte natürlich zur Folge, dafs sie in öffentlichen und
privaten Angelegenheiten in mannichfache teils freundliche, teils feind-
selige Berührung traten. Dio schildert uns sehr anschaulich, wie die
beiden Städte gegenseitig auf einander angewiesen waren. Da Prusa
durch das apamensische Gebiet vom Meere getrennt war, so sah es sich
für seinen Fernverkehr auf die Benutzung des Hafens und der Fahr-
zeuge von Apameia angewiesen. Andererseits bezogen die Apamenser
ihr gesamtes Bauholz (vkrj) von Prusa. Denn hieran werden die süd-
lich von Prusa aufsteigenden Höhen des Olympos reich gewesen sein.
Zu den Geschäftsverbindungen, die durch diese Verhältnisse sich von
selbst in gröfster Mannichfaltigkeit ergaben, gesellten sich naturgemäfs
im Lauf der Zeit auch menschliche Berührungen jeder Art. Die Jugend
1) Ebd. Sid ri 8k Ttapd ro^rtov fihv dnatretrSf nap i/uo€ 8k o6x ATicuretra;
0\ n.ill K^ll V 104
2) Bull. hell. V 122.
Dio nach der Reslilution. Die bilhynischen Reden. 369
voD Apameia und Pnisa fand sich zu gemeinsamem ÜDlerricht in den
gleichen Hörsälen zusammen, mochte nun im einzelnen Falle Apameia
oder Prusa im glücklichen Besitze eines Professors der Philologie oder
der Redekunst oder der Philosophie sein, der auch auf die Nachbar-
stadt seine Anziehungskraft ausübte. Dauernde Bande zwischen den
Bürgerschaften der beiden Städte knüpften sich durch Verschwägerung
und Blutsverwandtschaft. HäuQg kam man bei religiösen Festen und
bei Schaustellungen aller Art zusammen. Viele Bürger der einen Stadt
besafsen Bürgerrecht auch in der andern. Gerade die angesehensten
Persönlichkeilen Prusas, die um irgendwelcher Verdienste willen das
römische Bürgerrecht erhalten hatten, waren dadurch auch Bürger von
Apameia geworden. Selbst das war kein seltener Fall, dafs ein Bürger
der einen Stadt auch in der andern Sitz und Stimme im Stadtrat er-
langte und städtische Ämter bekleidete.
Je mehr also zwischen Prusa und Apameia eine Gemeinsamkeit und
vielfache Verflechtung öffentlicher und privater Lebensbeziehungen statt-
fand, desto unerträglichere Zustände mufsteu durch einen Hader herbei-
geführt werden, der nach der V^eise dieser Menschen, deren Herzen
vom lebendigsten communalen Patriotismus erfüllt waren, selbst die
intimsten Beziehungen von Freunden und Verwandten vergiftete. Im
Jahre 101, als Dio die beiden Ansprachen hielt, aus denen uns die
Kenntnis der Sache fliefst, halte der Streit schon mehrere Jahre ge-
dauert und es bot sich nun endlich eine Aussicht auf Beilegung der
Zwistigkeiten. Wie schon bemerkt, fehlt es leider an genauen und
ausdrücklichen Angaben über Ursachen und Gegenstand des Streites.
Nur soviel geht aus Dios Andeutungen hervor, dafs es sich um Geldes-
wert Of^ij^ora), vielleicht auch um Besitzrechte an Grund und Boden
handelte. Dies darf man wohl aus der rhetorischen Frage 40 § 30
schliefsen, ob eine Summe Geldes oder ein Streifen Landes so wertvoll
sein könne, dafs ein Verständiger Ruhe und Frieden seines täglichen
Lebens dafür hingeben möchte. An einer andern Stelle werden die
Streitpunkte als ^t^rij^ara bezeichnet*) Es ist deutlich, dafs es sich
um verwickelte Rechtsfragen handelte, die teils Grenzstreitigkeiten, teils
solche Abgaben betreffen mochten, die Prusa an Apameia für regel-
mäfsige Benutzung seiner Verkehrsmittel und Hafenanlagen zu entrichten
halte. Wie viele Jahre die unerfreulichen Zustände bereits gewährt
hatten, als Dio die erwähnten Ansprachen hielt, geht daraus hervor,
1) Gr. 41 § 8.
360 Viertes Kapitel.
dafs er der Eioladung der Apamenser, die er alsbald nach seiner Rück-
kehr aus der Verbannung erhielt, nicht folgen zu dürfen glaubte.*)
Schon damals war also das Verhältnis zwischen Prusa und Apameia ein
solches, dafs ein prusanischer Bürger mit der Nachbarstadt keine Ge-
meinschaft pflegen konnte, ohne sich unbeliebt zu machen und in den
Verdacht mangelnder Vaterlandsliebe zu kommen. Dio würde an sich
der ehreuTollen Einladung gewifs gern gefolgt sein, die der Beglück-
wünschung zu seiner Restitution beigefügt wurde. Denn, wie viele
seiner Mitbürger, war auch er seit Tielen Jahren, ja Ton Geburt und
Vflterzeiten her, durch mannichfache Beziehungen mit Apameia verknüpft.
Wir dürfen annehmen, dafs die Schilderung dieser Beziehungen, die in
der 41. Rede gegeben wird, von lückenloser Vollständigkeit ist.^ Denn
da es dem Redner hier darauf ankommt, seinen Zuhörern das Gefühl
zu nehmen, als ob ein Prusaner im Interesse Prusas zu ihnen redete,
wird er sich nach den Regeln der Kunst keine Thatsache haben ent-
gehen lassen, die seine Zugehörigkeit zu Apameia zu beleuchten ge-
eignet war.
Zunächst gehörte Dio zu den Bürgern Prusas, die auch in Apameia
Bürgerrecht besafsen. Er mufs das Ehrenbürgerrecht von Apameia
schon vor seiner Rückkehr aus der Verbannung erhallen haben, da bei
dieser Gelegenheit nicht von der Verleihung desselben, sondern nur
von einem Glückwunschschreiben und einer Einladung die Rede ist.
Wäre ihm das Bürgerrecht von Apameia bei dieser Gelegenheit zuteil
geworden, so hätte diese Thatsache um ihres gröfseren Gewichtes willen
viel eher als Glückwunsch und Einladung erwähnt werden müssen.
Aber auch in den folgenden Jahren, die bis zum Zeitpunkt der 41. Rede
verstrichen, kann die Ernennung wegen der nunmehr obschwebendeu
Feindseligkeit der Städte nicht mehr erfolgt sein. Vermutücli gehört
dieselbe schon der Zeit vor der Verbannung an. Schon der Grofsvater
Dios mütterlicherseits samt seiner Tochter, der Mutter Dios, hatte von
dem damals regierenden Kaiser zugleich das römische Bürgerrecht und
das Bürgerrecht von Apameia erhalten.') Dios Vater Pasikrates war
ebenfalls von der Gemeinde mit dem Ehrenbürgerrecbt beschenkt wor-
den. Wenn freilich Dio hieraus folgert, dafs er selbst xal xoQin xal
yivBi Bürger von Apameia sei, so ist dies eine rhetorische Zuspitzung
1) Or.40 § 16. 2) Or.4l §1-6.
3) Or. 4t § 6 <$ fikv ydp n&Tinos 6 iitde juerd r^e ftrjr^dQ ttJs iuijQ Tia^ä
Tov TÖre ccdroxQ&roQoe (piXov dvroQ äfia rrjs ^Pinftalmv Ttolire/ae nai rfjS {^ueri^as
Mtv%6Vj 6 8k nar^Q nag* löju&r.
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 361
des Sachverhaltes, durch die roao sich nicht heirren lassen darf. Denn
natürlich war das Bürgerrecht des Pasikrates ein rein persönliches, das
sich nicht ohne weiteres auf seinen Sohn vererbte, wie aus Dios aus*
drücklieber Bemerkung, dafs es ihm von neuem verliehen wurde, her-
vorgeht.') Die weitere Behauptung Dios, dafs Apameia mit grofserem
Rechte als Prusa von seinen Kindern als ihre eigentliche Heimat be-
trachtet werde und dafs dies ein neues Band sei, das ihn an Apameia
binde, ist oben dabin zu deuten versucht worden, dafs Dios Familie
während der Jahre seiner Verbannung in Apameia ihren Wohnsitz ge-
habt hatte. Vielleicht waren auch Dios Töchter dort vermählt. So
würden die V^orte : 7Cokv de ijdiov %bv natiga rolg naiai awinead^ai
noch an Bedeutung gewinnen. Wenn nämlich in dem Augenblick, wo
diese Worte gesprochen wurden, noch irgendwelche Kinder Dios in
Apameia ihren Wohnsitz hatten, so kann das „Folgen^ im eigentlichen
Sinne verstanden werden, während man andernfalls den Ausdruck in
übertragenem Sinne verstehen und dahin deuten müfste, dafs Dio sich
umsomehr als Bürger von Apameia betrachte, weil es auch die Heimat
seiner Kinder sei.
Trotz dieser Beziehungen also hatte Dio geglaubt, aus Rücksicht auf
seine Vaterstadt der Einladung der Apamenser nicht folgen zu dürfen.
Dies hatte natürlich in Apameia verstimmend gewirkt, wie Dio in der
40. Rede ausdrücklich hervorhebt^ Auch in der 41. Rede setzt er vor-
aus, dafs ihm ein Teil der Hörer nicht freundlich gesonnen ist.') Man
hatte eben die Ablehnung jener Einladung als eine entschiedene Partei-
nahme des Redners in dem Streit der Städte gedeutet. Mit Unrecht!
Denn so wenig sich auch Dio berechtigt geglaubt hatte, mit der ver-
feindeten Nachbarstadt nach eigenem Belieben die alte Freundschaft
weiter zu pflegen,^) so wenig hatte er sich andererseits bereit finden
lassen, in der schwebenden Streitsache vom einseitig prusanischen Stand-
punkt aus Partei zu nehmen.^) In Prusa herrschte dazumal eine gereizte
und erbitterte Stimmung gegen Apameia, die ihm über das rechte Mafs
hinauszugehen schien. Er nahm sich von vornherein vor, bei gegebener
1) Vgl. meine Erörternng im zweiten Kapitel 8. 123.
2) Or. 40 § 17 dd'ev -itpewff&vTÖ fie %aX Sva^e^ße el^ov»
3) Or. 41 § 2 rd 8k elvai nvaß, £os Av h> Si^/ntp^ r&v iv&dSs iuoi a%e86v
fti) OipöS^a rjSojudvavs oüx Av &av^datujui Sid n^v rtöv nöXetav tptXorifiiav,
4) Or. 40 § 16 AlV öfitos o^x iniuerov fpgXa^d'^foTieiinad'ai xar' ittavrör,
dXXd xoiyg fied"* iftdiv avToU ißovXöurfv yevio&ai ^iloe,
5) Hierfür und zum folgenden vgl. or. 4t §7. 8.
362 Viertes Kapitel.
Gelegenheit seinen EinfluFs zur Herbeiführung eines gütlichen Vergleiches
zu benutzen. Er scheint eingesehen zu haben, dafs das Recht nicht
durchaus und in jeder Hinsicht auf der Seite Prusas war und dafs auch
die Prusaner würden Zugeständnisse zu machen haben, um eine dauernde
Befriedigung beider Parteien und eine V^iederkehr der früheren freund-
nachbarlichen Zustände zu ermöglichen. Hiermit fand er natürlich in
Prusa zunächst wenig Anklang. Seine häufig wiederholten Mahnungen
zu entgegenkommender Nachgiebigkeit waren Samenkörner, die auf un-
fruchtbaren Boden fielen. Man suchte ihn vielmehr auf jede Weise zu
bestimmen, dafs er durch seinen Einflufs in Rom eine Entscheidung
der Streitsache im Sinne der prusanischen Forderungen herbeifuhren
möchte. Es gehörte also auch diese Angelegenheit zu denjenigen, deren
endgiltige erwünschte Erledigung von Dios römischer Gesandtschaftsreise
erwartet wurde. Aber Dio erwies sich in diesem Punkte ganz unzu-
gänglich. Er wies mit Entschiedenheit das Ansinnen zurück, die Ent-
scheidung des Streites durch Eingreifen der römischen Regierung her-
beizuführen und machte dadurch nicht etwa nur seinen apamensischen
Beziehungen ein Zugeständnis, sondern glaubte durchaus im wohlver-
standenen Interesse auch Prusas zu handeln. Er verhehlte sich nicht,
dafs eine durch die römische Reichsregierung in einseitiger Weise ge-
troffene Entscheidung eine Fortdauer der feindseligen Stimmung zur
Folge haben müfste. Sehr bezeichnend äufsiert sich Dio über sein Ver-
halten in dieser Angelegenheit or. 41 §7. Er schildert, wie man in
Prusa gar zu gern gesehen hätte, dafs er die Angelegenheit in die Hand
nähme und sich doch scheute, ihn gegen seinen Willen damit zu be-
lästigen. Nur durch Ehrungen, die man ihm decretirte, suchte man
ihn den Wünschen der Stadt geneigt zu machen. Er aber, der sonst
jede Mühwaltung im Interesse Prusas gern übernommen hätte, blieb in
diesem einen Punkte unzugänglich. Was man von Dio erwartete, war
dafs er seinen Einflufs in Rom aufbieten würde, um eine Prusa gün-
stige Entscheidung der römischen Regierung herbeizuführen. Er sollte
persönlich seine einflufsreichen Freunde in Rom bearbeiten. Dio giebt
selbst zu, dafs er wohl im Stande gewesen wäre, auf diesem Wege etwas
zu erreichen. Auch scheute er nicht die Reise nach Rom, die er ja
ohnehin aus andern Gründen unternehmen mufste,') sondern lediglich
1) Der obigen Darstellung ist die Gonjectnr von Reiske Snoi MBei statt des
fiberlieferten dnört Sei zugronde gelegt. Dio redet von einem langst vergangenen
Stadium der Angelegenheit. Nicht data er jetst nach Rom gehen mufs, sondern
dafs er es damals musfte, kann fQr seine Beweisführung in Betracht kommen.
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 368
der Wunsch eine wirkliche Versöhnung herbeizuführen, bestimmte ihn
XU seinem ablehnenden Verhalten. Erwägt man, dafs die 40. und folg-
lich auch die 41. Rede nicht lange nach der Gesandtschaftsreise des
Jahres 100 gehalten sind, so kann man nicht zweifeln, dafs mit der
ohnehin notwendigen Romreise, von der Dio redet, eben diese Gesandt-
schaftsreise gemeint ist und dafs man eben bei dieser Gelegenheit Dios
Eingreifen in die apamensische Angelegenheit gewünscht und erwartet
hatte.
Schon vor der Gesandtschaftsreise war Dio in Prusa zu wiederholten
Malen in Sachen des Streites mit Apameia aufgetreten und hatte seine
Mitbürger versöhnlich zu stimmen gesucht.^) Aber seine Bemühungen
waren erfolglos geblieben. Von Apameia aus hatten sich schon in dem
Jahre vor der 40. Rede die leitenden Männer an Dio gewandt, um durch
seine Vermittlung einen Ausgleich herbeizuführen. Aber Dio hatte damals
die Vermittlerrolle abgelehnt, vermutlich weil zu dieser Zeit gegen ihn selbst
in Prusa eine gereizte Stimmung herrschte, sodafs er befürchten mufste,
durch seine Einmischung die Angelegenheit mehr zu hemmen als zu för-
dern. Es ist zweifelhaft, ob dieser erste Ausgleichsversuch der Apamenser
in die Zeit vor oder nach Dios Gesandtschaftsreise zu setzen ist. Ich halte
das letztere für wahrscheinlicher. Denn erst nach der Gesandtschaftsreise
scheinen die Feinde Dios die Oberhand bekommen zu haben und die Stim-
mung der Bürgerschaft eine für ihn ungünstige V^endung genommen zu
haben. Die Ergebnisse der Gesandtschaft, die hinter den hochgespannten
Erwartungen zurückgeblieben waren, mochten bei dieser Stimmungsände-
rung eine Hauptrolle gespielt haben. Auch die Bauangelegenheit hatte
wohl erst nach der Gesandtschaftsreise zu den schlimmsten Verdriefs-
lichkeiten geführt. Auch sagt uns Di«, dafs er nach der Gesandtschafts-
reise den Entschlufs gefafst hatte, sich jeder Einmischung in die öffent-
lichen Angelegenheiten zu enthalten. Dazu stimmt sein ablehnendes
Verhalten gegenüber den Anträgen der Apamenser. Da wir mit der
40. Rede aus früher erörterten Gründen nicht weiter hinabgehen können
z\& bis zum Jahre 101, so werden die „vorjährigen^ Ausgleichsverhand-
lungen noch dem Herbst dßs Jahres 100 angehört haben.
Die erneuten Ausgleichsverhandlungen scheinen wieder von Apa-
Wenn durch diese Erwägung Mdei gefordert wird, so ist andererseits dnoi nötig,
weil Antivau der Zielangabe bedarf, um nictit dauernde Entfernung aus Prusa, son-
dern eine auf Zeit zu bestimmtem Zweck unternommene Reise su bezeichnen.
1) Or. 40 § 16 öri xai to^tov tov npdy^aros iyd> npörepoe i/jipd/u^ xai
sioXXai>s elnov iv&dSe löyovQ i^nip d^oroitts.
364 Viertes Kapitel.
meia angeregt worden zu sein. Denn aus den Worten or. 40 § 18
inel aal niQvav rovg koyovg tovtovq nqog ifxh J^Xeyov ol
fcgoearwreg ahtüv darf man wohl herauslesen, dafs dieselben Vor-
schläge der Aparoenser, die sie schon vor einem Jahre dem Redner
gemacht hatten, auch jetzt die Basis der Verhandlung bildeten. Dasselbe
ergiebt sich aus dem rtQodvfxozeQOi yeyovaat nqog vfiag in § 17.
Diesmal hatten sie sich nicht an Dio, sondern an die officiellen Vertreter
des prusanischen Gemeinwesens, gewandt und diese hatten sich entgegen-
kommend gezeigt. Der Gegenstand war auf die Tagesordnung der Volks-
versammlung gesetzt worden. Es lag ein Antrag vor, der ofTenbar eine
versöhnliche Tendenz verfolgte, wahrscheinlich die Absendung einer
Gesandtschaft nach Apameia zur Fuhrung der Ausgleichsverhandlungen
forderte. Die Männer in Prusa, die die Sache in die Hand genommen
hatten, wollten sich natürlich Dios gewichtige Unterstützung nicht ent-
gehen lassen. Da seine Beziehungen zu Apameia bekannt und seine
frühere Thätigkeit in der Sache unvergessen waren, so erschien er be-
sonders geeignet, in der Volksversammlung die Sache zu vertreten und
als Unterhändler nach Apameia zu gehen. Deshalb war in der Volks-
versammlung der Antrag gestellt und angenommen worden, Dio zu der
Verhandlung einzuladen. Nur ungern hat sich Dio bereit finden lassen,
aus seiner Zurückgezogenbeit hervorzutreten. Die 40. Rede ist es, mit
der er jenen versöhnlichen Antrag in der Volksversammlung unterstützt,
die 41. hat er vor dem Rat von Apameia als Mitglied der prusanischen
Gesandtschaft gehalten.
In der 40. Rede tritt uns Dio zum ersten Male als Friedenspre-
diger entgegen. Dieselben Gedanken kehren auch in der 41. und zum
Teil in der 38., 39. und 48. Rede wieder. Die philosophisch - religiöse
Verherrlichung von Friede und Eintracht ist einer der hervorstechend-*
sten Züge in dem Bilde Dios, wie es sich in der dritten Periode dar-
stellt Es wird einem beim Lesen dieser Friedenspredigten besonders
anschaulich, dafs Dio, auch wo er in bürgerlichen Angelegenheiten auf-
trat, in den Augen seiner Hörer stets der Philosoph blieb und als sol-
cher mit einer höheren, gewissermafsen geisthchen Autorität umkleidet
war. Der Philosophenberuf blieb trotz aller Anfeindungen ein ehr-
würdiger, wie etwa heutzutage der Pfaffenhafs freigeistiger Kreise dem
geistlichen Berufe seine Ehrwürdigkeit nicht rauben kann. Man fand es
ganz in der Ordnung, dafs der Philosoph, wenn er in Rat oder Volks-
versammlung auftrat, nicht nur in} Sinne der gewöhnlichen praktischen
Zweckmäfsigkeit, sondern im Sinne der idealen Forderungen seines
Dio nach der Reslitutioo. Die bithynischen Reden. 365
Dogma sprach. Die Friedeospredigten Dios, deren Ton die Hörer zum
Teil 80 berühren mufste, wie wenn heute jemand in einer politischen
Versammlung den Ton kirchlicher Predigt anschlagen wollte, sind nur
geschichtlich verständlich, wenn die Empfänglichkeit für die ideale Ge-
dankenrichtung der Philosophie weit verbreitet war. Sie war in der
That, mögen wir noch so gering von ihr denken, in der Cultur dieser
Zeit die erhebende und heiligende Macht, die den rücksichtslosen Kampf
der Selbstsucht sänftigen und befrieden konnte. Darum hält es Dio
als Philosoph für seine oberste und heiligste Berufspflicht Frieden zu
stiften, mag er nun die Grenz- und Rangstreitigkeiten benachbarter
Städte auszugleichen suchen oder im Innern einer Gemeinde die socialen
Gegensätze zu versöhnen streben. Erst in der dritten Periode tritt
diese Tendenz in seinen Reden hervor. Während der Exilszeit trägt
seine Ethik einen individualistischen Charakter. Er mahnt den einzelnen
Menschen zur Einkehr in sich selbst, zum Nachdenken über seine silt*
liehe Aufgabe. Er sucht die Leidenschaften zu bekämpfen^ die die Ge-
sundheit der einzelnen Menschenseele gefährden. In der dritten Periode
erweitert und steigert sich ihm die Individualethik zur politischen und
socialen Ethik. Es ist leicht verständlich, wie diese Entwicklung durch
seine veränderte Lebenslage hervorgerufen wurde. Durch seine Resti-
tution war er wieder in die Lage versetzt, in die politischen Verhält-
nisse seiner Vaterstadt und anderer bithynischer Städte thätig einzu-
greifen. Es war natürlich, dafs dies seinen Horizont erweiterte und
dafs er seine sittlichen Forderungen nunmehr auf die staatlichen und
gesellschaftlichen Zustände übertrug, die auch die Sittlichkeit des ein-
zelnen mitbedingen. Diese Gedankenrichtung ist in den Werken der
dritten Epoche die vorherrschende. Sie ist nicht auf die bithynischen
Reden beschränkt, diese Denkmäler seiner praktisch -politischen Wirk-
samkeit; sie beherrscht nicht minder die Alexandrina, die tarsischen
Reden, den Euboicus. in höchster Steigerung endlich tritt sie uns in
den Reden vom Königtum entgegen, die das Bild des idealen Weltbe-
herrschers zu zeichnen suchen. Früher waren es Idtcirai, denen er
als Gewissensrat diente, jetzt d^^oi und ßaailelg.
Es ist richtig, dafs Dio auch mit Gründen praktischer Nützlichkeit
zu Friede und Versöhnung rät. Er durfte als politischer Redner den
Boden der concreten Wirklichkeit nicht ganz verlassen. Aber es finden
sich auch Gedankengänge in seinen Versöhnungsreden, die ganz aus
dem Stil der politischen Rede herausfallen und einen weihevoll erbau-
lichen Ton anschlagen. Der Art sind namentlich die Schlufspartieen
366 Viertes Kapitel.
von or. 40 § 35—41 und von or. 48 § 14—16, ähnlich auch or. 38
§11. In all diesen Stellen wird die Liebe und Eintracht mit religiös-
philosophischer Begeisterung als das göttliche Weltprinzip gefeiert, das
den geordneten Fortbestand der Welt verbürgt. Ihm fügen sich willig
die Mächte des Universums. Die göttlichen Gestirne kennen keine Zwie-
tracht. Friedlich fügt sich ein jedes in die Ordnung des Ganzen. Auch
der gesetzmäfsige Stoffwechsel der Elemente, durch den sie aus dem
Feueräther hervorgehen und in den Feueräther zurückkehren, ist von
Liebe und Eintracht beherrscht Wenn ein anderes Element aufser
dem Äther sich widerrechtlich auszudehnen strebte, so würde Untergang
die Folge sein. Auch im Tierleben beobachten wir vielfach eine Fried-
lichkeit und Verträglichkeit, die die Menschen zu beschämen geeignet
ist. Die Vögel bauen ihre Nester nahe bei einander, ohne über das
Futter in Streit zu geraten; die Ameisen aus benachbarten Ameisen-
haufen, die sich aus derselben Tenne Körner holen, gehen sich höQich
aus dem Wege; ja sie helfen sich oft bei ihrer Arbeit; mehrere Bienen-
schwäi*me, die auf derselben Wiese Honig sammeln, geraten nicht unter
einander in Streit; Rinder und Rosse vermischen sich friedlich auf der
Weide, sodafs aus zwei Herden anscheinend eine wird, desgleichen
Schafe und Ziegen. Kurz die ganze elementare und animalische Natur
zeigt sich einträchtig und verträglich; nur der Mensch ist der ewige
Friedensstörer.
Derartige Gedankengänge wenden sich nicht, wie es der .politischen
Rede zukommt, an den praktischen Verstand, sondern an das religiöse
Gefühl, mit dem der Gebildete dieser Zeit das Nalurleben betrachtet.
Dio redet als Philosoph mit einer fast priesterlichen Salbung. Er schlägt
einen Ton an, der von den Vorträgen der Exilszeit stark absticht, aber
in den grofsen Inidel^Big der dritten Periode zahlreiche Parallelen hat.
Er darf als eines der sichersten Merkmale der dritten Periode angesehen
werden.
Für die richtige Beurteilung von Dios politischer Thätigkeit in Bi-
tbynien sind diese Stellen wichtig. „Wozu wäre denn mein Aufenthalt
in Prusa nütze ,^ ruft er in der 48. Rede aus, „wenn ich euch nicht
zum Frieden willig machte, stets nach besten Kräften durch meine Rede
Eintracht und Liebe beförderte, Hafs, Streit und thörichte Eifersucht
auf jegliche Art bekämpfte.^ In der 49. Rede wird ausführlich der
staatsmännische Beruf der Philosophen erwiesen: toi ye ovtwq (piXo-
ö6(pov To egyov ovx eTCQov iativ rj aQxrj avd'QiünijDv. Die Herstellung
des socialen Friedens ist aber die höchste Leistung des Staatsmannes.
Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 867
Wenn der Philosoph zu dieser Leistung sich unfähig erwiese, dann
bliebe überhaupt keine HofTnung mehrJ) Aus diesen Äufserungen geht
hervor, dafs Dio in seiner Eigenschaft als Philosoph eine besondere
Autorität auch in politischen Angelegenheiten beanspruchte. Seine philo-
sophische und politische Thätigkeit sollen nach seiner eigenen Auffassung
nicht getrennt neben einander hergehen, sondern seine Politik will er
als die richtige Bewährung seines Philosophenberufes angesehen wissen.
Er hätte diesen Anspruch nicht erheben können, wenn er dabei nicht
auf wenigstens teilweise Anerkennung von Seiten seiner Hörer hätte
rechnen können.
Wie in den inneren Angelegenheiten von Prusa und in dem Streit
zwischen Prusa und Aparoeia, so sehen wir Dio auch bei anderen Ge-
legenheiten als Friedensstifter auftreten. In der 38. Rede sucht er den
Streit zwischen Nikomedeia und Nikaia zu schlichten, die 39. Rede be-
zieht sich auf innere Zwistigkeiten der Bürgerschaft von Nikaia. Aber
auch die alexandrinische und die zweite tarsische Rede sind von dem-
selben Geiste erfüllt. Auch wenn es an sonstigen Beweisen fehlte,
würden wir aus der inneren Verwandtschaft schliefsen können, dafs
die letztgenannten Reden derselben Lebensperiode Dios wie die bi-
thynischen angehören. Von der zweiten tarsischen Rede kann man
sagen, dafs sie dieselben Grundsätze der inneren und der äufseren Po-
litik, welche Dio in den bithynischen Händeln vertreten hatte, auf die
tarsischen Verhältnisse überträgt.
Um uns den Weg zum Verständnis der übrigen Werke der dritten
Epoche zu bahnen, müssen wir zunächst die Darstellung der bithynischen
Händel zu Ende führen. Leider lassen sich die noch zu besprechenden
Ereignisse und Reden nicht mit derselben Sicherheit wie die bisher
behandelten datiren.
Aus dem Briefwechsel des jüngeren Plinius kennen wir bekannt-
lich zwei Repetundenprocesse bithynischer Proconsuln, den des Julius
Bassus und den des Varenus Rufus. Die Processe sind von Mommsen,
auf Grund seiner Untersuchungen über die Chronologie der plinianischen
Briefsammlung^ ziemlich genau datirt. Dagegen hat man die Statthalter-
schaften selbst bisher nicht auf bestimmte Jahre festlegen können.
Beide müssen in die Zeit von Dios Anwesenheit in Prusa fallen. Die
48. Rede nennt den Varenus als regierenden Statthalter. Auch auf die
1) Or. 48 § 14 ei yäp ftlöoo<pos Ttoliteiae ärpificvo^ oix iSvnj&ij Tzapi^etv
öuovoovoav nöliv, rovro Seivdr ijSri xai dfpvarov*
368 Viertes Kapitel.
Amtsführung des Julius Bassus, dessen Name nicht genannt wird, sind,
wie ich glaube, Beziehungen vorhanden. Es wäre also für die dionische
Chronologie höchst erwünscht, wenn durch Münzen oder Inschriften
die genaue Datirung der beiden Statthalterschaften ermöglicht würde.
Solange dies nicht der Fall ist, müssen wir uns mit combinatorischer
Datirung begnügen, die leider, da die überlieferten Daten keine aus-
reichenden Anhaltspunkte gewähren, nicht zu ganz gesicherten Ergeb-
nissen führen kann. Es mufs aber doch der Versuch gemacht werden,
durch Verbindung der aus Plinius bekannten Thatsachen mit dem, was
sich aus Dio ergiebt, zu einer annähernden Datirung zu gelangen.
V^ir wollen dabei ausgehen von der Erklärung der 43. Bede Dios,
die in deutlichster Form auf argen Amtsmifsbrauch eines bithynischen
Statthalters und das Bevorstehen eines Prozesses gegen ihn Bezug nimmt.
Es mufs womöglich ermittelt werden, ob in dieser Rede Julius Bassus
oder Varenus Rufus gemeint ist.
Die 43. Rede ist nicht etwa , wie man auf den ersten Anschein
glauben könnte, als Vertheidigung gegen eine wirkliche Anklage vor
Gericht, sondern in der Volksversammlung zu Prusa gehalten. Denn
das vfiag in § 1, v^lv in § 2 kann nur auf den ganzen Demos be-
zogen werden. Wäre or. 43 eine Gerichtsrede, so müfste auch § 2 Iv
roaovToig koyoig^ ovg eXQrina ev vfilv auf Gerichtsreden bezogen werden.
Dafs er seine Verdienste um Prusa nicht aus blofser RuhmredigHeit,
sondern zur Abwehr böswilliger Verleumder erwähnt (§ 2), brauchte er
nicht besonders hervorzuheben, wenn es sich um Abwehr gerichtlicher
Anklage handelte. — Ihr selbst könnt mir bezeugen, fährt Dio fort,
dafs meine Feinde auch die Feinde von Prusa sind. Mit mir gehen
sie immer noch sänfllicher um als mit euch: e^ov fikv yag kv&ade
xaTrjyoQoiaiv, vficuv dh knl tov ßri/,iaTog. Aus dem Zusammenhang
geht hervor, dafs hier hcl tov ßijfiaTog von gerichtlicher Anklage ge-
braucht wird, h&döe „in der Volksversammlung^ bedeutet. Denn nur,
wenn man so erklärt, trifft es zu, dafs der Sykophant mit Dio sänft-
licher umgeht, als mit den Leuten aus dem Volke. In der Volksver-
sammlung sprachen die Redner von ihrem Platze aus, vor Gericht stand
der Ankläger auf einer erhöhten Tribüne. Es ist dies die erste Anspie-
lung auf eine gehässige Rolle, die Dios Gegner als gerichtlicher .4nkläger
gespielt hat. Der Sinn dieser Anspielung wird weiterhin klarer hervor-
treten. — Aus dem Anfang von § 3 geht hervor, dafs Dios Hörerschaft
Rat und Volk umfafst. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist seine
Versicherung: ovdh ccTcaldevrov vof,ilKu) ovre tov örj^ov ovte Tr;v
Dio nach der Reslitution. Die bilhyDischen Reden. 36d
ßovhqv nicht müfsig. Auch der Anspruch des Redners, die Hörer durch
seine Rede zu bessern, pafst für eine wirkliche Verteidigungsrede
nicht — Der Anfang von § 6 beweist, dafs der Gegner seine Vorwurfe
gegen Dio nicht offen und geradeaus, sondern in der Form versteckter
Andeutung, nicht ayrixQVQy sondern fjteta ax^f^ccrog^ iVa doxi^ ^T^tiOQ
erhoben hatte. Auch wird die Analogie jenes Erlebnisses des Epamei-
nondas mit der gegenwärtigen Lage des Redners erst dann recht augen-
fällig und rednerisch wirksam, wenn er wie Epameinondas in der Volks-
versammlung von einem nicht unbescholtenen Manne angegriffen wurde.
Diese Anzeichen, die sich leicht vermehren liefsen, beweisen aus-
reichend, dafs die Rede keine gerichtliche Verteidigungsrede und die
Anklage in § 11. 12 eine Fiction Dios ist. Eben deswegen wird sie
von Dio als xQvq>ala rig bezeichnet Die versteckten und hämischeo
Anspielungen seines Gegners prägt er selbst zu deutlichen Anklagen
aus; und diesen Anklagen weifs er eine solche Form zu geben, dafs
sie auf den Gegner selbst zurückfallen. Es mufste den Hörern augen-
fällig sein, dafs diese Anklagen in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil
von Dios thatsächlichem Verhalten besagten. Dann durfte die blofse
Formulirung der Anklagepunkte als die beste Verteidigung gelten und
die Rede konnte wirklich so schliefsen, wie sie in der Oberlieferung
schliefst.
Dafs diese Auffassung das richtige trifft, können wir für einen Teil
der Anklagepunkte dadurch erweisen, dafs sich Dio anderwärts das
gerade entgegengesetzte Verhalten zuschreibt Laut der Anklage hat er
jenen gewaltthätigen Statthalter zu seinen Gewaltthätigkeiten beredet
In § 7 — wo doch unzweifelhaft von denselben Capitalprocessen die
Rede ist — schreibt sich Dio das Verdienst zu, den Verfolgten mit
Fürbitte und Trost beigestanden zu haben. In der Anklage wird ihm
vorgeworfen, dafs er selbst als Ankläger gegen den Demos auftrete.
In § 6 wird als bekannt vorausgesetzt — und wir dürfen es als Thal-
sache hinnehmen — dafs Dio keinerlei gerichtliche Thätigkeit weder
als Ankläger noch als Verteidiger ausgeübt hatte. V^ie mit diesen für
uns controlirbaren Anklagepunkten wird es auch mit den übrigen stehen :
sie besagen alle das genaue Gegenteil von dem, was in Prusa über Dios
Verhalten jedermann bekannt war. Nicht minder deutlich ist es, dafe
diese Anklagen in der Hauptsache auf den Ankläger selbst zutreffen
müssen. In der ganzen Rede sucht Dio seinen Gegner als Delator
und Sykophanten hinzustellen. Dies ist aber gerade der Hauptinhalt
der angeblich gegen ihn selbst erhobenen Anklage. Man vergleiche
T. Arnim. Dio. 24
870 Viertes Kapitel.
folgende Stellen : § 2 Toifg i/iol xal vfilv ßaaxalvovrag — ort de ol
ctvTol nQog ifik aridüg exovac xal TtQog tijv nokiv, avrol ftaQtvgdg
ia%e, iav 'd'ikfjTe fiCfiv^a-d'ai xal raiv {piXoivrujv vfiag xal rwv
fiiaovvTUfv, xalroi irciemiaTegov kfjiol xQuivrai rj vfuv, if^ov fikv
yaQ iv&ade xaTYjyoQOvaiv , vfidh dk inl xov ßr^^axog. Wir dürfen
nunmehr mit Sicherheit behaupten, dafs der Gegner Dios bei Gelegen-
heit jener von dem grausamen Statthalter angestrengten Capitalprocesse
als Ankläger und Denunciant gewirkt hatte. Auch durch die Epamei-
nondasgeschichte zieht sich die Gegenüberstellung des Redners und
seines Feindes hindurch. Wie jedes den Epameinondas betreffende
Wort so gewählt ist, dafs es auch auf Dio zutrifft, so mufs auch alles,
was dem Feinde des Epameinondas vorgeworfen wird, auf Dios Feind
Anwendung finden, wenn die Geschichte wirken soll. Nun beachte
man § 4: ol yitQ TtQodoiai tuxI avxoqxüvxai xai navra ngoTTOvreg
TtaTct Tciv TtokiTUßv. f 5: rwv aTteyviao^iviav Tig xai ävlf^wv xal
OTB idovkevev 17 TtoXig xal iwQavvBlto Tcavra xorr' avxrig nenoi-
rpujjg. Da auch § 11 das Regiment dieses Proconsuls als Tyrannis be-
zeichnet wird, so ist auch hier die Beziehung auf die bithynischen Ver-
hältnisse unverkennbar. — Aus diesen Zügen der Epameinondasgeschichte
dürfen wir herauslesen, dafs sich der Gegner Dios unter der Gewalt-
herrschaft jenes Proconsuls als Ankläger verhafst gemacht hatte; und
wem dieser Schlufs noch Zweifel lassen sollte, der wird ihn durch die
Worte bestätigt finden, die in § 6 und 7 dem Gegner selbst entgegen-
geschleudert werden. Das ovx wv evaxri^urv avzog lautet allgemein
und unbestimmt. Wenn aber Dio in § 7 andeutet, nur deswegen suche
sein Gegner ihm den Aufenthalt in Prusa zu verleiden, damit bei Wieder-
kehr ähnlicher Verfolgungen das von Sykopbanten geängstigte Volk des
Fürsprechers und Trösters entbehre, so liegt darin indirect, aber mit
hinreichender Deutlichkeit der Vorwurf des Delatorentums gegen seinen
Feind, und zwar mit specieller Beziehung auf die während der Statt-
halterschaft des fiyefAihv TCOvrjQog verhandelten Capitalprocesse. Auch
die Charakteristik des Meletos in § 9 {ßdelvgog av^gionog xai avxo-
q>avTrjg) zielt natürlich auf Dios Gegner; wie wir auch in der Schilde-
rung von Sokrates' Verhalten unter der Herrschaft der Dreifsig ein Ab-
bild von Dios Verhalten gegenüber dem riye^uiv novrjQog suchen dürfen.
Durch diese Bemerkungen glaube ich bewiesen zu haben, dafs die
Anklage gegen Dio in § 11 und 12 eine vom Redner selbst fingirte ist,
die zwar von den versteckten Vorwürfen des Gegners ausgeht, ihre
Pointe aber darin hat, dafs sie avra ravavrla olg inoUi Jliov (vgl.
Dio nach der Restilutioo. Die bithyDischen Reden. 871
§9exlr.) eothäit und dafs sie auf Dio überträgt, was mit grOfserem
Recht seinem Gegner vorgeworfen werden konnte. Benennen können
wir diesen Gegner nicht. Doch wird jeder wahrscheinlich finden, dafs
einer der aus Plinius bekannten Gegner Dios, Flavius Archippus oder
^ Claudius Eumolpus, vielleicht auch der nur aus der Oberschrift von
Dios 51. Rede bekannte Diodoros gemeint sei.
Von den Ereignissen selbst ergiebt sich folgendes Bild. Es han-
delte sich vermutlich bei jenen Processen und Verfolgungen um die
Unterdrückung politischer Bestrebungen des bithynischeu Proletariats.
Aus Dios Darstellung geht hervor, dafs die Verfolgung nicht die fjione^
stiores", sondern den Demos im Gegensatz zu diesen , d. h. die Masse
des firmeren, der politischen Rechte entbehrenden Volkes betraf. Wahr-
scheinlich konnten alle Mitglieder der privilegirten Klasse mit demselben
Rechte wie Dio von sich sagen, dafs sie bei der Verfolgung keinen
Schaden erhtten hätten.*) Mehrere unter ihnen aufser Dio hatten sich,
in ähnlicher Weise wie dieser, der Verfolgten angenommen.^ Es liegt
sehr nahe, auch die Äufserungen Dios in der 50. Rede § 3 und 4 hier-
her zu beziehen. In dieser im Rat zu Prusa gehaltenen Rede sucht
Dio den Vorwurf zu entkräften, dals er ein Parteigänger des Demos im
Kampf gegen die Privilegirten sei. Nach lebhaften Versicherungen seiner
Hochschätzung des Rates föbrt er fort: „Und wenn ich mich der armen
Leute {tovq drjfifnixovg) erbarmte, als sie Erbarmen verdienten, und
soviel als mögUch ihr Loos zu erleichtern suchte, so ist das durchaus
kein Beweis, dafs ich ihnen mehr (als euch) ergeben bin; denn auch
an unserm Leibe ist es jedesmal der leidende Teil ^en wir pflegen, und
wenn uns die Fufse weh thun, die Augen aber gesund sind, wenden
wir jenen mehr Fürsorge als diesen zu. Wenn ich sage, dafs das arme
Volk Erbarmen verdiente, so soll damit nicht gesagt sein, dafs ihm Un-
recht geschah. Auch mit den Kranken, die von den Ärzten geschnitten
oder gebrannt werden, haben wir Mitleid, obwohl es zu ihrem Heile
geschieht, und Vater und Mutter vergiefsen Thränen darüber, obgleich
sie wissen, dafs es hilft. ^ Als Dio die 50. Rede hielt, war seit den in
diesen Sätzen berührten Ereignissen längere Zeit verstrichen. Nicht
sie veranlafsten ihn jetzt das Wort zu ergreifen, sondern die in § 10
erwähnten Gründe. Nur weil ihm auch jetzt wieder, wie damals, der
1) Or.43 §6 iTgei (tÖTÖe ye o^Skv ina&ov xaxöv o^ ydp tk&tcot' iftäs ßo€Q
ijXaoav o-öSk jukv trcnovs,
2) Ebd. § 7 HtU yä^ ei nXeiovQ ijaav, öoneQ »iaiv^ o^SeU i^aC ^aei uülXov,
24*
372 Viertes Kapitel.
Vorwurf gemacht wird, eine dem Rat feindliche Politik zu treiben, greift
er auf jen^ älteren Vorkommnisse zurück. Es ist so gut wie gewifs,
dafs sich eben auf sie jener (in § 9 erwähnte) ältere Vorwurf (ori
xa^ffU^ai xb v^izegov) bezog , gegen den er sich schon bei einer
früheren Gelegenheit verteidigt hatte.
Dafs sich die Andeutungen der 50. Rede auf dieselben Vorkomm-
nisse wie die der 43. beziehen, ist höchst wahrscheinlich, weil Dio
beidemal als Fürsprecher und Tröster des durch Verfolgungen geäng-
stigten Demos von Prusa erscheint Das iXeelv und iniM,ovq)l^uv der
50. Rede entspricht genau dem avvaXyelv und naQai%€la&ai der 43.
Dafe zweimal während Dios prusanischem Aufenthalt die grausame Ver-
folgung sich wiederholte und Dio zweimal als der Beschützer des Demos
auftrat, wird durch nichts bewiesen. Er selbst prophezeit in der 43. Rede
§ 7 mit grofser Zuversicht , dafs ähnliche Zustände sich nicht wieder-
holen werden. Man darf sich auch nicht dadurch irre machen lassen,
dafs die Ereignisse in der 50. Rede in etwas anderer Beleuchtung als
in der 43. gezeigt werden. Die Verschiedenheit der Beleuchtung ist
durch die Verschiedenheit von Ort und Zeit der beiden Reden hinläng-
lich gerechtfertigt In der 43. Rede, die den Ereignissen näher steht,
die vor dem Demos gehalten ist, die einen polemischen Zweck verfolgt,
wird mehr das Unrecht betont, das damals geschehen war, in der 50.,
die erheblich später vor dem Rat gehalten ist, wird zugegeben, dafs ein
Rechtsgrund für die Verfolgungen vorhanden war.
Habe ich mit Recht jene Stelle der 50. Rede mit der in der 43.
combinirt, so ist nunmehr ganz klar, dafs die Verfolgung politische
Gründe hatte. Es handelte sich um staatsgefilhrliche Umtriebe des
prusanischen Proletariats. Schon aus der 46. Rede haben wir den
revolutionären Charakter dieser Bevölkerung kennen gelernt Vermutlich
existirten geheime Gesellschaften mit staatsfeindlicher Tendenz. Gegen
die Reichen und Privilegirten, die im Rat ihre Vertretung hatten, rich-
tete sich der Hafs. Näheres können wir nicht ermitteln. Aber es
leuchtet ein, dafs der Statthalter, wenn das Bestehen solcher geheimer
Gesellschaften zu seiner Kenntnis kam, zum Einschreiten amtlich ver-
pflichtet war. Sobald er die Untersuchung eröffnete, stand ohne Zweifel
das Delatorentum in voller Blüte und es konnte nicht ausbleiben, dafs
viele Unschuldige mit ins Verderben gezogen wurden. Wenn der Statt-
halter bei diesen Verfolgungen mit mafsloser Härte vorging, wenn er
ohne gewissenhafte Untersuchung auf leichte Verdachtgründe hin die
schwersten Strafen verhängte, so mufste Hafs und Erbitterung die Folge
Bio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 378
sein und es wird begreiflich, dafs man von Tyrannis sprach. Dio ist
nicht als Verteidiger in diesen Processen aufgetreten. Denn or.43 §6
versichert er aufs bestimmteste, nur ein einziges Mal, und zwar in einem
Vormundschaftsprocesse, die Verteidigung geführt zu haben. Die Holfct
die er den Verfolgten leistete, wird hauptsächlich darin bestanden haben,
dafs er durch seinen persönlichen Einflufs hei dem Procoosul für solche
Angeklagte, von deren Unschuld er überzeugt war, Erlafs oder Milde-
rung der Strafe zu erwirken wutste. Auch kann man an materielle
Unterstützung der Verbannten denken. Seine Standesgenossen waren
zum grofsen Teil mit diesem Verhalten Dios nicht einverstanden. Sie
erblickten darin eine Parteinahme ftlr die revolutionären Bestrebungen.
Wenn Dio sich or.43 §8 mit Sokrates vergleicht, der sich den Gewalt-
thätigkeiten der Dreifsig offen widersetzt, so setzt dies voraus, dafs auch
er mit aller Entschiedenheit auf den Proconsul einzuwirken versucht
hatte.
Die Verfolgung beschränkte sich übrigens nicht auf Prusa. Das
geht schon aus der Stelle or.43 §11 hervor, die ich einleuchtend
emendirt zu haben glaube: avfiTtQartwv dk Tcal vvv anavra T(p Tt;-
QawTjaavTi rov ^d'vovg (statt des überlieferten rovg d'eovg). Ähn-
liche Zustände, wie wir sie für Prusa angenommen haben, herrschten
auch in den übrigen Gemeinden Bithyniens. Ich möchte schon hier
auf eine Stelle der 48. Bede hinweisen , die diese Annahme bestätigt,
indem ich mir vorbehalte, später das Zeitverhältnis der 48. zur 43. Rede
und damit meine Berechtigung zur Identification der dort erwähnten
Vorkommnisse mit den hier erwähnten ausführlich zu erweisen. Or. 48
§ 8 bestreitet Dio , dafs eine OTaaig und diaq>0Qa unter den Bürgern
von Prusa bestehe. Höchstens will er das Vorhandensein einer kleinen
Verstimmung zugeben, die wie eine ansteckende Augenkrankheit von
den Nachbarstädten auf Prusa übertragen worden sei. Wie, wenn die
Meerestiefe von gewaltigen Stürmen aufgewühlt wird, oft auch im Hafen
Anzeichen dieser Bewegung zu spüren sind, so sei die Bewegung in
der Bürgerschaft von Prussr aufzufassen. — Wenn wir mit Recht diese
Andeutungen auf die in der 43. Rede erwähnten Unruhen beziehen, so
hatten diese ganz Bithynien und zwar in höherem Mafse als Prusa selbst
ergriffen. Der Wellenschlag des Aufruhrs, der ganz Bithynien durch-
tobte, hatte auch das stille Prusa in Wallung gebracht. Schliefslich darf
es wenigstens als Vermutung ausgesprochen werden, dals auch die
avaaig, nach deren Beendigung Dio in Nikaia die 39. Rede gehalten
hat, derselben Zeit und demselben Zusammenhang wie die bisher be-
374 Viertes Kapitel.
sprochenen angehört. Es war eben in allen bithynischen Gemeinden
derselbe Zündstoff aufgehäuft. Die ganze Provinz galt in diesen und
den nächstfolgenden Jahren als eine unruhige, zum Aufruhr geneigte.
Deshalb wurde sie einige Jahre später dem schlaffen Senatsregiment
entzogen und vom Kaiser in eigene Verwaltung genommen. Dab man
in Rom die politischen Vereine (Hetärieen) als die gröfste Gefahr für
die Ruhe der Provinz betrachtete, lehrt ja der bekannte Brief Trajans
an Plinius, in dem er die Einrichtung eines collegium fabrorum in
Nikomedeia untersagt (ep. Plini et Traiani 34).
Wenn also, wie ich nachgewiesen habe, die Verfolgungen und Grau-
samkeiten jenes riyefAWv Ttovrjgog der 43. Rede sich auf die ganze Pro-
vinz Bithynien erstreckt hatten, so ist es um so begreiflicher, dafs sie
zu einer Anklage gegen ihn führten. Als Dio die 43. Rede hielt, war
der betreffende Proconsul nicht mehr in Bithynien, aber der Procefs
gegen ihn stand noch bevor. Beides ergiebt sich aus den bereits an-
geführten Worten {ovfjiTtQOTtwv 5k xal vvv anavta rrp TVQovvrjaavTi
Tov edyovg) so deutlich, dafs ich mir die Beibringung weiterer Be-
weise aus der Interpretation der 43. Rede sparen darf. Wäre der be-
treffende Proconsul noch im Amte gewesen, so hätte Dio nur tvqov-
vovvTi sagen können. Durch xal vvv wird die Zeit nach Ablauf seiner
Amtsführung der der Amtsführung selbst entgegengesetzt, während deren
Dio sein Ratgeber sollte gewesen sein. Wir werden daher die Worte:
dnwg ixelvog xalwg ayiavulxai — xataaxeva^fav unbedenklich auf
den bevorstehenden Procefs beziehen dürfen. Auch die hinzugefügten
Worte: xai xcrra x^crrog TtaQakrjXperai rag TtoXeig xal tovg drifxovg
schliefsen diese Auffassung nicht aus. Der Ausdruck, der eigentlich
kriegerische Eroberung bedeutet, kann hier nur im bildlichen Sinne
verstanden werden. Ich beziehe ihn auf Bemühungen des Proconsuls
sich für seinen bevorstehenden Procefs die Unterstützung einzelner
bithynischer Gemeinden zu sichern. Es wird gewissermafsen in Bithy-
nien Krieg geführt zwischen den Verteidigern und den Anklägern des
Proconsuls. Gelingt es diesem, eine Gemeinde auf seine Seite zu brin-
gen, beziehungsweise an der Unterstützung der Anklage zu verhindern,
so hat er eine Eroberung gemacht
Dieser Proconsul kann nur entweder Julius Bassus oder Varenus
Rufus sein. Denn die Erwähnung von Prusas Rangerhöhung am An-
fang der 43. Rede {talg nQw%aig %0r]v avTrjv anoiei^ag xififig ^ivexa)
zeigt, nach dem früher bewiesenen, dafs sie nicht vor dem Jahre 101
gehalten sein kann. Wenn in den auf 101 folgenden Jahren noch ein
Dio nach der RestitaÜOD. Die bithynischeD Reden. 376
dritter Repetundenprocefs gegen einen bithynischen Proconsul anhängig
gemacht worden wäre, so mUfste sich in der Briefsammlung des Plinius
eine Spur davon finden. Seine Worte ep. V 20, 1 : Herum Bithyni:
breve tempus a lulio Basso, et Rufum Varenum procotuulem dettdenmt
u. 8. w. zeigen, dafs in diesen Jahren nur diese beiden bithynischen
Repetundenprocesse stattgefunden haben.
Bevor wir untersuchen, auf welchen der beiden das aus Dio sich
ergebende Bild des '^yefAwv fcovtjQog besser pafst, müssen die Zeitgrenzen
für beide Statthalterschaften, soweit sie sich aus der sonstigen Ober-
lieferung ergeben, festgelegt werden. Aus der Lebensgeschichte des
Julius Bassus, mit der Plinios den neunten Brief des vierten Buches be-
ginnt, erfahren wir, dafs er von Domitian verbannt, von Nerva zurück-
gerufen erst nach dieser Rückberufung das bithynische Proconsulat be-
kleidete.^) Danach könnte dieses frühestens 97/98 fallen. Andererseits
steht durch Momrosens Untersuchungen fest, dafs der Procefs des JuUus
Bassus in das Jahr 103 oder 104 f^llt. Danach kann er spätestens 102/103
in Bithynien gewesen sein. Wir können aber die Grenzen noch enger
ziehen, wenn die von Hommsen im Index Plinianus angeführte Münze
eines bithynischen Proconsuls Bassus, die den Trajan Germanicus, aber
noch nicht Dacicus nennt, mit Recht auf unsern Julius Bassus bezogen
wird. Da Trajan erst seit dem germanischen Triumph des Jahres 99
den Beinamen Germanicus führt und schon seit dem dacischen Triumph
des Jahres 102 den Beinamen Dacicus, so bleiben für das Proconsulat
des Julius Bassus nur die drei Jahre 99/100, 100/101, 101/102 übrig.
Auch was wir aus den dionischen Reden über die Verhältnisse in Prusa
während der ersten Jahre nach Dios Restitution wissen, stimmt zu diesem
Ergebnis. Die Angelegenheiten, die in den dem Jahre 100 voraufgehen«-
den Jahren die prusanische Bürgerschaft beschäftigen, sind einerseits
die Erwirkung der bekannten Vergünstigungen für die Gemeinde (Ver-
mehrung der Senatorenzahl, diobttjaig, Gerichtstag in Prusa), anderer-
seits die Bauangelegenheit. Es ist nicht wahrscheinlich« dafs die Ge-
meinde in einer Zeit schwerer Bedrückung so ehrgeizige und so kostspielige
Pläne verfolgte. Wir mübten erwarten, in der 40., 4t., 45., 47. Rede
irgend welche Hindeutungen auf diese Bedrückung zu finden.
Dafs der Proceb des Varenus Rufus zwei Jahre später als der des
Bassus, nämlich im Jahre 105 oder 106, zur Verhandlung kam, wie
1) ep. 4, 9, 2 a Domitiano relegaUu est: revocatut a Neroa iortitutqne
Biihyniam rediit reus.
376 Viertes Kapitel.
durch MommseDS Untersuchungen feststeht, legt an sich die Vermutung
nahe, dafs er nach Bassus Statthaher gewesen ist. Aber unmöglich
wSre auch das Gegenteil nicht. Es ist deshalb sehr erfreulich, dafs
wir aus Dio den Beweis ergänzen können. Die 48. Rede Dios, die
während der Amtsführung des Varenus, während seiner Anwesenheit in
Prusa und zwar, wie ich nachher beweisen werde, gleich nach seinem
Eintreffen in der Provinz gehalten ist, kann frühestens in das Jahr 101
gehören. Denn sie setzt voraus, dafs die von Dio im Jahre 100 für
Prosa erwirkten Vergünstigungen schon seit längerer Zeit perfect ge-
worden sind (§11: t^v i^avrov natQida Ti^iwriQov knolriaa, XQV
jiarwv Tiva afpoQfifjv naqaax^'^ ^^^ ^^^ ßovXevTixtSv xal vfj Jia
ano twv TtQoaodwv tjv^rj^ivwv 8iä ttjv diolTcrjoiv). Varenus ist also
frühestens 101/102, d.h. jedenfalls später als Julius Bassos, Statthalter
von Bithynien gewesen.
Wir dürfen aber einen Schritt weiter gehen und behaupten, dafs
Varenus der unmittelbare Amtsnachfolger des Julius Bassus war. Um
dies zu beweisen, mufs ich näher auf die Erklärung der 48. Rede ein-
gehen. Ich habe schon vorhin die Ansicht ausgesprochen, dafs diese
Rede bei dem ersten Eintreffen des Varenus in der Provinz gehalten
ist. Bekanntlich waren die Statthalter verpflichtet, ihren Einzug in die
Provinz stets mit derselben Ortschaft zu beginnen, die auf diese Ehre
ein durch Gewohnheit geheiligtes Anrecht hatte. Diese Ortschaft war
in Bithynien Prusa, wie wir aus Plinius wissen. Die 48. Rede setzt
voraus, dafs sich Varenus jetzt nur auf der Durchreise befindet. Er ist
eben erst angekommen, denn die Prusaner haben noch nicht Gelegen-
heit gehabt, ihm ihre Wünsche und Beschwerden vorzutragen. Dennoch
wird er vielleicht schon morgen wieder abreisen (xal yaQ dfj vvv fiev
afteiai ^eta tt^v rripiSQOv Xawg Yifiiqav). Aber nach einiger Zeit wird
er wiederkehren. Dio rät seinen Mitbürgern, für jetzt alle ihre Be-
schwerden und Wünsche zurückzuhalten. Sie sollen nur den Proconsul
mit der gebührenden Ehrerbietigkeit empfangen und ihm für die erteilte
Erlaubnis zum Abhalten von Volksversammlungen Dank sagen. Es ist
also klar, dafs Varenus nicht zur Abwicklung bestimmter Geschäfte für
zwei Tage nach Prusa gekommen war, sondern nur auf der Durchreise
in Prusa Station machte. Dio will die Bürgerschaft bestimmen, dem
Varenus nicht gleich den ersten Eindruck zu verderben. Beschwerden
vorzubringen, wird sich noch früh genug Gelegenheit finden. Vorläufig
ist die Hauptsache, dafs er von Prusa den Eindruck eines wohlgeord-
neten , innerlich gesunden Gemeinwesens erhält. Wäre Varenus zur
Dio nach der ResUtatioo. Die bithyoischen Reden. 877
Zeit der 48. Rede schon laoge io der Provinz gewesen, so hätte er sich
unmöglich noch in Unkenntnis über die inneren Zustände Pnisas be-
finden können. Die Worte § 2 de^iciaaa^e xal ^er' €vq>rifilag xal
tififig v7todd^aa&€ sind auf die feierliche Begrtlfsung des soeben in
seiner Provinz eingetroffenen Statthalters zu beziehen.
Versucht man nun , aus der 48. Rede eine Vorstellung von dem
Zustande Prusas zu gewinnen, den Varenus vorfand, als er die Provinz
von seinem Vorgänger übernahm, so ergiebt sich ein Bild äufserster
Verwirrung und leidenschaftlicher Aufregung der Gemüter. Die eine
Thatsache, dafs der Vorgänger des Varenus der Gemeinde das Versamm-
lungsrecht entzogen hatte, dafs erst Varenus ihr auf ihre Bitten dieses
zu ihrer Verfassung gehörige Recht wieder verlieh, redet deutlich genug.
Es müssen fast revolutionäre Zustände in Prusa geherrscht haben, wenn
der Vorgänger des Varenus sich zu so scharfen Mafsregeln veranlafst
sab. Wir werden uns daher nicht durch Dios beschwichtigende Ver-
sicherungen täuschen lassen, dafs ein Bürgerzwist (ataaig oder dia--
g>OQd) in Prusa garnicht vorhanden sei. Es gilt nur den vorhandenen
vor Varenus soviel als möglich zu vertuschen.
Offenbar war Prusa in den Augen des vorigen Statthalters ein auf-
rührerisches Gemeinwesen, das der strengsten Überwachung bedurfte.
Aus § 9 geht hervor, dafs der Demos sich gegen den Rat auflehnte und
gegen die Notabein bei Varenus Klage zu führen beabsichtigte. Es wird
als ein besonders dankenswertes Entgegenkommen des Varenus aufge-
fafst , dafs er der Gemeinde das Versammlungsrecht wiedergegeben hat.
Er hat damit der Bürgerschaft ein Vertrauen bewiesen, das sie um so
weniger täuschen darf, je geringeren Anspruch auf solches Vertrauen
ihr bisheriges Verhalten begründen konnte. Dafs der Bürgerzwist in
Prusa nicht blofs locale Ursachen hatte, sondern solche, die auch andere
bithynische Städte betrafen, beweist die schon vorhin citirte Stelle in
§ 8 über die Ansteckung Prusas durch die Nachbarschaft und über den
Sturm auf dem Meere, der sich auch im Hafen fühlbar macht. Es
hatten also unter dem Vorgänger des Varenus jene Wirren stattgefunden,
die wir aus der 43. Rede kennen. Der fjyefidfv novriQog der 43. Rede,
der tvQavvT^aag %ov %^vovg ist kein anderer als Julius Bassus.
Wenn also Varenus der unmittelbare Nachfolger des Julius Bassus
war und bei seinem Eintreffen in Bithynien noch die Verwirrung und
Aufregung der Bevölkerung vorfand, die jener durch sein tyrannisches
Regiment hervorgerufen hatte, so kann er, nach dem früher über die
Statthalterschaft des Bassus ermittelten, spätestens 102/103 in Bithynien
378 Viertes Kapitel.
gewesen sein und, nach den in der 48. Rede enthaltenen Hindeutungen
auf Dios Verdienste um Prusa, nicht vor 101/102. Da der Procefs des
Varenus in die Jahre 105 oder 106 föllt, so hat das spätere der beiden
Jahre mehr Wahrscheinlichkeit für sich; und diese Wahrscheinlichkeit
wächst noch, wenn wir die Rolle beachten, die Varenus in dem Procefs
des Rassus spielt. Nach Plin. ep. V 20, 1 hatten ihn die Rithyner als
Rechtsbeistand in diesem Procefs erbeten und erhalten. Dagegen geht
aus der ausführhchen und gewifs in der Aufzählung der Redner voll-
ständigen Schilderung der Procefsverhandlung selbst Plin. ep. IV 9 her-
vor, dafs Varenus in dem Procefs nicht aufgetreten ist Sein Rücktritt
war jedenfalls dadurch hervorgerufen, dafs er inzwischen von den in
Dithynien gegen ihn selbst gesponnenen Intriguen Kenntnis erlangt
hatte. Dies erklärt sich am leichtesten , wenn zwischen dem Ende der
Statthalterschaft des Varenus und der Procefsverhandlung gegen Rassus
nur kurze Zeit lag. Als die Rithyner in die Lage kamen, sich für den
Procefs des Rassus einen advoeatus zu erbitten, hatte sich in Rithynien
selbst die öffentliche Meinung inbetreff des Varenus noch nicht ge-
nügend geklärt. Die ihm feindlichen Restrebungen waren noch nicht
zur Reife gekommen. Sonst würden selbst seine Freunde und An-
hänger es schwerlich für zweckmäfsig gehalten haben, ihn als advocatus
zu erbitten.
Die Verfluchung der Dacier or. 48 § 5, die schon Arethas benutzte,
um zu beweisen, dafs die Rede einem der Dacierkriege Trajans gleich-
zeitig ist,') bringt eine willkommene Restätigung des auf anderem Wege
gewonnenen Ergebnisses. Auch ich glaube, dafs die durch den Zu-
sammenhang nicht geforderte, so zu sagen bei den Haaren herbeigezogene
Remerkung nur psychologisch erklärlich ist während des Krieges selbst.
Die blofse Thatsache, dafs die Dacier gefährliche Nachbarn für das
römische Reich waren und kriegerische Verwicklungen mit ihnen im
Rereich der Möglichkeit lagen, reicht nicht aus, um ihre Verfluchung
psychologisch zu rechtfertigen. Auf den zweiten Dacierkrieg kann die
Stelle keinesfalls bezogen werden. Denn, mag nun der Procefs des
Varenus 105 oder 106 fallen, mit beiden Annahmen ist es unvereinbar,
dafs er 105 — 106 proconsul Bithyniae war. Es bleibt also nur der erste
Dacierkrieg übrig, der von 101 — 102 dauerte. Die Frage, ob Varenus
im Sommer 101 oder im Sommer 102 nach Rithynien kam, läfst sich
freilich auf diesem W>ge nicht entscheiden. Doch auch diese Alter-
1) Sonny Analecta p. 121 n. 215.
Dio Dach der Restitatioo. Die bithynischen Reden. 879
naüve brauchen wir nicht offen zu lassen. Aufser dem oben bemerkten
entscheidet für den Sommer 102, dafs die sicher dem Jahre 101 an-
gehOrigen Reden, die 40., 41., 47., noch keine Beziehung auf die Leiden
der Provinz unter Julius Bassus enthalten. Nicht durch sein in der
43. Rede erwähntes'Eintreten für die avxo(pavTOVfA€voiy sondern durch
den Streit mit Apameia und durch die Bauangelegenheit wurde Dio aus
der Hufse des Privatlebens herausgerissen, die er nach seiner Rückkehr
aus Rom aufgesucht hatte.
Dafs der in der 43. Rede erwähnte ^yefiwv novtjQog Julius Bassus
ist, suchte ich aus der 48. Rede zu beweisen, sofern diese zeigt, dafs
Varenus, bei seinem Eintreffen in der Provinz, die Nachwirkungen des
Sturmes noch vorfand, den das tyrannische Regiment des Bassus erregt
hatte. Dieser Nachweis, der uns zur Erörterung der chronologischen
Frage nötigte,') bedarf noch einer Ergänzung. Es mufs noch gezeigt
werden , dafs die Schilderung der 43. Rede zu den Mitteilungen des
Plinius über Bassus besser pabt als zu seinen Äufserungen über Varenus.
Die Procefsverhandlung gegen Bassus wird im neunten Brief des vierten
Buches eingehend geschildert. Bassus hatte, nach der Darstellung des
Plinius, den verbal tnismäfsig günstigen Ausgang seines F'rocesses haupt-
sächlich dem Umstände zu danken, dafs ihm wegen der Verfolgungen,
die ihn unter den drei flavischen Kaisern ohne eigene Verschuldung
betroffen hatten, die Hehrheit des Senats eine warme Sympathie ent-
gegenbrachte. Plinius bestreitet nicht, dafs das formelle Recht auf
Seiten derjenigen Senatoren war, die für die Verurteilung des Bassus
stimmten. Die mildere Auffassung, die bei der Abstimmung den Sieg
davontrug, berief sich auf das Recht des Senats, die Gesetze in der An-
wendung zu mildern oder zu verschärfen. Julius Bassus hatte allerdings
die Gesetze übertreten, aber in einer Weise, die herkömmlich war. Es
erschien deshalb der Mehrheit zu rigoros, auf dem Buchstaben des Ge-
setzes zu bestehen. Bassus wurde nicht aus dem Senat gestofsen. Aber
man fand doch für nötig, die RechtsgUltigkeit der von Bassus während
seiner Statthalterschaft getroffenen Entscheidungen aufzuheben. Jeder
t) Ich muts hier noch nachtragen, dafs die Äufserungen Dios aber seinen
schlechten Gesundheitszustand, der ihn zwingt seine Rede abzukürzen, in der.
39. Rede §7 und in der 48. Rede §8 zeigen, dafs diese Reden zeitlich nicht weit
auseinander liegen. Es wird dadurch die oben geäufserte Annahme bestätigt, dafs
die ordaiQ in Nikaia, nach deren Beendigung die 39. Rede gehalten ist, in das
Proconsulat des Bassus fällt und mit dem %etu€iiv und der ö^&al/uia der 43. Rede
identisch isL
380 Viertes Kapitel.
von seinen Entscheidungen Betroffene erhielt das Recht, binnen zwei
Jahren Wiederaufnahme des Verfahrens zu beantragend) Diese That-
sache zeigt, dafs die Verhandlung nicht nur in dem Yon Plinius (ep. IV 9)
als besonders bedenklich bezeichneten Punkte, der Annahme von Ge-
schenken, sondern auch in anderer Hinsicht den Bassus belastet hatte.
Dafs Bassus von seinen Untergebenen Geschenke in solchem Umfang
und unter solchen Umständen angenommen hatte, dafs die Anklage von
Beraubung und Ausplünderung sprechen konnte, ist schlimm genug,
mag auch Plinius es entschuldbar finden. Aber es vi^ar kein gentlgender
Grund für die Aufhebung seiner acta. Diese Mafsregel setzt vielmehr
voraus, dafs sich die Rechtsprechung und Verwaltung des Bassus als in
vielen Fällen anfechtbar herausgestellt hatte. Offenbar wollte man so
die in bedrohlicher Weise erregten Gefühle des bithynischen Volkes be-
schwichtigen. Plinius, der von dem ganzen Thatbestande der Anklage
nur das Annehmen von Geschenken als eine zweifellose Gesetzesüber-
tretung bedenklich fand, meint, dafs in den übrigen Punkten, die sich
weit schlimmer anhörten, Bassus nicht nur Freisprechung, sondern so-
gar Lob verdient habe. Diese Äufserung pafst sehr gut auf die grau-
same Verfolgung der politischen Vereine, die vom Standpunkt der
Bithynier (zumal wenn in Folge des Delatorenunfugs viele Unschuldige
betroffen wurden) als unerträgliche Tyrannei, vom Standpunkt der
römischen Beamten als pflichtmafsige Strenge erschien. Plinius setzte
in seinem Plaidoyer auseinander, durch welche Mafsregeln sich Bassus
den Hafs aller politisch gefährlichen Kreise zugezogen hatte (dicerem
causas, quibus factiosissimum quemque — offendmet). Erinnert man sich^
dafs Trajan ep. 34 , wo er mit der Gefährlichkeit der Hetärieen sein
Verbot des collegium fabronim in Nikomedeia begründet, die Hetärieen
factiones nennt, so wird man wahrscheinlich finden, dafs die Mafsregeln
des Bassus, durch die er faetiosissimum quemque beleidigt hatte, eben
gegen diese factiones sich richteten. Er wird gegen ihre Mitglieder be-
sonders Relegation in perpetuum verhängt haben. Daher lafst Dio sich
den Vorwurf machen , er habe den schlechten Statthalter beredet: Toy
/ikv öfiiAOv ßaaavlaai xal i^elaaai oaovg av divrjraL nXelarovg,
evlovg dk xal aTtoxrelvai, naQaoxtJV avdyxrjv avrolg ixovolwg ano-
d'avBlv dia ro ^uij dvvaad'ai jcgeaßvrag ovrag (pvyelv ^rjök vfco-
liivuv KLaraXineiv rrjv TcaTQida. In der That ist die einzige Ent-
1) ep. Plin. et Traf. 56 acta Basti rescista datumque a tenatu ins omnibus
de quibus Ute aliquid constituisset ex ialegro agendi , dumtaxat per biennium.
Bio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 381
ßcheiduDg des Bassus, die wir (aus dem Brief des Plinius an Trajan
ep. 56) kennen, eine Relegation in perpetuum. Es pafst also das Bild
der Statthalterschaft des Bassus, das sich aus den Pliniushriefen er-
giebt, vortrefflich zu dem Bilde des schlechten Statthalters in Dios
43. Rede.
Von dem Procefs des Varenus handelt Plinius in einer ganzen Reihe
von Briefen des fünften, sechsten und siebenten Buches. Was die An-
klage dem Varenus zur Last legte, geht aus keinem von ihnen hervor.
Man erkennt nur aus dem ganzen Verlauf der Sache mit grofser Deut-
lichkeit, dafs in Bithynien selbst der Parteien Gunst und Hafs um
Varenus stritten. In dem Procefs des Bassus erbitten sich die Bithyner
den Varenus als Anwalt Nicht lange darauf bekommt die entgegen-
gesetzte Strömung die Oberhand. Der Varenus feindlichen Partei gelingt
es durchzusetzen, dafs auch gegen ihn eine Repetundenklage angestrengt
wird. Als Wortführer dieser Partei erscheint in Rom der Bithyner
Fonteius Magnus. Varenus stellt den Antrag, auch ihm die (nach dem
Gesetz nur dem Ankläger zustehende) Befugnis zur zwangsweisen Vor-
ladung von Zeugen zu verleihen. Der Senat beschliefst dem Antrage
stattzugeben. Nachträgliche Versuche, diesen Beschlufs wieder umzu-
stofsen, bleiben erfolglos. Der Kaiser, an den sich die Bithyner mit
einer Beschwerde über den Senatsbeschlufs wenden, schickt die Sache
zu nochmaliger Verhandlung an den Senat zurück. Dieser bestätigt mit
grolser Majorität seine frühere Entscheidung. Inzwischen tritt in Bithynien
wieder ein Umschwung der Stimmung ein. Die dem Varenus günstig
gesinnte Partei bekommt die Majorität im Landtag. Der Landtag {eonr
dlium — xoivov t^q Bidwlag) beschliefst, die Anklage zurückzuziehen
und entsendet zu diesem Zweck eine neue Gesandtschaft unter Führung
des Claudius Polyaenus nach Rom. Aber Fonteius Magnus beruft sich
auf die Rechtsgültigkeit seines Mandats und besteht hartnäckig auf der
Einleitung des Processes. Der Senat beschliefst, den schwierigen Fall,
bei dem es zweifelhaft bleibt, ob Varenus als von der Provinz angeklagt
zu gelten hat oder nicht, dem Kaiser zur Entscheidung zu überweisen.
Dieser, nachdem er Polyaenus und Fonteius angehört hat, verspricht
weitere Ermittelungen über die Willensmeinung der Provinz anzustellen.
Dies ist die letzte Nachricht über Varenus' Sache in den Pliniushriefen.
Wie schliefslich die Entscheidung des Kaisers ausfiel, wissen wir nicht.
Aber wir dürfen vermuten, dafs sie dem Varenus günstig war. Denn
schwerlich würde Plinius die ganze Reihe der Briefe, in denen er seine
lebhafte Sympathie für Varenus und schliefsUch seine Zuversicht auf
882 Viertes Kapitel.
einen glücklichen Ausgang seiner Angelegenheit kundgiebt/) bei Leb-
zeiten Trajans veröffenthcht haben, wenn dieser den Varenus schuldig
befunden hätte. Wahrscheinlich blieb es dabei, dafs die Provinz ihre
Anklage zurückzog. Aus dem ganzen Verlauf gewinnt man den Ein-
druck, dafs die Anklage gegen Varenus ein Werk der Kabale war und
dafs keine oder ganz unerhebliche Belastungsmomente gegen ihn vor-
lagen. Der Antrag des Varenus, um den in Rom der Streit entbrannte^
war ein Zeichen seines guten Gewissens. Schwerlich würde sich der
Landtag zu dem ganz ungewöhnlichen Schritt, der Zurückziehung der
Anklage, entschlossen haben, wenn sich nicht die Grundlosigkeit der
Beschuldigungen herausgestellt hätte, die zu ihrer Erhebung geführt
hatten. Von Polyaen sagt Plinius ep. VII 6, 6, dafe er im Senat ^^camas
abolitae accusationis exposuü". Diese Begründung mufs eine objective,
auf den Thatbestand der Anklage bezügliche gewesen sein. Auch Fon-
teius Magnus mufs sein Mandat vom xoivov r^g Bi&vvlag gehabt haben.
Dieses konnte seinen eigenen früheren Beschlufs nur aufheben, wenn
es auf Grund besserer Information an der Berechtigung und Durchführ-
barkeit der Anklage irre geworden war. Es ist also nicht wahrschein-
lich, dafs Varenus mit dem fffs^wv novrjQog, dem rvgavvijoag rou
%&yovg identisch ist.
Das Ergebnis dieser Untersuchungen für die Ermittelung der Zeit-
folge der dionischen Reden ist folgendes. Die 48. Rede ist im Sommer
102 gleich nach dem Eintreffen des Varenus in Bithynien gehalten;
Ungefähr derselben Zeit gehurt die 39. Rede an (Iv NivLalt^ TteTtav-
fihnjg r^g araaecog). Später, aber wahrscheinlich noch in die Statt-
halterschaft des Varenus fällt die 43. Rede, welche voraussetzt, dafs die
Anklage gegen Julius Bassus vorbereitet wird. Aus der Statthalterschaft
des Julius Bassus (101 — 102) könnte am ersten die 47. Rede stammen,
wenn sie ihr nicht noch vorausliegt. Jedenfalls ist sie äher als die
48. Rede. Denn das Stadium der Bauangelegenheit, das uns die letztere
zeigt, ist entschieden das spätere. Vor allem aber erwähnt die 47. Rede,
wie die 40., den Entschlufs Dios, sich jeder rednerischen Thätigkeit zu
enthalten. Ich habe früher bewiesen, dafs das vvv yovv devQo aq>i%6-
lABvog in or. 40 § 1 und das ci(p^ ov vvv ^xov or. 47 § 8 auf die Rück-
kehr von der römischen Gesandtschaftsreise des Jahres 100 zu beziehen
ist. Wir dürfen also die 40. und die 47. Rede nicht weit auseinander-
1) ep. YIl 10: etenim quam dubium est, an merito aecusetur qui an omnino
aeeusetur incerlum est?
Dio Dach der Restitution. Die bithyDischen Reden. 388
rücken. Sie werden beide dem Jahre 101 angeboren; und zwar ist die
47., wie oben bemerkt, die spätere. Ob sie schon in die Statthalter-
schaft des Bassus füllt, können wir nicht sagen.
Die 47. Rede mufs aber auch älter sein als die 45. Das ergiebt
sich aus der verschiedenen Art und Weise, wie in beiden Reden der
Gedanke, Prusa demnächst zu verlassen und sich auf Reisen oder nach
Rom zu begeben, behandelt wird. In der 47. Rede spricht Dio, im
höchsten Unwillen über das zweideutige und widerspruchsvolle Verhallen
des Volkes in der Bauangelegenbeit, das zornig ungeduldige Wort aus:
Gebt mir nun endlich klar und deutlich euern Willen kund, was in der
Sache geschehen soll; wo nicht, werde ich euch ruhig schreien lassen
oder vielmehr von Prusa fortgehen. Was hindert mich daran? Wäre
es nicht für mich viel bequemer und angenehmer, statt mich mit euern
Angelegenheiten herumzuplagen, die Gesellschaft des Kaisers und anderer
römischer Grofsen aufzusuchen, die mir Ehre und Bewunderung zollen,
oder die Grofsstädte zu bereisen, in denen ich überall der ehrenvollsten
Aufnahme gewils wäre? — Der ganze Zusammenhang zeigt, dafs Dio
damals nicht ernstlich daran dachte, Prusa zu verlassen. Er spielt nur
mit diesem Gedanken, um seine entsagungsvolle Arbeit ins rechte Licht
zu setzen; und wenn die Rede, wie ich bewiesen habe, dem Jahre 101
angehört, so begreift man, dafs er nicht daran denken konnte, sich zu
Trajan zu begeben, der damals durch den Dacierkrieg von Rom fern-
gehalten wurde. — Dagegen beginnt die 45. Rede mit der Erklärung',
sein Aufenthalt in Prusa nahe sich nun seinem Ende; er wolle daher
seinen Mitbürgern über ihn Rechenschaft ablegen. Der Ausdruck, den
er hier gebraucht: iTteidi] xai ßqaxvv oTlofiai rov Xomov ioea&al
fioi XQovoVy läfst durchblicken, dafs es nicht allein von dem freien
Willen des Redners, sondern auch von äufseren, nicht in seiner Macht
stehenden Umständen abhängt, wann sein Aufenthalt in Prusa zu Ende
geht. Denn ob etwas eintreten wird, das herbeizuführen ganz bei ihm
steht, kann ihm nicht Gegenstand eines oiBod^ai sein. Diese äufseren
Umstände können nicht in den prusanischen Verhältnissen bestanden
haben, die dem Redner den Aufenthalt verleideten. Denn diesen hatte
er seit Jahren Trotz geboten, während er offenbar das Eintreten der
betreffenden Umstände von der Zukunft erwartet und für unmittelbar
bevorstehend hält.
Welcher Art diese Umstände waren, darüber giebt die Oberlieferung
nicht klaren Aufschlufs. Sollen wir aber eine Vermutung wagen, so
müssen zunächst die anderen Reden herangezogen werden, in denen
384 Viertes Kapitel.
die Ankündigung der bevorstehenden Abreise wiederkehrt: die 49. und
die 50. Rede. Die 49. Rede {TtagalTtjaig agxrjg h ßovXfJ) führt ihre
Gberschrift mit Recht. Dio lehnt in ihr die Wahl zum höchsten Ge-
meindeamte ab. Wenn er in dem grOfsten Teil der Rede zu beweisen
sucht, dafs %ov ye ovrwg q>iloa6q>ov to Uqyov ov% %%eq6v kativ t}
a^ri av^QOJTCWv und dafs der Philosoph in erster Linie dem Gemeinde-
leben seiner Vaterstadt seine Kräfte zu widmen verpQichtet sei, so ge-
schieht es, um zu beweisen, dafs er nicht principiell abgeneigt ist, das
Amt zu Obernehmen, sondern durch äufsere Umstände daran verhindert
wird. Seine Lebensgrundsälze würden ihm an und fttr sich verbieten,
sich lange nötigen zu lassen; sie würden fordern, da& er sich selbst
um das Amt bewtlrbe. Aber es ist unmöglich für ihn, länger in Prusa
zu bleiben. Er hätte eigentlich schon längst Prusa verlassen müssen.
Es ist immer wieder etwas dazwischen gekommen, was seine Abreise
verzögerte. Jetzt aber ist kein weiterer Aufschub möglich. „Weder
mir noch euch,** sagt er, „würde es von Vorteil sein, wenn ich länger
hier bliebe.** — Diese Rede stimmt also mit der 45. insofern überein,
als auch sie nicht des Redners eigenen freien Entschlufs, sondern eine
force majeure für die bevorstehende Abreise verantwortlich macht. Dazu
gesellt sich noch die mysteriöse Andeutung, nicht nur für ihn selbst,
sondern auch für Prusa sei seine Abreise vorteilhafter. Sicherlich ist
die 49. Rede später als die 45. Die Abreise ist inzwischen näher ge-
rückt Die Vermutung ist zur Gewifsheit geworden. Die zwingenden
Umstände, deren Eintreten erwartet wurde, sind wirklich eingetreten«
Die 50. Rede steht der 49. zeitlich sehr nahe, genauer: sie liegt
ihr um einige Tage oder Wochen voraus. Die Gewifsheit der bevor-
stehenden Abreise ist schon in der 50. Rede vorhanden« aber der Wahl-
termin, der die 49. Rede veranlafst hat, steht noch bevor. In § 7 wehrt
Dio das Mifsverständnis ab, als ob er selbst nach dem höchsten Ge-
meindeamte strebe. „Denn ich,** sagt er, „werde fortgehen, aus vielen
Gründen (und ich bitte euch, mir zu glauben, dafs es diesmal wirklich
Ernst wird), und ich darf wohl sagen, nicht um meines Nutzens und
meiner Requemlichkeit willen.** Diese Worte beweisen erstens, dafs Dio
seine Abreise schon mehrfach angekündigt und dann doch wieder ver^
schoben hatte. Die Anfangsworte der 45. Rede dürfen wir als eine
dieser vorläuGgen Ankündigungen betrachten. Ferner bestätigen diese
Worte, was wir schon aus der 49. Rede entnommen hatten: dafs Dio
nicht um den Unbequemlichkeiten des prusanischen Lebens zu ent-
fliehen (wie er in der 47. Rede gedroht hatte), sondern, von ande-
' Dio nach der Restitution. Die bithynischen Reden. 385
ren GrUaden abgesehen, auch um Prusas willen seine Abreise für
nötig hielt.
Erinnern wir uns nun, dafs sich Dio or. 45 § 3 als besonderes
Verdienst anrechnet, die grofse ihm von Trajan erwiesene Huld und
Gnade zu keinem egoistischen Zwecke ausgenutzt zu haben (plov ra
TfjQ ovalag IrtavoQd'waag duq)'9'aQ^ivrjg r] TtqoaXaßdv riva clqx^v
rj öyvafAiv) und dafs er in der 47. Rede andeutet, er könnte, wenn er
nur wollte, auf Grund seiner Bekanntschaft, um nicht zu sagen Freund-
schaft, mit dem Kaiser in dessen Umgebung eine ehrenvolle Stellung
einnehmen, so kann man nicht umhin, zu vermuten, dafs eben der
Wunsch des Kaisers, Dio an seinem Hofe zu sehen, die force majeure
war, die seine Abreise nötig machte. Diese Hypothese erklärt voll-
kommen die mysteriösen Andeutungen der 45., 49. und 50. Rede. Sie
erklärt, dafs Dio in der 45. Rede zwar glaubt, sein Aufenthalt in Prusa
werde nur noch kurz sein, aber es nicht genau weifs — und dafs er,
wie wir aus or. 50 § 7 schlössen , seine Abreise mehrfach ankündigte
und wieder verschob. Wann der Dacierkrieg ein Ende nehmen und
Trajan nach Rom zurückkehren würde, war nicht mit Bestimmtheit vor-
auszusehen. Unsere Hypothese erklärt ferner, wieso Dio seine Abreise
als vorteilhaft für Prusa bezeichnen durfte. Er hoffte, wie er z.B. in
der 48. Rede ausspricht, durch seinen Verkehr mit dem Kaiser noch
weitere Vergünstigungen und Vorteile für Prusa zu erwirken. Sie er-
klärt auch den längeren Verkehr Dios mit dem Kaiser, den die dritte
Rede „vom Königtum'' erwähnt und andere Thatsachen, die uns weiter-
hin beschäftigen werden.
Die 48. Rede gehört, wie wir sahen, dem Sommer 102 an. Auf
sie folgte zunächst, nachdem in Prusa die dacischen Siege und die glück-
liche Beendigung des Krieges bekannt geworden waren, die 45. Rede.
Aber die Abreise verzögerte sich, sei es weil Dio in Prusa noch Not-
wendiges zu erledigen hatte, sei es weil er eine erneute Einladung von
Seiten des Kaisers abwartete, bis zum Frühjahr des folgenden Jahres
103. In die ersten Monate dieses Jahres gehören die 50. und — wenig
später — die 49. Rede. Dafs die beiden letztgenannten Reden derselben
imdrifxLa Dios wie die übrigen erhaltenen bithynischen Reden ange-
hören, wird durch die Anspielung der 50. Rede auf Dios Partei-
nahme für die Populären bewiesen. Denn sie setzt voraus, dafs
die Vorkommnisse unter dem Proconsulat des Bassus noch in frischer
Erinnerung waren. Im Frühjahr 103 machte sich Dio auf, um nach
Rom zu gehen.
V. Arn Im, Dio. 25
386 Viertes Kapitel.
Es mufs scblielslich noch die Rolle besprochen werden, die der
Sohn Dios in der 49., 50. und 51. Rede spielt. Dieser junge Mann,
der im Jahre 96, als Dio die 44. Rede hielt, noch zu den veavlayLoi
gerechnet werden konnte, also schwerlich viel mehr als zwanzig Jahre
zahlte, hatte inzwischen das zur Bekleidung von Gemeindeämtern erfor-
derliche Alter erreicht Aus dem 78. Brief des PUnius an Trajan wissen
wir, dafs ein Edict des Augustus die Itx Pompeia, die ein Alter von
30 Jahren für die Bekleidung von Gemeindeämtern forderte, dahin ab-
geändert hatte, dafs die Bekleidung der minores magistratus schon vom
vollendeten 22. Jahre an erlaubt sein sollte. Wer ein solches Amt be-
kleidet hatte, wurde Mitglied des Rats. Aus der 51. Rede, deren Zeit
sich nicht näher bestimmen läfst, erfahren wir, dafs Dios Sohn yvfiva-
aloQXOQ — oder wie die ofQcielle Titulatur des mit der Aubicht über
die Ausbildung der Epheben betrauten Magistrats gelautet haben mag —
gewesen war. Dieses Amt gehörte gewifs zu den minores magistratus.
Später erlaugte er ein höheres Amt, dessen uns unbekannte Titulatur
Dio mit folgenden Worten umschreibt or. 51 § 6: orq} yag nokig okrj
xal Srjixog ix(ov iTtirgeipe Ttaiöeveiv avxbv %al ov iTtiaTaTrjv eiXero
rfg iwiv^g aQerfjg aal OTtp rrjv fÄeylarrjv oqx^^ edwxe T^g au}<p^oav-
VTjg Tiai T175 evta^lag xal %ov xaXtag ßiovv ixaatov. Weil er sich als
Vorsteher der Epheben bewährt hatte, hat man ihm, nach Dios Darstellung,
das Vertrauen geschenkt^ dafs er auch unter den Erwachsenen für Tugend
und gute Sitte zu sorgen verstehen werde. Dieses Amt, das nach §7
dia Tiavrog aQxuv rov XQovov ein lebenslängliches war, ist also als
eine praefectura tnorum zu denken. Einen knl t'qg eixoafiLag a^wv diä
ßiov kennen wir z. B. aus Aezani in Phrygien CIGr. III add. 3831 a '\
add. 3847m. Wenn Dio sagt: irceidri fio&Bad-B %ovg kqrqßovg — xgelv-
Tovag 7t€7Coirjy^Ta , ev-d^vg riyeia&e xal vfiäg afxelvovg dvvaa-S'ai
noulv, so ist aus ev^vg natürlich nicht zu schUefsen, dafs sein Sohn
unmittelbar nach der Gymnasiarchie die praefectura morum bekleidete.
Es ist durch jene Worte nicht ausgeschlossen^ dafs Dios Sohn zwischen
der Gymnasiarchie und der praefectura morum andere, mehr politische
Ämter bekleidete. Für unsern chronologischen Zweck kommt es vor
allem darauf an, dafs das Amt, welches Dios Sohn soeben erlangt hatte,
als Dio die 51. Rede hielt, nicht dasselbe ist, von dem er in der 50. Rede
spricht. Dios 50. Rede setzt unzweifelhaft voraus, dafs Dios Sohn, als
sie gehalten wurde, das höchste Gemeindeamt, das Amt eines ä^iov be-
kleidete. Ein äg^ag rrjv fieyiaTrjv ccqxt^v ist aus Nikaia CIGr. IH 3749
bezeugt. Wir werden daher auch für Piiisa einen obersten Archon
Dio nach der RestituiioD. Die bithynischen Reden. 887
voraussetzen dürfen. Nur unter dieser Voraussetzung scheinen mir die
Worte ganz verständlich, in denen Dio or. 50 § 10 jenes Gerede der
Leute erwähnt, das ihn das Wort zu ergreifen veranlafst hat. Erstens
hat er gehört, man gebe ihm Schuld, die Zusammenberufung des Rats
verhindert zu haben {koyog i^^vtj Toiovtog wg ifii ifinoöwv yBvo^
fievov t(p avvdyeo^ai ßovki^v); zweitens ist die Meinung verbreitet:
Ttavra anhig — ra rfig ctQx^g ylyvea^'ai x<na rrjv ifiriv yvtifAtjv.
Natürlich müssen die beiden Punkte unter einander in Zusammenhang
stehen. Der erste ist ein Specialfall des zweiten. Dio, der zur Zeit
dieser Rede kein Amt bekleidete, wie aus § 3 (f>irjT€ haigeüf rivl
TtSTtoid'wg fiirjte owri&eig i^ i^wv ^(av Tivag d'aQQuiv elaiqxofiai
TtQog vfjiäg) hervorgeht und selbst nicht als ständiges Mitglied dem Rate
angehörte, konnte die Zusammen berufung des Rats nur durch Reein-
flussung seines Sohnes verhindern, der also in seiner amtlichen Eigen-
schaft das Recht der Einberufung des Rats gehabt haben mufs. Es
kann dabei vorläufig dahingestellt bleiben, ob er allein oder in Verbin-
dung mit einem oder miehreren Collegen dieses Recht ausübte. Der
zweite Vorwurf, da(s die aqxri in allen Stücken nach Dios Willen ver-
waltet werde, giebt die allgemeine Voraussetzung, auf der der erste
speciellere beruht. Weil man überhaupt für alle Mafsregeln des Sohnes
den Vater verantwortlich machte, schrieb man auch die seltene Ein-
berufung des Rates auf seine Rechnung. Hieraus geht hervor, dafs
Dios Sohn damals das höchste Gemeindeamt bekleidete und dafs zu den
Befugnissen dieses Amtes auch die Einberufung des Rats gehörte. Wäre
nämlich der TtQoaraTfjg Tf;g ßovix^g nicht gleichzeitig oberster aQ%iav
gewesen, so könnte Dio nicht sagen: navta anXuig ja %i]g aq^g
yiyvead'ai xara ttjv ifiijv yviufiriv. Er wehrt den Vorwurf ab, dals
er den Rat seiner verfassungsmäfsigen Mitwirkung bei der Regierung
beraube, um selbst durch das Medium seines Sohnes die ganze Regie-
rung nach eigenem Gutdünken zu führen. Dies war nur möglich, wenn
der Sohn die oberste Magistratur bekleidete. Da der Ausdruck rein
unpersönlich gewählt ist (navta aTthig %a %rig aQX^g) und von dem
Sohn in diesem Zusammenhang noch garnicht die Rede war, kann
oQXri nicht ein beliebiges Einzelamt, sondern nur die agx^] xorr' Hoxv^f
die Oberleitung der gesamten Regierungsgeschäfte bedeuten. Es fällt
nun auch ein neues Licht auf die bisher dunkle Stelle in §7: exere
fxlv Ttgoararag XQ'^fi'^^^'^y ovdiva di a^cov iavrciv, aXX ovdk rdv
Ttgoregov tov kfxbv natiga rj naTcnov ovdk voig tüv aXXcJV, nav^
Tag ayad-ovg xai xifiijg a^lovg. Schon hier will Dio dem Vorwurf
25*
388 Viertes Kapitel.
vorbeugen, dafs er die Befugnisse des aqx^v und nQoaxaxriq, d. h.
seines Sohnes, auf Kosten des Rats auszudehnen bestrebt sei. Darum
hebt er hervor, dafs er die Körperschaft höher schätzt als den Vor-
steher, dafs dieser trotz seiner Vorzüge nicht würdig sei, der Körper-
schaft vorzustehen. Denselben Zweck verfolgt schon die frühere Äufse-
ruDg in § 5: %al tov vlov tovtov, ei vovv ex^i aal ao)q>Qovel, voixtLia
jcdvra rov ßlov v/äIv avadTjaeiv aal ^eQanevaeLv vuäg ovx ritxov
ifiov. Auch sie wird erst verständlich, nachdem wir den Zweck der
ganzen Rede erkannt haben. Es ist nicht zu befürchten, will Dio sagen,
dafs mein Sohn, der Erbe meiner Gesinnungen, als otQxuiv eine dem
Rat feindliche, ihn aus seinen verfassungsmäfsigen Rechten verdrängende
Politik betreiben wird. — Auch der Ausdruck in § 10 ägx^iv avxov
a^iwaavTa zrjg 7c6kewg dürfte kaum für ein anderes als das höchste
Gemeindeamt passen.
Nun wird ja freilich in § 7 der Plural jcQoazdxag xqriOTOvg ge-
braucht. Aber dieser Plural widerlegt nicht unsere anderweitig genügend
begi^ündete Annahme eines obersten Sqx^^ und TtQOOxdtrfi rfig ßovkijg,
Or. 44 § 3 sagt Dio von seinem Vater: oaov eCj] xQOvov äixaliog
TtQoeaTiüta rijaöe. Ttjg rcolewg. Der Ausdruck würde schwerlich so
gewählt sein, wenn Dios Vater als Mitglied eines aus gleichberechtigten
Gliedern zusammengesetzten Collegiums der Gemeinde vorgestanden
hätte. Sicherlich ist hier dieselbe Stellung gemeint, wie or. 50 § 7, wo
Dio auch seinen Vater erwähnt Auch am Schlufs der 48. Rede ist von
einem aQxoav schlechtweg, ohne weiteren Zusatz, die Rede. Nach dem
Zusammenhang kann auch dort nur der oberste Leiter der Regierung
gemeint sein. Es wird sich endlich im Fortgange der Untersuchung
noch zeigen, dafs auch die aqx^y <^ie Dio in der 49. Rede ablehnt, die
Stelle des obersten aQxoav ist.*) Den Plural 7CQ0G%a%ag or. 50 § 7
können wir auf verschiedene Weise erklären, ohne unsere Annahme
eines obersten ägxojv und TtQOOTdtrjg Tfjg ßovkijg aufzugeben. Ent-
weder waren an dem Vorsitz des Rats aufser dem obersten oQx^y
andere ihm untergeordnete Magistrate beteiligt, oder Dio denkt nicht
nur an den gegenwärtigen aQxo)v, sondern spricht generalisirend.')
Ich habe früher gezeigt, dafs die 49. und die 50. Rede, wegen der
ähnlichen Äufserungen über die bevorstehende Abreise des Redners^
1) Auch or. 40 § 20 ist wohl der Aq^mv xar i^ox^v zu verstehen.
2) Die Worte All* <yd8k rßv nqdreQov können nicht gegen diese Interpre-
tation angeführt werden; es kann der Gegensatz der ferneren Vergangenheit, in
der Dios Vater und Grorsvater Ttpoordrat waren, zu den letzten Jahren vorschweben.
Dio nach der RestitatioD. Die bithynischen Reden. 889
zeitlich nahe zusainmeDgehören. Ich habe hinzugefügt, dafs die 50.Rede
TrUher gehalten sein mufs als die 49-, weil Dio in jener den Argwohn
zurückweist, nach dem Amte zu streben, das er in der 49., nachdem
es ihm thatsächlich angeboten worden ist, ablehni. Erst durch unsere
letzten Untersuchungen ist der Nachweis möglich geworden, dafs es
sich wirklich um dasselbe Amt handelt. Dafs in or. 50 § 7 TtQO'taraod^ai
%r^Q ßovlrJQ die Bekleidung der fieylazrj aqxjf] bezeichnet, habe ich be-
wiesen. Dafs in der 49. Rede nur dieselbe gemeint sein kann, ergiebt
sich aus Stellen wie i \ ti^ di aQxovri nolewg, § 13 oarig 6%vel
rrjv avTov Ttokiv — dioiiceiv, vor allem aber aus der Erwägung, dafs
die Einleitung über den Herrscherberuf der Philosophen lacherlich wir-
ken würde, wenn es sich nicht um eine wirklich leitende Stellung han-
delte. Wäre die 50. Rede später gehalten als die 49. Rede, so wären
die Worte: xal firjöeig fiB voiiiar] Xiyeiv igxavTov eiaTcotovvza T(p
TtQOiGTaad'ai Trjg ßovlrjg ganz überflüssig gewesen. Niemand konnte
ihn im Verdacht haben, auf die Stellung Anspruch zu machen, die er
wenige Tage oder Wochen zuvor, als sie ihm angeboten wurde, aufs ent-
schiedenste abgelehnt hatte. Also ist die 49. Rede die spätere von beiden.
Dio lehnt in der 49. Rede das Amt ab, ehe die entscheidende Ab-
stimmung erfolgt ist Er ist sicher, dafs man einstimmig ihn wählen
würde, wenn er zur Annahme des Amtes geneigt wäre. Die Abstim-
mung würde keiner Auszählung der Stimmen bedürfen (otx av idet^&ri
i^eraaewg). Er bittet die Wähler, nicht für ihn zu stimmen (na^ai-
zovfiai vriv tl/ffq>ov). Dio sagt uns auch, woher er seine Zuversicht
auf eventuelle einstimmige Wahl schöpft: oianeQ rtgovegov iv t(^
q)av€Q(p navreg hfßricpiöaad'By bnoxe iie VTcevorjaare ßovkead'ai, to
avTo xal vvv av inon^aare. Schon einmal, bei einer früheren Wahl,
war Dio einstimmig zum aQxwv gewählt worden. Damals hatte man
geglaubt, dafs er zur Annahme geneigt sei. Er hatte nicht vorher er-
klärt, dafs er die Wahl nicht annehmen würde. Die Wahl war perfect
geworden. Auf Grund seines Philosophenprivilegiums , so dürfen wir
annehmen, hatte er abgelehnt Diesmal ist er vorsichtiger und lehnt
schon vor der Abstimmung ab. Wir entnehmen hieraus zunächst die
Thatsache, dafs der Archontat in Frusa nicht ein lebenslängliches Amt,
sondern ein Jahresamt war. Wenn Dio or. 44 § 3 von seinem Vater
sagt: ooov e^r] XQ^^^^ öixaiwg Ttgoeatwta rrjaöe t^g Tcokeug, so
folgt daraus nur, dafs Wiederwahl zulässig war, es also vorkommen
konnte, dafs derselbe Oberbeamte eine lange Reihe von Jahren an der
Spitze des Gemeinwesens stand.
S90 Viertes Kapitel
Es zeigt sich nun, dafs diese Untersuchungen unsere auf anderem
Wege gewonnenen chronologischen Ergebnisse bestätigen. Das verfrühte
Aufrücken des Sohnes zum städtischen Oberamt erfolgte wahrscheinlich,
nachdem der Vater die auf ihn gefallene Wahl abgelehnt hatte. Das
Sqx^^'^ (xvtov a^uiaavta rrjg rcohewg or. 50 fi 10 beweist, dafs Dio
selbst seine Mitbürger veranlafst hatte, das ihm zugedachte Amt seinem
Sohne zu übertragen. Die Wahl des Sohnes erfolgte zu einer Zeit, wo
Dio bereits die baldige Beendigung seines prusanischen Aufenthalts vor-
aussah, nämlich im Frühjahr 102. Diese Annahme erklärt den sonst
unverständlichen Schlufs der 48. Rede: %oi%o de (nämlich die Beilegung
der inneren Zwistigkeiten) a^tov vfiiv anovöaaai xal dia zbv agxovta^
ov ft€7ton^xaTe, %va fitj kaßoneg aneiQOv av&Qianov UneiTa iv %kv-
dwvi xai aalip iate. Schwerlich hätte Dio die Unerfahrenheit des
Gewählten so ungenirt hervorgehoben, wenn dieser nicht sein Sohn
gewesen wäre, der, weil man auf den Rat und Beistand des Vaters
rechnete, in ungewöhnlich jugendlichem Alter gewählt worden war. Die
Worte zeigen , dafs er zur Zeit der 48. Rede sein Amt entweder noch
nicht oder erst vor kurzem angetreten hatte.
Es verging ein Jahr und der nächste Termin für die Beamten-
wahlen kam heran, ohne dafs sich Dios Ankündigung seiner bevor-
stehenden Abreise erfuUt hätte. Es ist daher sehr begreiflich, dals man
an diese nicht mehr recht glaubte und wiederum Dio selbst als Candi-
daten für den Archontat aufstellte. Darum mufs Dio or. 49 § 15 be-
sondere Anstrengungen machen, um seine Mitbürger zu überzeugen,
dafs es jetzt mit seiner Abreise wirklich Ernst wird und dafs er sich
schon das vorige Mal in gutem Glauben mit seiner bevorstehenden Ab-
reise entschuldigt hat und nur durch unvorhergesehene Umstände länger,
als er erwartete, in Prusa festgehalten worden ist Es wird also durch
diese Erwägungen bestätigt, dafs die 50. und die 49. Rede dem Früh-
jahr des Jahres 103 angehören.
Wir haben damit die Untersuchung über Dios Aufenthalt in Prusa
während der Jahre 97 — 103 zum Abschlufs gebracht. Die Beschaffenheit
des Materials brachte es mit sich, dats wir im letzten Teil die Unter-
suchung über die Zeitfolge der Reden und Ereignisse an die Stelle der
zusammenhängenden Erzählung treten lassen mufsten. Es ist deshalb
zum Abschlufs dieses Kapitels eine kurze Recapitulation der gewonnenen
Ergebnisse erforderlich. Ich nehme, an, dafs Dio nach seiner Rückkehr
von der Gesandtschaftsreise des Jahres 100 sich ins Privatleben zurück-
zog, um sich der Bewirtschaftung seiner Güter zu widmen und womöglich
Mo nach der ResUtotioD. Die biihynischen Reden. 391
seioen zerrütteten Woblstaad wieder herzustellen. In dieser Zurück-
gezogenheit verharrte er, bis ihn in der ersten Hälfte des Jahres 101
der Streit oder vielmehr die geplante Versöhnung mit Apameia und die
Bauangelegenheit zum Auftreten zwangen. Aus dieser Zeit stammen die
40., 4t. und 47. Rede. Es ist mir das wahrscheinlichste, dafs sie alle
der ersten Hälfte des Jahres angehören. Am ersten könnte das für die
47. bezweifelt werden. In dieser Zeit sind es noch die Bauangelegen-
heit und der Streit mit Apameia, um den sich alles dreht. Im Sommer
101 traf der Proconsul Julius Bassus in Biihynien ein. Aus der Zeit
seines Froconsulats (Sommer 101 bis Sommer 102) haben wir keine
Reden Dios, wenn nicht etwa die 47. in ihren Anfang gehört Wohl
aber wissen wir, dafs jetzt andere Angelegenheiten die Situation be-
herrschten. Durch revolutionäre Umtriebe des Proletariats, die gleich-
zeitig in den meisten Städten Bithyniens zum Ausbruch kamen und an
denen auch Frusa Anteil hatte, wurde der Proconsul zu einer grau-
samen Verfolgung veranlafst, in die durch das Treiben der Delatoren
viele Unschuldige verwickelt wurden. In dieser Zeit suchte Dio, ob-
gleich er nach seiner socialen Stellung und politischen Gesinnung zu
der durch die Revolution bedrohten Klasse der Privilegirten gehörte,
das Los der von der Verfolgung betroffenen durch Aufbietung seines
persönUchen Einflusses beim Proconsul zu mildern. Diese Thätigkeit
brachte ihn bei seinen Standesgenossen in den Verdacht, mit den Be-
strebungen des Proletariats zu sympathisiren. Als im Sommer 102
Varenus, der Nachfolger des Bassus eintraf, hielt Dio in der Volksver-
sammlung in Prusa die 48. Rede, um den immer noch tobenden Bürger-
zwist zu beschwichtigen und zu verhüten, dafs Varenus von vornherein
in ein ebenso mifstrauisches und feindseliges Verhältnis zu dem prusa-
nischen Gemeinwesen hineingedrängt würde, wie das des Bassus ge-
wesen war. In der Erwartung, gleich nach der Rückkehr Trajans nach
Rom an den kaiserlichen Hof beschieden zu werden, hielt Dio die
45. Rede, den aTcoXoyiainoQ, ontjg %axri%€ nqbg ttjv TiazQida, in der
er eine gedrängte Übersicht über seine poUtische Thätigkeit in Prusa
giebt. In ungefähr dieselbe Zeit gehört auch die 43. Rede, in der er
sich gegen Angriffe seiner politischen Gegner, die sich auf sein Ver-
halten während des Proconsulats des Bassus bezogen, in der Volksver-
sammlung verteidigt. Während des Proconsulats des Varenus (Sommer
102 bis Sommer 103) ist Prusa, aufser mit der Bauangelegenheit, mit
den Vorbereitungen zu der Anklage des Bassus beschäftigt. Diese An-
gelegenheiten halten den Redner länger, als er ursprüngUch beabsichtigt
392 Viertes Kapitel. Dio nach der RestitutioD. Die bithyolschen Reden.
hatte, bis zum Frühjahr 103 in Prusa fest. Schon vor dem Eintreffen
des Varenus, im Frühjahr 102, war die Wahl zum obersten Archon und
Vorsteher des Rats auf Dio gefallen. Er hatte aber die Wahl abgelehnt
und an seiner Statt war dann sein Sohn gewählt worden, der bei dem
Eintreffen des Varenus, zur Zeit der 48. Rede, das Oberamt bekleidete.
Da er nur als ein Substitut Dios betrachtet wurde, so machte man
diesen für die ganze Verwaltung verantwortlich. Resonders wurde Dio
zum Vorwurf gemacht, dafs der aQxtav die meisten Geschäfte ohne die
verfassungsmäfsige Mitwirkung des Rats erledigte. Durch diese Umstände
ist die 50. Rede veranlafst, die gehalten ist, als bereits der Termin für
die Neubesetzung des Oberamtes herannahte. Rald darauf fand die
Wahl statt und wäre wieder, wie vor einem Jahre, auf Dio gefallen,
wenn nicht dieser sie in der 49. Rede im voraus abgelehnt hätte. Er
glaubte jetzt den Augenblick gekommen, um Prusa verlassen und sich
an den Kaiserhof nach Rom begeben zu können. Alles spricht dafür,
dafs er im Sommer 103 diese Absicht wirklich ausführte.
Fünftes Kapitel.
Dios letzte Lebensperiode.
über den letzten Abschnitt von Dios Leben fehlt es uns an jeder
directen Überlieferung. Weder bei andern Schriftstellern noch bei Dio
selbst finden sich auf diese Zeit bezügliche biographische Nachrichten,
aufser dem wenigen, was der Briefwechsel des Plinius mit Tiajan lehrt.
Der 81. Brief , in dem von Dio die Rede ist, gehört nach Mommsens
Untersuchung in das Jahr 112. Er zeigt uns den Redner wieder in
Prusa wohnhaft und wie zur Zeit der bithynischen Reden als Gegen-
stand von Anfeindungen seiner Gegner. Noch handelt es sich um die-
selben Angelegenheiten, die wir schon aus den bilhynischen Reden
kennen, und auch die Feinde Dios scheinen noch dieselben zu sein.
In die Jahre, die zwischen 103 und 112 liegen, fallt kein Lichtstrahl
der Überlieferung. Aber zweierlei können wir mit Sicherheit behaupten:
erstens dafs sich Dio im Jahre 103 zu längerem Aufenthalte nach Rom
an den Hof des Kaisers begab, - zweitens dafs er einen Teil der folgen-
den Jahre damit zubrachte, die Hauptstädte der griechisch redenden
Reichshälfle zu bereisen und als philosophischer Prediger eine Wirk-
samkeit zu entfalten, der wir die bedeutendsten seiner erhaltenen Werke
verdanken.
Der erste der beiden Punkte steht unzweifelhaft fest teils durch
die Stellen der spatesten bithynischen Reden, die seinen unwiderruf-
lichen Entschlufs, ja die unausweichliche Notwendigkeit, nach Rom zu
gehen, kundgeben, teils durch die erhaltenen Denkmäler seines Verkehrs
mit Trajan, die zweite, dritte und vierte Rede Tte^l ßaaiXeiag. Der
zweite Punkt wird dann als bewiesen gelten dürfen, wenn es sich her-
ausstellt, dafs die erhaltenen Städtereden dieser Periode angehören.
Schon am Schlufs der 47. Rede § 22 sagt Dio mit klaren Worten, was
er thun würde, wenn er Prusa verliefse, und hebt dabei deutlich die
beiden eben genannten Punkte hervor: A. ^dneiTa avvrjd'elag ovarig
394 FfiDftes Kapitel.
lAOL Tcgog Tov av%o%Qaxoqa , Xatog ök xal g)iJ,iag, xai rcQog akkovg
nokXovg Tovg övvarcjTaTovg ax^öov %l ^PwfÄalwVy ixelvoig avveivai
Tifxvi/Äevov xai d'avfuaCöfievov. B. ei dk aga aTtodrjfiiSv rjäo/ÄOi,
rag fxeyLotag noXeig kutivat /Aera tzoXXov l^riXov xat q)iXorif>iiag
7taQa7tefÄ7t6ixevov , ^cr^tv eidoTwv ixoi Ttaq ovg av aq)l%wiiai %ai
äeo/Äivwv kiyeiv xai avfißovkeveiv xai Tcegi rag kfxag dvQag iovtiav
i^ iw&ivov u. s. w. Dies ist meiner Ansicht nach, wenn auch in der
47. Rede nur ein Zukunftsbild der Phantasie, die thatsächlich zutreffende
Schilderung der Lebensweise Dios während der auf 103 folgenden Jahre.
Ratgeber des Monarchen und Ratgeber der Städte zu sein — das sind
zwei aus derselben Geistesrichtung entspringende Bestrebungen Dios in
seiner reifsten Epoche. Der Anspruch des Philosophen, als der eigent-
lich Sachverständige in allen Angelegenheiten des Staats- und Gesell-
schaftslebens, als der zur Herstellung des socialen Friedens besonders
berufene zu gelten, der uns schon in den bithynischen Reden wieder-
holt begegnet ist, beschränkt sich jetzt nicht mehr auf seinen heimischen
Wirkungskreis. Was er zu sagen hat, ist allgemeingültig. Der Herr
der Welt in seinem Palast und die volkreichen Städte in den Provinzen
— alle können von ihm lernen; an alle richtet sich seine Predigt Ton
den ewigen Naturgesetzen der Sittlichkeit, auf denen das Glück nicht
nur des einzelnen, sondern auch der Städte und Völker, ja der ganzen
Welt beruht. In dieser Epoche findet Dios Entwicklung ihren notwen-
digen und natOrlichen Abschlufs. Denn in seiner rednerischen Thätig-
keit verbinden sich nun die bezeichnenden Züge aller seiner früheren
Entwicklungsstufen. Der sophistische Epideiktiker , der culturfeindliche
Bettelphilosoph, der praktische Stadt- und Provincialpolitiker durchdringen
sich in ihm und verleihen in ihrer Durchdringung den Werken dieser
Epoche ihr eigentümhches Gepräge. Die formale Kunst der Königs-
und Städtereden kann, obgleich Dio diese Beurteilung mit Entrüstung
zurückgewiesen haben würde, nur als ein Zurückgreifen auf gewisse
Formen der sophistischen Epideiktik charakterisirt werden. Die ethischen
Grundgedanken sind dieselben geblieben wie in der Exilszeit; auch jetzt
ist die niedrige Wertung der materiellen Cultur, wenn auch in gemil-
derter Form, der eigentliche Lebensnerv seiner Predigt. Dafs endlich
sein Blick in dieser Zeit mehr auf die grofsen Verhältnisse des Staats-
und Volkerlebens als auf das Leben der Individuen gerichtet ist, darin
erkennen wir die angeborene und anerzogene Neigung zum öffentlichen
Leben, die durch das vierzehnjährige Exil zurückgedrängt, aber nicht
erstickt werden konnte, sondern nach der Restitution sogleich wieder
Dios letite Lebeosperiode. 395
erwacht war und ihn auch in seinem kosmopolitischen Wirken zwischen
dem q)il6ao(poQ und dem avrjQ TtoXitixog die Mitte halten liefs. Im
Eaboicus und in der zweiten tarsischen Rede erkennt man die Erfah-
rongen wieder, die er in Prusa und in Bithynien überhaupt gesam-
melt hatte.
Es ist unsere nächste Aufgabe, von dem Verhältnis Dios zum Kaiser
eine möglichst deutUche Vorstellung zu gewinnen. Schon als Dio im
Jahre 100 zum ersten Male, als Gesandter seiner Vaterstadt, vor Trajan
erschien, war er von diesem über alles Erwarten ausgezeichnet worden.
Dio fürchtet or. 45 § 3 prahlerisch zu erscheinen , wenn er schildern
wollte, mit wie grofser Freundlichkeit und Hochachtung ihn der Kaiser
behandelt hat Man würde es unglaublich ünden, dafs er das ehren-
volle Verhältnis zu dem Kaiser, der ihn zu vertraulichem und freund-
schaftlichem Verkehr heranzog, preisgab, um sich lieber in Prusa mit
kleinlichen Geschäften abzuplagen und an kleinlichen Zänkereien zu
ärgern. Die Worte beweisen, dafs Dio eine Einladung des Kaisers, in
Rom zu bleiben, ausschlug. Auch spricht er von der Möglichkeit, die
Gunst des Kaisers zur Erlangung eines öffentlichen Amtes oder einer
einflufsreichen Phvatstellung (nQooXaßviv ccqx^v %tva iq övvafiiv) zu
benutzen. Auch in der 47. Rede § 22 (an der oben angeführten Stelle)
nennt er sein Verhältnis zu Trajan ovvri^eta, laotg äk xal q>iXla. Aus
den Andeutungen der letzten bithynischen Reden haben wir geschlossen,
dafs Dio dem Kaiser versprochen hatte, später an seinen Hof zurück-
zukehren. Als nach Beendigung des ersten Dacierkrieges Trajan wieder
in Rom war und als er hoffen durfte, die prusanischen Angelegenheiteo,
die ihn solange festgehalten hatten, in gute Wege geleitet zu haben,
hielt er den Augenblick für gekommen, jenes Versprechen zu erfüllen.
Selbstverständlich hoffte er durch seine Beziehungen zum Kaiser auch
für Prusa weitere Vergünstigungen, wenn irgend möglich die Freiheit
zu erwirken. Dafs er sich nicht mit dem, was er das erste Mal erreicht
hatte, zufrieden gab, zeigt die Äufserung or. 40 § 18: daa d' ov ^^öiov
in aiJkov twv ivrev^ev 7tqa%^vai, tvxov äk xal Xlav xaAfiTTOV,
fjyelad'e ngog ixelvoig aei fie rijv yvoifirjv ^etv, fiixQig av i^jtviia.
Unter dem XLav xal^nov ist nichts anderes als die Erhebung Prusas
zum Freistaat zu verstehen. Auch or. 48 § 1 1 sind nach dem Zusam-
menhange die Worte: xar naXiv dvvrjd^ü, noirjoüt ndXiv auf Bcmtt-
hungeo beim Kaiser in diesem Sinne zu beziehen. Endlich sehen wir,
daCs Dio in der 49. und 50. Rede andeutet, auch seinen Mitbürgern
würden aus seiner Romreise Vorteile entspringen. — Vor allem aber
396 Fünftes Kapitel.
hatte Dio das o^uQa %al ädo^a TCQaxjeiv (or. 47 § 1) gründUch satt.
Die kleinstädtische Politik war ihm zur POnitenz geworden. Sie ent-
fremdete ihn seinem eigentlichen Beruf. Wenn er auch theoretisch an
der Oberzeugung festhielt, dafs der Philosoph in erster Linie in dem
Gemeindeleben seiner Vaterstadt sich als Philosoph bewähren müsse, so
konnte er sich doch unmöglich verhehlen, dafs er in Rom und als
Wanderlehrer mit geringerer Entsagung gröfseres leisten und besser mit
seinem Pfunde wuchern könnte. Da seine Stärke auch jetzt in der
lebendigen Rede und mündlichen Lehrthätigkeit lag, so konnte er nur
da , wo er persönlich erschien , in der ihm eigenen Weise auf die Ge-
müter wirken. Wer den Samen einer idealen Denkungsweise ausstreuen
will, der raufs ein weites Feld besäen, wenn er einige Halme will auf-
gehen sehen.
Als Dio sich in der 49. Rede die Wahl zum Archon in Prusa ver-
bat, hatte er ausführlich entwickelt, dafs Herrschaft über die Menschen
der eigentliche Beruf des Philosophen sei. An nichts hat ein guter
Mensch mehr Freude als am Gutesthun ; und dazu hat niemand bessere
Gelegenheit, als der Regierende. Es ist daher das Streben des wahren
Philosophen, sich zur Herrschaft über sich selbst, über ein Haus, über
eine Stadt, ja über alle Menschen geschickt zu machen. Die Könige
selbst, soweit sie nicht ganz unverständig sind, erkennen die Über-
legenheit der Philosophen an. Denn in den wichtigsten Dingen holen
sie sich Rat bei ihnen. Sie, die den übrigen gebieten, ordnen sich
ihren Geboten unter. So bedurfte Agamemnon Nestors Rat, und so
oft er ihm nicht folgte, hatte er es bitter zu bereuen. So gab Philippos
seinem Sohn Alexandros den Aristoteles zum Lehrer in der ßaaiXix^
kTtcGTri^r]. So haben viele mächtige Völkerschaften ihre Könige der
Aufsicht eines Beirates von Philosophen unterstellt, die Perser den
Magiern, die Ägypter den Priestern, die Inder den Brachmanen, die
GaHier den Druiden. Nichts durften die Könige ohne diese Berater
thun oder beschliefsen. Diese waren die eigentlichen Herrscher, den
Königen Oel neben dem Glanz der äufseren Stellung nur die Ausführung
ihrer Gedanken zu. Und so ist es recht und gut. Denn nur der ist
zur Herrschaft über andere befähigt, der sich selbst zu beherrschen ge-
lernt hat, so dafs er hinfort aufser Gott und der Vernunft, denen er
willig gehorcht, keines Herren mehr bedarf.
Als Dio diese Lehre seinen Mitbürgern mit priesterlicher Salbung
verkündete, da dachte er gewifs nicht nur an das kleinstädtische Ober-
amt, das er auszuschlagen im Begriff stand, sondern auch an die ein-
Dio8 letzte Lebensperiode. 397
tlufsreiclie VertraueDSStellung bei dem Beherrscher der Welt, die er
dafür einzutauschen hoffte. Auch die Prusaner sollten diese Beziehung
wenigstens ahnen. Wir sind also berechtigt, aus diesen lehrhaften Aus-
fOhrungen auf die Hoffnungen und Ansprüche zu schliefsen, welche Dio
an sein Verhältnis zu Trajan knüpfte. Er glaubte ehrlich an den Beruf
der Philosophie zur Beherrschung der Menschen und hofl'te, am Kaiser-
hof zum 6t; Ttouiv bessere Gelegenheit zu ßnden, als er in der Heimat,
wo doch kein Prophet gilt, gefunden hatte. Es ist nicht sowohl per-
sönliche Überhebung, als der unbedingte Glaube an die gute Sache, die
er vertritt, und an die Würde seines Berufs in der 49. Rede aus-
gedrückt.
Es ist auch von der andern Seite leicht verständlich, wie ich früher
ausgeführt habe, dafs Trajan den berühmten Redner und Philosophen
mit Auszeichnung behandelte. Sein Schicksal unter Domitian war welt-
bekannt, sein Name einer der glänzendsten unter den Vertretern grie-
chischer Bildung. Darum liefs sich an seiner Person der Gegensatz des
neuen Regiments zu dem alten besonders eindrucksvoll veranschaulichen.
Nichts konnte die öffentliche Meinung des Ostens so sehr zu Gunsten
der neuen Regierung beeinflussen, als wenn der berühmte Tyrannen-
hasser die Waffen streckte und ein warmer Fürsprecher der Monarchie
wurde. Auch Dio gereichte dieser Frontwechsel nicht zur Schande.
Wir dürfen glauben, dafs er von Trajans Beruf zum Herrscheramt auf-
richtig überzeugt war. Vor seiner Verbannung hatte er stets zu den
Anhängern der Monarchie gehört. Nur das Mifsregiment Domitians
hatte ihn in die Opposition gedrängt. Wenn er jetzt auf die monar-
chische Gesinnung seiner früheren Mannesjahre zurückgriff, so kann
ihm daraus um so weniger ein Vorwurf gemacht werden, als der Kynis-
mus neben seiner Tyrannenfeindschaft für die Verherrlichung des idealen
Königs, des Hirten der Menschheit, Raum Uefs. Auch in der römischen
Aristokratie, die zum Festhalten an den republicanischen Traditionen
mehr Grund hatte, als jene durch das Kaiserregiment in ihrem Wohl-
stand mächtig geförderten Provinzen , verstummt seit Trajan die Oppo-
sition gegen die Monarchie. Es würde also ungerecht sein, dem bitby-
nischen Notabein diese geschichtlich notwendige Änderung seiner poli-
tischen Stellung zum Vorwurf zu machen.
Zu jenem äufseren Grunde kamen tiefer liegende innere, die dem
Kaiser Dios Gesellschaft und Verkehr wertvoll machten. Die bithynischen
Verhältnisse, die, wie die Mission des Plinius beweist, dem Kaiser Sorge
bereiteten, kannte Dio gründlich. Wenn es galt, den Mifsbräuchen des
398 FAnftes Kapitel.
StatthalierregimeDts und den Schäden der sUdÜBcbeo Verwaltung, auf
die gerade damals durch den Procefs des Bassus die Aufmerksamkeit
gelenkt war, gründlich abzuhelfen, so konnte sich Trajan keinen sach-
verständigeren Ratgeber wünschen. Auch war seine Sachkunde nicht
auf seine engere Heimat beschränkt. In den Jahren seines Exils hatle
er alle Provinzen des Ostens durchwandert und dabei gewifs überall die
Augen offen gehalten und eine Kenntnis der thatsächlichen Zustände
erworben, wie sie in solchem Umfange wenige Griechen besitzen
mochten. Scharfe Beobachtung und treffende Beurteilung der Verhält-
nisse ist in den Städtereden unverkennbar. Dio ist niemals in den
Fehler verfallen, über philosophischen Speculationen die scharfe Auf-
fassung der Wirklichkeit einzubüfsen. Durch sie entschädigt er uns für
seinen Mangel an philosophischer Tiefe und Selbständigkeit. Es ist ein
bezeichnender Zug, dafs er die abenteuerUche Fahrt ins Land der Dacier
unternimmt, um die Zustände dieses Volkes zu atudiren, und die Ergeb-
nisse seiner lazoQLa in den Ferixa niederlegt. Auch in der olym-
pischen Rede § 20 äufsert er sich in charakteristischer Weise über den
Zweck der Reise nach Mösien, von der er eben zurückkommt: iftidv-
lAviv Ideiv avdqag aycjvi^ofiivovg VTtkg oqx^S xa2 öwafieiag, rovg
äk vTthQ i^evd'SQlag re xal tcotqIöoq. Seine Schilderung der Borys-
theniten ist ein Meisterstück culturgeschichtlicher Qiarakteristik. Es ist
also zweifellos, dafs Dio in den Verhältnissen der OstUchen Provinzen
gründlich bewandert war. Er hatte nicht nur mit dem Auge des Sitteo-
richters, sondern auch mit dem des Historikers und praktischen Staats-
mannes beobachtet. Dem öffentlichen Leben schenkte er, wie wir sahen,
das gröfste Interesse. Es mufste für Trajan von grofsem Werte sein,
sich mit einem so kundigen und einsichtsvollen Mann über die Verhält-
nisse des Ostens zu unterhalten. Dafs er von warmem hellenischen
Patriotismus erfüllt war, gereichte ihm zur Empfehlung, dafs er alle
Dinge vom moralischen Gesichtspunkt auffafste, mochte dem sittenstrengen
Trajan nicht anstöfsig sein.
Es würde vergeblich sein, erraten zu wollen, wie sich auf dieser
Grundlage das Verhältnis der beiden Männer entwickelte. Denn abge-
sehen von einer schwer verwendbaren Notiz bei Philostratus , von der
noch die Rede sein wird, bilden Dios Reden vom Königtum unsere
einzige Quelle. Diese aber sind, obgleich der Form nach an den Kaiser
gerichtet und auch gewifs in seiner Gegenwart gehalten, doch ihreai
Wesen nach weit weniger für den Kaiser selbst als für die Öffentlichkeit
bestimmt. Über die nächstliegenden und wichtigsten Fragen , z. B. ob
Dios letzte Lebensperiode. 399
«
der Kaiser Dios Rat einen Einflufs auf seine Entschliefsungen gestattete,
ob er ihm eine amtliehe Stellung in seinem Dienst übertrug, wie lange
das Verhältnis andauerte — über diese und ähnliche Fragen dürfen wir
von den Reden keinen Aufschlufs erwarten. Gewifs waren diese officiellen
Reden der unwesentlichste Teil in dem Verkehr der beiden Männer.
Das wenige, was die Reden biographisches und persönliches lehren, ist
folgendes.
Die dritte Rede ne^l ßaaikelag setzt voraus, da& seit längerer Zeit
zwischen Dio und dem Kaiser ein naher persönlicher Verkehr stattge-
funden hat Denn seine Rerechtigung, den Kaiser glücklich zu preisen,
begründet Dio mit seiner im Verkehr erworbenen genauen Kenntnis
von dem Charakter des Kaisers.*) Es ist dabei weniger auf das dehn-
bare naQayiyovd aoi Gewicht zu legen, das auch von einmaliger
Qüchtiger Begegnung gebraucht werden könnte, als auf das ovöevog
fi%xov €fi7t€iQog. Denn zum Begriff und Wesen der igxneiQla, zumal
der gründlichen, von keinem anderen übertroffenen {oväevog ^tto»)
gehört es doch wohl, dafs sie nur allmählich erworben werden kann.
Diese Erfahrungskenntnis von dem Charakter des Kaisers kann nicht
die allgemeine sein, die jeder Unterthan aus den Regierungshandlungen
des Kaisers gewinnen konnte; es mufs eine intime und persönliche
Kenntnis gemeint sein, wie sie durch avvrjd^eia und qfikia erworben
wird. So konnte Dio nur reden, wenn ihn der Kaiser seines vertrauten
Umgangs gewürdigt hatte. Andernfalls würden die Worte eine taktlose
Zudringlichkeit und Oberhebung enthalten. Wenn Dio selbst die Er-
fahrung gemacht hat, dafs der Kaiser Wahrheit und Freimut höher
schätzt als betrügliche Schmeichelei, so setzt dies voraus, dafs er wieder-
holt Gelegenheit gehabt hat, dem Kaiser mit Freimut zu begegnen. Er
ist auch über die Privatstudien des Kaisers unterrichtet.') Er weifs,
dais sich der Kaiser in seinen Mufsestunden mit der Leetüre griechischer
Klassiker beschäftigt und sogar für subtile philosophische Untersuchungen
Interesse und Verständnis hat Dieses Urteil konnte er in dieser Form
nur auszusprechen wagen, wenn ihn der Kaiser zum Führer seiner
ütterarischen und philosophischen Studien gewählt hatte.
Zu beachten ist auch die Stelle der vierten Rede § 3, wo Dio
1) § 2 i/d> Si, (5 yevvaXe a^rox^'dro^j na^ayiyovd aoiy xcd rvxdv o^8evds
^TTov iunet^ös elui rijs oijs ^oeats^ Sri Tvy%dve&s xa^^ofv dlrj&e^q xai Tta^frjaiq
uakkov ij &aßne^q xai dndrj}.
1) ineiS^ Si 6^& ae^ wbrax^dro^, ipTvy%dvovta role Ticdaiole dvd^dai xai
ovviivra ^^ovifttov xai dx^ißßv Xdyeav,
400 Fönfles Kapitel.
sich aoschickt, die Unterhaltung Alexanders mit Diogenes über das
Königtum wiederzugeben und diese Absicht begründet mit dem Sätzchen :
iTteidtj xai zvyxavo/Äev axo^rjV ayovzeg and twv akkwv TCQayfÄOiTOJv.
In diesen Worten ist namentlich bemerkenswert der Gebrauch der ersten
Person des Plurals. Er beweist, dafs Dio zu der ständigen Umgebung
des Kaisers gehört. Wie könnte er sonst sich und den Kaiser (und
vielleicht noch andere anwesende Personen aus seiner Umgebung) in
einem lakonischen „wir^' zusammenfassen? Vielleicht darf man sogar
noch einen Schritt weiter gehen und folgern, dafs der Redner, der sich
so ausdrückte, nicht nur zur Ausfüllung der Mufsestunden, sondern auch
zur Erledigung von Geschäften von dem Kaiser herangezogen wurde.
Denn indem sich Dio in das axol'^v ayeiv and rdv TtQoyfiaTwv mit
einschliefst, schreibt er sich einen Anteil auch an den nQayfiara zu.
Doch wir müssen uns hüten, die Worte zu sehr zu pressen. Sicherlich
hat Dio eine Rede wie diese dem Kaiser nicht unter vier Augen vor-
getragen, sondern in Gegenwart einer zahlreichen Versammlung. Das
beweist für jeden, der etwas Stilgefühl besitzt, der Schlufsteil (von § 82
an) mit seinen rauschenden Perioden. Daraus folgt, dafs jenes „wir'^
in § 3 nicht nur auf Dio und den Kaiser selbst, sondern auf sämtliche
Anwesende zu beziehen ist. Auf diese Bemerkung möchte ich, mit allem
Vorbehalt, eine weitere Vermutung gründen. Die Rede ist an einem
Tage, wo alle Geschäfte ruhen, bei Gelegenheit einer Festlichkeit im
Palast des Kaisers vor der versammelten Hofgesellschaft gehalten. Vielleicht
kann der merkwürdige Schlufs der Rede, der zu verschiedenen Deu-
tungen Anlafs gegeben bat, benutzt werden, um die Natur dieser Fest-
hchkeit näher zu bestimmen. Nachdem Dio die drei Dämonen, die das
Menschenleben verwüsten, den Dämon der Habgier, den Dämon der
Genufssucht und den Dämon des Ehrgeizes prosopopoietisch den Hörern
vorgeführt hat, föhrt er fort: jetzt aber lafst uns eine reine und bessere
Tonart statt der bisherigen wählen und einen Lobgesang anstimmen
auf den guten und verständigen Dämon und Gott, wem seiner teilhat
zu werden durch Aneignung wahrer Bildung und Vernunft die guten
Moiren zugesponnen haben.^) — Schon dem Synesius fiel es auf, dafs
mit diesen Worten die Rede abbricht, ohne die versprochene Verherr-
lichung des guten Dämons folgen zu lassen. Diese Beobachtung ver-
1) dlkd 8r) jueralaßövTte Ka&apdv re xaU x^eirrt» rfjs TTpörepoi' dpuop/ae
rdv dya&dv xai aditpQova i/uv&uev Saiuova xoU d'eöv, ole nore ixefvov rv^etr
inixXtooav dyad'ai Älol^ai naideias ^yiovs xai Xöyov ftBxakaßovai,
Dios letzte Lebensperiode. 401
leitete ihn zu dem seltsamen Einrall, die in seinem Exemplar folgende
Rede (es war der Euboicus) für den verheifsenen Hymnus zu halten;
Dieses Auskunftsmittel ist für uns unbrauchbar, weil wir wissen, dafs
Dios Reden nicht Ruchreden, sondern zu lebendigem Vortrag bestimmte
Gelegenheitsreden sind. Eine solche mufs in sich ein abgeschlossenes
Ganze bilden und kann nicht mit einem Versprechen schliefsen, das
erst nach geraumer Zeit in einer andern Gelegenheitsrede erfüllt werden
soll. Wer jene Schlufsworte der vierten Rede unbefangen liest, kann
nur annehmen, dafs das Versprechen sofort erfüllt werden soll. Diese
Erwägung führte mich zu der Vermutung, dafs hier wie bei mehreren
anderen dionischen Reden der Schlufs verloren gegangen sei.*) Hieran
knüpfte Wilamowitz, als er die Correctur meiner Ausgabe der Rede las,
die weitere Hypothese, dafs der verlorene Schlufs jene Verherrlichung
des Zeus enthalten habe, die sowohl in der ersten als in der zwölften
Rede vorkommt und von der ich nachgewiesen habe, dafs sie ursprüng-
lich auch in der dritten Rede vorkam. Diese Hypothese, der ich damals
zustimmte, kann ich nach erneuter Prüfung nicht mehr gutheifsen.
Schon die Ausdrucksweise zdv dyad-ov xal aiSq>Qova — dalfiova xal
d^eov scheint mir für den höchsten Gott, der die ganze Welt als Seele
durchwohnt und regiert, nicht zu passen. Denn auxpQoovvri ist eine
Tugend für Menschen und nicht für Götter. Auch könnte von Zeus
nicht gesagt werden, dafs die Menschen h.elvov rvyxavovat, Reide
Ausdrücke zeigen, dafs der gute Dämon in demselben Sinne verstanden
werden soll, wie vorher die drei bösen. Nun hat aber Dio § 79 f. den
Satz aufgestellt, dafs die guten und bösen Dämonen, von denen das
Glück und Unglück der Menschen abhängt, nicht Wesen sind, die von
aufsen auf ihn einwirken, sondern eines jeglichen Mannes eigener Seelen-
zustand ist sein Dämon. In diesem Sinne sind die drei bösen Dämonen
als verderbte Seelenzustände des einzelnen Menschen aufzufassen, in
diesem Sinne mufs auch der gute Dämon als der Xdiog vovg des ein-
zelnen Menschen verstanden werden. Es kann also nicht der Gesamt-
gott Zeus gemeint sein, sondern nur das Stück göttlicher Vernunft, das
in dem einzelnen Menschen wohnt. Nur dies konnte mit den bösen
Dämonen verglichen und ihnen entgegengesetzt werden. Nur dies ist
der specielle Schutzgeist des einzelnen Menschen, der ihn durchs Leben
begleitet und in geheimnisvoller Weise sein Schicksal bestimmt, der,
wenn er selbst königlich ist, auch den Menschen zum Könige macht.
1) Ober die SchrirtensammluDg bios voo Prosa Bennes XXVI (1891) 372.
V.Arnim, Dio. 26
402 Fünftes Kapitel.
Dafs an den Dämon gedacht ist, der anam ovöqI ovfjirtaQiazcnai
ei&vQ yevofÄivtp fivaraywydg %ov ßlov zeigt besonders der Ausdruck
iTtixXwaav ixyad'al Moigai^ durch den die Tolkstümliche Beziehung
des Dämon auf das von Geburt an dem Menschen Yorbestimmte Schicksal
festgehalten wird, über welche die ethische Deutung des Dämon eigent-
lich hinausgreifl. Da die Rede vor dem römischen Kaiser und einem
römischen Publicum gehalten wurde, so dachte jeder Hörer, wenn Dio
von dem Dämon sprach, an den genius des italischen Volksglaubens.
Dafs man längst in Rom den heimischen genius mit dem griechischen
Dämon gleichgesetzt und dadurch die Anwendung der griechischen
Philosopheme über den Dämon auf den italischen genius ermöglicht hatte,
zeigt am besten Horaz epist. II 2, 187: „wie es kommt, dafs zwei Brüder
an Temperament und Lebensweise grundverschieden sein können, seit
Genius, natah comes qui temperai astrum, | naturae deus humanae mor-
talis, in unum \ quodque caput voltu mutabilis, albus et ater," Schon
in dieser Äufserung des Horaz liegt eine Vermischung des genius mit
dem Dämon vor, der hier als der Geist des Gestirns gedacht wird, unter
dem der betreffende Mensch geboren ist. Ein solcher deus mortalis
{q)d'aQTdg ^^eog) des Menschen ist auch der ayad^og dalfjuav xai d^eog
bei Dio. Auch bei Horaz ist es der genius, der die CharaktereigBntüm-
lichkeit des Menschen bedingt.
Ich halte es daher für wahrscheinlich, dafs die vierte Rede bei
einem Feste zu Ehren des genius Trajans gehalten ist. Denn diese
Hypothese enthebt uns der Notwendigkeit, eine Verstümmlung der Rede
am Schlufs anzunehmen. Die Aufforderung an die Anwesenden, nun-
mehr dem guten Dämon in reinerer und besserer Harmonie einen Lob-
gesang darzubringen, findet jetzt anderweitige Erklärung. Sie weist
nicht auf einen verloren gegangenen Teil der Rede, sondern auf den
folgenden Teil der Feier hin, den Gesang eines Carmen zu Ehren des
kaiserlichen Genius. Dafs es sich um den Genius des Kaisers handelt,
ist zwar nicht ausdrücklich ausgesprochen. Aber die Art, wie die ganze
Dämonenrede von §75 an eingeführt wird, beweist, dafs der Redner
und alle Anwesenden an ihn denken. Du wirst nicht eher ein König
sein, sagt hier Diogenes zu Alexandros, als bis du deinen Dämon ver-
söhnt und aus einem sclavischen und unfreien zu einem wahrhaft könig-
lichen gemacht hast. Als darauf Alexandros fragt, wer dieser Dämon
ist und welches die rechte Art ist ihn zu versöhnen (Ikaaaad'ai tov
öaLfxova ^ genium placare), erklärt ihm Diogenes, dafs das eigene Herz
des Menschen sein Dämon ist Den Ausgangspunkt der ganzen Dämonen-
Dios letzte Lebensperiode. 403
rede bildet also der ßaaikiTcog öalfiiov, der den König zum König
macht. Bei der ganzen weit ausgesponnenen Schilderung der drei bösen
Dämonen soll den Hörern überall der königliche Dämon als Gegensatz
vorschweben. In der Tbat war der Charakter Trajans in allen Stücken
so sehr das Gegenteil der geschilderten Laster, dafs die Hörer auch
unausgesprochen den Gegensatz empfanden. Natürlich erwarteten sie,
dafs eine Schilderung des guten Genius folgen und auf eine Verherr-
lichung Trajans hinauslaufen würde. Statt dessen giebt Dio nur jene
kurzen Schlufsworte , die keine directe Beziehung auf den Kaiser ent-
halten und durch das pluralische olg absichtlich dem Gedanken eine
allgemeinere Wendung geben. Es scheint mir dem Sinne nach unzu-
lässig, den Relativsatz olg TtoTe ixelvov %vx€iv u. s. w. zu dem Subject
von vfiyiüfiev zu beziehen, als ob nur die Mustermenschen, die des
guten Genius teilhaftig sind, ihn preisen sollten. Der Gedanke fordert
vielmehr die Beziehung des Relativsatzes zum Object. Gegenstand der
Verherrlichung soll nicht nur der göttliche Genius selbst sein, sondern
auch die seiner teilhaftigen göttlichen Menschen. Es ist also wohl für
olg Ttore zu schreiben olg re. Wie auch in der Schilderung der bösen
Dämonen gelegentlich der Mensch und der Dämon unmittelbar verbunden
und fast gleichgesetzt werden (vgl. § 101 elev 6 dk di] devregog avriQ
T€ xal dalfiwv), so ist auch hier die engste Verbindung dem Gedanken
angemessen. Das Lob des guten Dämon ist das Lob des guten Menschen.
Denn der Dämon ist nichts anderes als ihr idiog vovg. Der verall-
gemeinernde Plural ist nur gewählt, um die directe Lobpreisung des
Herrschers und seines Genius, zu der die Worte auffordern, schamhaft
zu verhüllen. Die festliche Gelegenheit liefs ohnehin keinen Zweifel an
der richtigen Deutung der Worte aufkommen.
Das Fest kann wohl kaum ein anderes gewesen sein als der 18. Sep-
tember, der Geburtstag des Kaisers, der ja im ganzen Reiche als öffent-
liches Fest gefeiert wurde. Denn der Geburtstag ist recht eigentlich
das Fest des Genius. Es war keine leichte Aufgabe für Dio, wenn ihm
zugemutet wurde, einen solchen Tag durch seine Beredsamkeit verherr-
lichen zu helfen. Gewifs fehlte es nicht an CoUegen, die seine höfische
Rolle als Abfall von der ächten Philosophie ansahen und in seinen
höfischen Kundgebungen nach Ketzereien gegen das Dogma und nach
Verstöfsen gegen die Würde des Philosophen suchten. Auch in den
andern Reden Ttegi ßaaiXelag, mit Ausnahme des Eingangs der dritten
Rede, auf die ich noch zurückkommen werde, wird directe Verherr-
lichung des Herrschers vermieden. In der ersten sowohl wie in der
26*
iOi Fünftes Kapitel.
dritten Rede tritt an ihre Stelle die Form des FUrstenspiegels , die
Schiidening und Verherrlichung des idealen Königs. Sie schien der
Rolle des Hofphilosophen besonders angemessen, weil sie den Charakter
erbaulicher Predigt wahrt und doch zugleich die wirklichen Vorzüge des
regierenden Herrn, ohne den Verdacht der Schmeichelei zu erregen,
für den Wissenden beleuchtet. In der vierten Rede hat Dio eine andere
Form gewählt. Hier tritt der Bettelphilosoph Diogenes dem Alexandres
als der überlegene und wissende gegenüber und beschämt und demtlligt
ihn, indem er ihn des Mangels königlicher Bildung und Tugend über-
führt. Das Ideal des Königtums wird bier durch sein negatives Gegen-
bild veranschaulicht. Dasselbe gilt von dem zweiten Teil der Rede. Er
führt in der Schilderung der drei Dämonen die Laster vor, die dem
wahren Königtum fremd sind, und soll gerade dadurch die in Trajan
verkörperte königliche Tugend indirect verherrlichen. Wie Dio in der
ersten Rede, nachdem er das Bild des idealen Königs gezeichnet hat,
sich an Trajan wendet mit den Worten: wenn meine Schilderung auf
dich zutrifft, so bist du glücklich zu preisen; in demselben Sinne könnte
er bier sagen: Heil dir, wenn von meiner Schilderung nichts, garnichts
auf dich zutrifft. Statt dessen folgt die besprochene Scblufswendung, die
für die Hörer unmittelbar verständlich war und die ganze Darstellung
zu Trajan und seinem Genius in Beziehung setzt. Das Ziel der vierten
Rede ist dasselbe, wie das der übrigen vom Königtum, die Verherr-
hchung der aufgeklärten und verfassungsmäfsigen Monarchie, die 6\v
Zeitgenossen in Trajans Regierung verwirklicht fanden ; nur dafs Dio
sich hier auf anderem Wege diesem Ziel nähert. Er ist dem Schein
der Schmeichelei noch mehr als sonst aus dem Wege gegangen und hat
die ganze Darstellung mit einer Herbigkeit und Strenge durchdrungen,
die doch nicht verletzend wirken konnte, weil die Schlufsworte durch
ihre Gleichsetzung des guten göttlichen Dämons mit dem Genius Trajans
alles übrige aufwogen. Unbedenklich hat er den Genius des Kaisers
in derselben Weise philosophisch umgedeutet, wie er es von jeher in
seinen popularphilosophischen Vorträgen mit dem Dämonen- und Genien-
glauben zu thun gewohnt war, und hat so eine Brücke geschlagen von
dem Anlafs der Feier zu seinem Thema.
Wer meine Auffassung der vierten Rede billigt, der wird auch für
die dritte Rede die gleiche Veranlassung annehmen. Denn § 5 lesen
wir: nwg ovx av eiTCOc ttg rouöe tov avdgog aya-d'ov elvai %6v
öaijLiova, ovx avT(^ fiovov, akka xai roig aXXoig artaai; twv ftkr
yccQ noXkwv avä-QioTCWv xai idiwrwv oXlyog 6 öal/i(Dv xai ftovov
Dios letzte Lebensperiode. 405
rov ^ovrog etc. Dafs Dio auch hier, wenn er von Trajans Dämon
spricht, an die Vorstellung von dem genius imperatoris anknüpft, würde
man ohnehin annehmen, aber daraus keinen Schlufs auf Gelegenheit
und Veranlassung der Rede ziehen dürfen. Da aber für die vierte Rede
nachgewiesen ist, dafs sie einem Fest zu Ehren des kaiserlichen Genius
ihren Ursprung verdankt, wird das gleiche auch für die dritte Rede
wahrscheinlich. Vergleicht man die vorsichtige Zurückhaltung der vierten
Rede mit dem uneingeschränkten Lob, das Dio im Eingang der dritten
Rede über den Kaiser und seinen Genius ausschüttet, so gewinnt man
den Eindruck, dafs diese einem späteren Stadium ihrer Beziehungen
angehört. Da es nun sehr wahrscheinlich ist, dafs der zweite Dacier-
krieg (105 — 107) den Verkehr der beiden nicht nur zeitweilig unter-
brach, sondern dauernd beendete, so liegt es sehr nahe, die beiden
Reden auf die Geburtstagsfeiern Trajans am 18. September 103 und
am 18. September 104 zu beziehen. Denn nur diese beiden kann nach
unserer Berechnung Dio in Rom erlebt haben. Doch ist dies im
besten Falle eine wahrscheinliche Vermutung. Dem ersten römischen
Aufenthalt im Jahre 100 kann die vierte Rede wohl kaum angehören,
wegen der oben besprochenen Worte § 3: erceidf} xai zvyxdvofxev
axoXri'^ ayovreg and tcJv akltjv nqayiiaxiav. Denn damals konnte
sich Dio, der vorübergehend als prusanischer Gesandter in Rom weilte,
unmöglich, wie er es mit xvyxavoiiev thut, zu dem Hofhalt Trajans
rechnen.
Auf die Frage, was Dio that, als im Jahre 105 der zweite dacische
Krieg ausbrach und Trajan selbst sich auf den Kriegsschauplatz begab,
sind wir durch einen glückhchen Zufall in der Lage, bestimmte Ant-
wort zu geben. Ich glaube nämlich, dafs wir mit voller Sicherheit die
bekannte Stelle der olympischen Rede § 16 fr., in der Dio der Festver-
versammlung von seinen Erlebnissen an der Donau erzählt, auf die
Vorbereitungen zum zweiten Dacierkrieg bezieben können und dafs die
Olympienfeier, bei der die zwölfte Rede gehalten wurde, die 221. vom
Jahre 105 ist. Der aufmerksame Leser jener Stelle kann nicht zweifeln,
dafs Dio von Mösien aus direct nach Olympia gereist ist und dafs er
das römische Heerlager an der Donau in einem Augenblick verlassen
hat, wo der Ausbruch eines entscheidenden Kampfes unmittelbar bevor-
stand. Die Versammlung erwartet deshalb von Dio interessante Neuig-
keiten vom Kriegsschauplatz zu vernehmen. Er aber giebt nur eine
kurz andeutende Schilderung von der Lage der Dinge und geht sogleich
zu seinem theologischen Thema über. Ausdrücklich bezeichnet er sich
406 Fünftes Kapitel.
als ficncQccv xiva odov ra vvv nenoQevfiivog ev&v %ov latQov und
schliefst an die Schilderung seines Lageraufenthaltes unmittelbar die
Versicherung an, nicht aus Furcht vor den Gefahren des beginnenden
Kampfes, sondern um ein Gelübde zu erfüllen, habe er den Kriegsschau-
platz verlassen und sich nach Olympia begeben. Dafs der Beginn der
Feindseligkeiten unmittelbar bevorstand, ergiebt sich aus § 19, wo Dio die
römische Armee mit einem Rennpferd vergleicht, das ungeduldig mit den
Hufen stampfend das Zeichen zum Beginn des Wettlaufs erwartet. Auch
konnte sich Dio nur in diesem Falle Ttokifiov S'eamqg nennen und von
Gefahren sprechen, die er nicht gescheut habe. Er war an die Donau
gereist eTti&vincSv Ideiv avdgag aywvi^ofiivovg vnhQ oQxvg ^ccl <Jt;va-
fi€wg, rovg dh vtiIq ikev^eglag %€ aal Ttargldog, Ein solche Situation
ist während der Verbannung Dios in einem Olympiadenjahr überhaupt
nicht vorgekommen. Die griechischen Worte bezeichnen deutlich einen
Angriffskrieg der Römer gegen die Dacier. In dem Dacierkrieg Domi-
tians waren die Dacier der angreifende Teil. Dadurch ist die Olympien-
feier des Jahres 85 ausgeschlossen. Auch würden für diese Zeit die
wiederholten Anspielungen auf das hohe Alter und die schlechte Gesund-
heit des Redners nicht passen: § 12 et fioi ra rov atifiazog xai %a
zrjg ^Xixlag l/rcd^ero; § 15 tj'j t€ '^kmltjc nagrjXfxaxorog ijörj; §20
%6 fiiv adifia hdeiiig, rriv dh fjkixlav tcqot^kwv. Im Jahre 85, im
Anfange der Exilszeit, stand Dio ohne Zweifel im kräftigsten Mannes-
alter. Erst allmählich im Lauf der Jahre wurde seine Gesundheit durch
die fortgesetzten körperlichen Strapazen erschüttert. Die Klage der
12. Rede über die körperliche Gebrechlichkeit hat in den bithynischen
Reden ihre Parallele. Auch weisen die Worte § 16 woTteg afiilet xal
Tov aXXov xQovov e^rjua aldfievog auf das Vagantenleben als eine der
Vergangenheit angehörige, abgeschlossene Epoche hin. Das Jahr 89 ist
ausgeschlossen, weil es das Jahr des schimpflichen Friedensschlusses ist,
der den Dacierkrieg Domitians beendete; desgleichen das Jahr 93 , weil
damals der Friede noch fortdauerte. Im Jahre 97 war Dio in Prusa
und wurde durch Krankheit verhindert, die geplante Reise zum Kaiser
Nerva zu unternehmen. Es ist also undenkbar, dafs er in diesem Jahre
eine Reise an die Donau unternahm. Auch ist uns von einem römischen
Angriff auf die Dacier in diesem Jahre nichts bekannt. Es bleiben also
zur Auswahl nur die beiden Dacierkriege Trajaos. Beide waren Angriffs-
kriege der Römer, beider Anfang fiel mit einer Olympienfeier zusammen.
Haben wir somit für die 12. Rede nur zwischen den Jahren 101 und 105
die Wahl, so kann die Entscheidung nicht zweifelhaft sein. Aus den
Dios letzte Lebensperiode. 407
Uotersuchuogen des vorigen Kapitels ergiebt sich, dafs Dio im Sommer
101 in Prusa weilte, tief in die Angelegenheiten seiner Vaterstadt ver-
wickelt war und vorläufig nicht daran denken konnte, sie zu verlassen.
Wir. wissen, dafs er sich seit seiner Rückkehr von der römischen Ge-
sandtschailLsreise ganz vom öffentlichen Leben zurückzog, um sich der
Bewirtschaftung seiner Güter zu widmen, dann von neuem in die bithy-
nischen Händel verflochten wurde und seine heifs ersehnte und oft
angekündigte Abreise immer wieder, weil er unabkömmlich war, ver-
schieben mufste. Dagegen zeigt uns der Entscblufs, als S'eatfjg jcoXifiov,
aus rein unpersönlichem Interesse an der Entwicklung der Begeben-
heiten, an die Donau zu reisen, einen Mann, der ganz Herr seiner
selbst ist und in freiester Weise über eine unbeschränkte Mufse verfügt
Ich halte daher für wahrscheinlich, dafs Dio, der vom Sommer 103
bis zum Frühling 105 in Rom am Hofe des Kaisers geweilt hatte, diesen
auf seiner Reise an die Donau begleitete und sich, nach einem kurzen
Aufenthalte im römischen Feldlager, als die Olympienfeier des Jahres
105 herannahte, nach Olympia begab.
Ich vermute, dafs die zweite Rede der letzten Zeit vor dem
zweiten Dacierkriege angehört, nicht auf Grund einzelner Stellen oder
Anspielungen, die als Zeitindicien verwertbar sind, sondern auf Grund
des eigentümlichen Inhalts der ganzen Rede. Es kann nicht Zufall
sein, dafs ein so kriegerischer Ton durch das Ganze hindurchgeht, dafs
Tapferkeit und kriegerischer Sinn als die vornehmste Tugend des Königs
geschildert werden. Dies ist umsomehr zu beachten, weil die Rede nach
der Themaaufstellung im Eingang nicht minder als die drei übrigen vom
Königtum handeln will (§ 1 ol ök av%ol Xoyot ovtoi ax^dov xi xa2
TteQi ßaaikelag r^aav). Die Rede handelt ganz allgemein neQi xov
y(,ad^ ^'OfifjQOv ayad-ov ßaoMwg. Sie schildert die Bildungs- und
Geschmacksrichtung und die tägliche Lebensweise des idealen Königs,
die Äufserungen des königlichen Geistes in seinem menschlichen Thun
und Treiben. Sein Verhältnis zur Dichtkunst, zur Rhetorik und Philo-
sophie, zur Musik, zur Tanzkunst wird gekennzeichnet; wie er wohnt,
schläft, speist, sich kleidet, erfahren wir. Aber durch alle diese an sich
friedlichen Dinge zieht sich als roter Faden die soldatische Gesinnung
hindurch, die nach Dios Darstellung der König niemals verleugnen darf,
weder auf dem Felde der Geistesbildung und der schönen Künste, noch
in seinen alltäglichen Lebensgewohnheiten. Je weniger eine rein objec-
tive Behandlung des Themas zu dieser einseitigen Betonung der avögela
führen konnte (wie ja die drei andern Reden zur Genüge zeigen), desto
408 Fünftes Kapitel.
mehr sind wir berechtigt, in Zeit und Umständen der Entstehung den
Grund dieser Einseitigkeit zu suchen. Wir wollen zunächst den Spuren
dieser kriegerischen Stimmung im einzelnen nachgehen.
Gleich in den ersten Worten wird mit arSgeliog aal ^eyaXo-
(pQovcüg die Tonart angeschlagen, in der das ganze Stück geht. Alexander
wird als der feurige Jüngling charakterisirt , in dessen angeborener
Kampfeslust sich eine wahrhaft könighche Natur, der zukünftige KOnig-
Eroberer kundgiebt. Nur der Homer gilt ihm als eine Leetüre für
Könige. Hesiods Anweisungen für den Betrieb friedlicher Gewerbe sind
für den KOnig ohne Interesse und besser als Hesiods Verse über das
Mähen des Korns gefällt ihm die Schilderung Homers, wie Troer und
Achäer die feindlichen Reihen niedermähen. Rhetorik und Philosophie
sollen dem König nicht fremd sein, aber er soll sie nicht treiben wie
ein Professor. Die Gabe einfachen und treffenden Gedankenausdrucks
bedarf er für seinen Herrscherberuf und gern wird er gelegentlich den
Lehren der Philosophie lauschen, die nichts anderes fordern, als was
seinem eigenen Wesen und Streben gemäfs ist. Nur Lieder zum Preise
der Götter und Helden will Alexandros lernen. Die erotische und sym-
potische Lyrik verachtet er. Besser als alle lyrischen Chöre würde ihm
eine bewaffnete Phalanx gefallen, die passende Abschnitte der homeri-
schen Heldengedichte zum schmetternden Klange der Kriegsdrommeten
im Chor anstimmte. Nicht mit Gold, Elfenbein und edlen Steinen soll
der König seine Wohnung und die Tempel der Götter schmücken, son-
dern mit erbeuteten Waffen und Kriegstropbäen. Sein Bett und sein
Tisch sei von soldatischer Einfachheit. In der Kleidung und Bewaffnung
unterscheide er sich von dem gemeinen Soldaten, ohne sich wie ein
eitles Mädchen mit Goldschmuck und Flitter zu behängen. Dann wird
er auch besser im Stande sein, die Manneszucht in der Armee zu er-
balten; wie schon Homer die einfachlebenden Griechen den Barbaren
an Disciplin überlegen schildert. liier führt Dio zum Beleg die be-
kannten Stellen an, wo die achäischc Schlachtreihe lautlos, die troiscbe
mit wüstem Geschrei zum Kampfe vorrückt und wo im troischen Lager
nach einem siegreichen Tage Flöten- und Syrinxblasen und lautes
Stimmengetöse ertönt, während im gleichen Fall im achäischen Lager
Ruhe herrscht. Wir werden annehmen dürfen, dafs diese ziemlich
locker in den Zusammenhang eingefügte Bemerkung von den Hörern
als eine Anspielung auf die Verschiedenheit römischer und dacischer
Kampfesweise empfunden wurde. — Als die beiden königlichsten Tugen-
den bezeichnet Alexandros in § 54 avögeia und öixaioavvr] , unter
Dios letzte Lebensperiode. 40^
VoranstelluDg der avÖQela. Dann, nochmals zur Musik und Tanzkunst
zurückkehrend, läfst er den idealen Künig zuchtlose Lieder und Tänze
nicht nur selbst meiden, sondern auch aus seiner Hauptstadt verbannen.
Dafs hier auf die Vertreibung der Pantomimen aus Rom angespielt wird^
die auch Plinius Paneg. 46 unter Trajans Verdiensten anfuhrt, beweist,
namentlich der Ausdruck ßaailevovaa noXig^ der von allen Städten
der Welt nur auf Rom pafst. Statt dessen ziemt dem König nur da&
Kampflied, bei dessen Klängen die Feinde Furcht und Schrecken er-
greift, das Triumphlied, das nach erkämpftem Siege angestimmt wird,
und etwa noch das ermunternde Marschlied nach Art der lakonischen
Embaterien. Von allen Tänzen ist nur der kretische Wafl'entanz nach
seinem Sinn; und wenn er zu den Göttern betet, so bittet er nicht um
Schönheit, Liebe und sinnlichen Genufs, sondern dafs es ihm beschie-
den sein möge, ehe die Sonne zur Rüste geht, die Burg des feindlichen
Königs zu erobern und in Brand zu stecken, ihn selbst aber samt vielen
seiner Geführten im Schwertkampf zu erlegen. Der Stier, der vor der
Herde der Rinder wandelt und alle anderen überragt, ist das schönste
Bild des Königs. Friedlich von Natur führt er die Herde zur Weide.
Keinem Tier, das zu seiner Herde gehört, fügt er ein Leid zu. Aber
wenn sich ein Raubtier zeigt, flieht er nicht, sondern kämpft mit ihm
zum Schutz der Schwachen; und bisweilen mifst er seine Kräfte mit
dem Leitstier einer andern Herde zu seinem und seiner Herde Ruhm.
So ist auch der gute König ein Führer und Schirmherr seines Volkes.
Er schützt es vor der Grausamkeit unrechtmäfsiger Gewaltherrscher;
mit den Königen der Nachbarvölker kämpft er um den Preis der
Tapferkeit und sucht, wenn möglich, die ganze Menschheit zu ihrem
Heile unter seinem Scepter zu vereinigen. Einem solchen König kann
der Segen der Götter und ewiger Nachruhm nicht fehlen.
Ich überlasse es dem unbefangenen Gefühl jedes Lesers, ob das
kriegerische Element in diesem Fürstenideal nur die Rolle spielt, die
ihm immer auch in ruhigen Zeiten zugestanden werden mufs, und nicht
vielmehr eine so bevorzugte, dafs nur kriegerische Zeit und Stimmung
es erklären. Dio hätte wenig Gefühl für das Angemessene beltundet,
wenn er in Friedenszeiten solche Fanfaren geblasen und dem Kaiser
ein Gebet um Brand und Mord als königliches Normalgebet anempfohlen
hätte. Man kann auch nicht sagen, dafs dieses kriegerisch gefärbte
Bild nur den jungen Alexandros charakterisiren soll , der es entwirft.
Denn diese Gesprächsperson wählte sich Dio als Mundstück seiner eigenen
Gedanken und Gefühle nach freiem Belieben. Sollten wir Alexandros'
410 Fönftes Kapitel.
Fürstenideal als einseitig oder balbricblig empQnden, so mUiste die ganze
Rede anders angelegt sein. Der Eingang der Rede sagt uns, dafs sie
n€Qi ßaaikelag handeln soll^ und auch der Schlufssatz zeigt, dafs der
Redner dem von Alexandros vorgetragenen seine vollste Zustimmung
schenkt. Besonders ist die Rechtfertigung der Eroberungspolitik zu be-
achten, die in den Aufserungen des Scblufsteils über das Verhalten des
Königs zu den NachbarkOnigen und über sein Streben nach Weltherr-
schaft enthalten ist. Man vergleiche z. B. mit dieser Stelle die ganz
anders lautende Äufserung in der ersten Rede § 27: xal noJLefiixog
fiiv ovTwg loxlv, wate irt* av%(p elvai x6 fcokcfielv, elQtjviwg dk
ovTiog (ig firjdhv a^iofxctxov avT(p kelftead'ai' xal yag Srj xal rode
oldev, ort Toig naXXiaxa TtoXe/ieiv TtaQeaxevaofiivoig, zovxoig ficc
kiara ^d^eariv elQrjvrjv ayeiv. Sie deutet ebenso bestimmt auf fried-
liche, wie die zweite Rede auf kriegerische Zeiten.
Da nun die Beziehung der Rede auf Trajan feststeht^ so haben wir
nur die Wahl zwischen dem ersten und dem zweiten Dacierkriege. Als
der erste ausbrach, befand sich Dio nicht am Hofe Trajans und die
ganz verschiedene Stimmung der ersten Rede verbietet uns, die zweite
unmittelbar auf sie folgen zu lassen. Auch deuten die Betrachtungen
über die litterarische, musische und philosophische Bildung des Königs
auf den lehrhaften Verkehr Dios mit Trajan, der sich erst bei seinem
zweiten römischen Aufenthalt entwickelt haben kann. Die Worte in
§ 26, dafs der gute König gern, wenn er Zeit hat, philosophischen
Lehren sein Ohr leiht, weil er sie mit seinem eigenen Wesen in Ein-
klang findet, dürfen wir als eine Anspielung auf Trajans Verkehr mit
Dio selbst auffassen. Als der zweite Dacierkrieg ausbrach, befand sich
Dio, wie wir aus der zwöirten Rede schliefsen, in der Umgebung Tra-
jans, ja sogar noch in seinem Heerlager an der Donau. Dies ist die
Zeit und Gelegenheit, in die die zweite Rede am besten hineinpafst.
Das über Entstehungszeit und Natur der Reden nsQl ßaoiXelag
bisher ermittelte können wir durch Betrachtungen anderer Art erganzen
und vervollständigen.
Ich habe schon an anderer Stelle*) darauf hingewiesen, dafs wir
in der 57. Rede {Niarwg) ein wichtiges Document für die Beurteilung
der Königsreden besitzen. Ich habe gezeigt, dafs diese Rede eine tvqo-
Xakia ist, welche Dio einer der Reden Ttegl ßaaiXelag vorausschickte,
als er sie später, auf einer seiner Kunstreisen, vor einem gröfseren
1) Hermes XXVI (1891) 392.
Dios letzte Lebensperiode. 411
Publicum wiederholte. Er vertheidigt sich hier gegen den Vorwurf, dafs
er aus Prahlerei die Reden wieder vortrage, mit denen er den Beifall
des Kaisers gefunden hat. Es sei das ebensowenig als Prahlerei auf-
zufassen, wie wenn Nestor dem Achill und Agamemnon von dem Bei-
fall erzahlt, den bessere Männer als sie sind, die Helden der Väterzeit,
seinen Mahnreden zu schenken pflegten. Der Zweck sei beidemal nur,
die Wirkung der Mahnrede zu verstärken. Auch sei das Wort, das auf
des Herrschers Seele einwirkt, für alle seine Unterthanen bedeutungs-
voll. — Die Thatsache, die wir durch die 57. Rede erfahren, ist in
erster Linie wichtig, weil sie auf Dios Lehrthätigkeit in den auf 105
folgenden Jahren ein Schlaglicht wirft. Wir sehen, dafs er seine Thä-
tigkeit als Reiseprediger jetzt wieder aufnahm und dafs die Königsreden
eins seiner Hauptrepertoirstücke bildeten. Seine Beziehungen zu Trajan
dienten ihm, sein Ansehen beim Publicum zu erhöhen. Zugleich dienten
aber auch die Reden dem Ansehen des kaiserlichen Regiments. Da
man sie als vom Kaiser gebilligte Programpireden ansehen durfte, in
denen die leitenden Grundsätze seiner Regierung niedergelegt waren,
so konnten sie dazu beitragen, in der griechischen Reichshälfte das Ver-
trauen zur Reichsregierung zu stärken. Von vornherein hatten sie mehr
den Charakter pubHcistischer Kundgebungen als intimer, für den Kaiser
selbst bestimmter Ratschläge. — Vielleicht aber läfst sich diese That-
sache auch zur Erklärung des eigentümlichen Oberlieferungszustandes
der vierten und namentlich der dritten Rede mit verwerten. Nachdem
wir schon in andern dionischen Reden, z. B. der Trojana, das Vorhanden-
sein von Dubletten aus variirender Wiederholung erklärt haben, liegt es
nahe, auch hier, wo die Thatsache der Wiederholung bezeugt ist, aus
ihr die Auffälligkeiten des Überheferungszystandes zu erklären.
Die erste und zweite Rede stellen sich als geschlossene, wohlgeglie-
derte Kunstwerke dar. Nichts in dem Zustande dieser Reden würde
uns hindern anzunehmen, dafs sie von dem Autor selbst veröfl'enthcht
wurden. Freilich, wenn wir den Ausdruck nQog rov avroxQdvoQa
^rjd'ivreg koyoi in der 57. Rede auf alle vier erhaltenen Reden /cegl
ßaaiJielag beziehen müfsten, so würde folgen, dafs die Publication nicht
erfolgt sein könnte, so lange Dio sie noch zu mündlichen Vorträgen zu
benutzen pflegte. Aber nichts nötigt uns zu .dieser Annahme. Der
Plural koyoi kann nach bekanntem Sprachgebrauch auch auf eine ein-
zelne Rede bezogen werden. Dafs Dio, wenn er vor dem Kaiser selbst
und seinem Hofe auftrat, sich der Eingebung des Augenblicks tlberliefs,
widerspricht aller Wahrscheinlichkeit Gewifs wird er bei so wichtiger
412 Ffloftes Kapitel.
Gelegenheit nur mit wohl durchdachten und vorbereiteten Leistungen
aufgetreten sein. Auch machen die Reden durchaus nicht den Eindruck
von Improvisationen. Höchstens wird man schliefsen können, dafs die
erste Rede noch nicht verOfTentlicbt war, als die Olympica gehalten
wurde, weil die letztere sich als Improvisation giebt und Dio in einer
solchen gewifs nicht einen Abschnitt aus einer bereits veröffentlichten
Rede wiederholt hätte.
Anders steht es um die vierte und dritte Rede. Für die vierte
Rede habe ich nachgewiesen, dafs es eine Fassung von ihr gegeben
haben mufs, in der statt der Dämonenrede die fahula Lihyca^ jetzt or. 5,
den Schlufsteil bildete. Ich halte an dieser Hypothese trotz Hirzels
Widerspruch fest. Dieser sagt („der Dialog^' H 108, 3): „Erwähnt wird
ein ^ißvxog fiv&og auch or. 4 p. 163 R. Zu so gewagten Vermu-
tungen, wie sie in neuerer Zeit über die ursprüngliche Gestalt dieser
Schrift aufgestellt worden sind^ ist dies aber kein genügender Grund.
Entweder überliefs es Dion dem mündlichen Vortrag den fiv&og dort
einzuschalten, etwa ähnlich wie er mit den Briefen in or. 44 Schi. u.
or. 47 p. 227 R oder mit der Rede an den Kaiser or. 57 (vgl. p. 300 R)
verfahren ist, oder endlich, da der „libysche Mythos^* eine Lesern und
Hörern bekannte Art von Mythen war, genügte es ihm, mit dem blofsen
Namen die allgemeine Vorstellung desselben geweckt zu haben. *^ Ob-
gleich in diesen Bemerkungen meine Beweisführung ignorirt wird und
nur Gründe vorgebracht werden, die durch sie bereits erledigt sind,
scheint es doch, dafs sie gegen mich gerichtet sind. Hirzel läfst zwei
Erklärungen für die Erwähnung der libyschen Fabel in der vierten Rede
als möglich gelten. Entweder soll es Dio dem mündlichen Vortrag
überlassen haben, die libysche Fabel dort einzuschalten. Diese Möglich-
keit hatte ich durch den Hinweis auf die Composition der Rede er-
ledigt. Man denke sich nur einmal die libysche Fabel und die Dämo-
nenrede, jede mit ihrer Einleitung, unmittelbar hintereinander vorge-
tragen. Es würde geradezu lächerlich wirken, wenn Diogenes zweimal
den Alexander auf die gleiche Weise mystificirle , erst mit den Weib-
ungeheuern, dann mit den Dämonen. Beidemal handelt sichs um eine
allegorische Darstellung der l/cid'Vfuai, beidemal wird erst eine myste-
riöse Andeutung gegeben, die Alexander mifsversteht, beidemal wird der
formale Gegensatz sophistischer Redekunst zum philosophischen diake-
yead'ac hervorgehoben. Beide Abschnitte leiten ihre Daseinsberechtigung
aus Diüs wohlbekanntem Bestreben her, dialogische Stücke, die er als
Redner vorträgt, in rednerischer Weise mit einer längeren zusammen-
Dios letzte Lebensperiode. 413
hängenden Rede abzuschliefsen. Die Erlangung der ächten Königs-
würde wird das eine Mal mit der Besiegung der VVeibungeheuer, das
andere Mal mit der Versöhnung des Dämons in engste Verbindung ge-
bracht. Hieraus ergiebt sich, dafs die libysche Fabel und die Dämonen^
rede Dubletten sind. Es konnten nicht beide zusammen, sondern nur
entweder die eine oder die andere zum Abschlufs der Rede benutzt
werden. — Die zweite Erklärungsmöglichkeit, die Hirzel gelten läfst,
ist noch weniger stichhaltig. Dafs die „libysche Fabel** eine den Lesern
und Hörern bekannte Art von Mythen war, könnte nicht rechtfertigen,
dafs Dio hier mit dem blofsen Namen die allgemeine Vorstellung der-
selben zu wecken sich begnügte. Denn der Zusammenhang fordert,
dafs Hörer und Leser nicht an irgendeine beliebige Fabel dieser Art,
sondern an die Fabel von den Weibungeh'euern denken, eben an die,
welche wir als or. 5 lesen. Diese konnten sich die Hörer auf die blofse
Andeutung hin umsoweniger vorstellen, da sie ja, nach Hirzel, von Dio
selbst erst erfunden ist. Hätte Dio diese bestimmte libysche Fabel als
allbekannt vorausgesetzt und sich deshalb die Erzählung sparen wollen,
so hätte er sie auch dem Alexander bekannt sein lassen und auch dem
Diogenes das Erzählen erspart. Hirzels Erklärungsversuche für die Er- .
wähnung der libyschen Fabel in der vierten Rede sind also mifslungen.
Ich halte nach wie vor meine Hypothese für die einzig mögliche und
zutreffende Erklärung. Ich nehme also an, dafs es zwei Fassungen der
vierten Rede gab. In der einen schlofs sich an § 74 extr. als Abschlufs
der ganzen Rede die Erzählung der libyscher) Fabel an. In der andern
folgten auf § 72 ^v 6 !dQxiXaog unmittelbar §§ 75 — Ende. Aus
dieser Annahme läfst sich die Verwirrung der Überlieferung auf ver-
schiedene Weise ableiten. Um nichts verloren gehen zu lassen^ hatte
man vielleicht die Dämonenrede der in die libysche Fabel auslaufenden
Fassung als Anhang beigegeben und an der Stelle der letzteren, wo
jene sich anschliefsen sollte, einen Randvermerk angebracht. Ein solches
Exemplar übergab der Veranstalter einer Ausgabe dem Schreiber mit
dem Auftrag, an der bezeichneten Stelle die Dämonenrede folgen zu
lassen. Er mochte diese Gestaltung der vierten Rede vorziehen, weil
die libysche Fabel noch anderweitig, sei es als selbständiges Stück, sei
es als Bestandteil einer andern Dialexis, überliefert war. Wenn nun
bei der Ausführung dieses Auftrages die Einleitung zu der libyschen
Fabel stehen blieb, so kann dies entweder versehentlich durch falsche
Beziehung des Randvermerks oder absichtlich geschehen sein, um den
wahren Sachverhalt anzudeuten. So etwa kann der Vorgang gewesen
414 Fünftes Kapitel.
sein. Doch siod oatürlich auch andere Möglichkeiten vorhanden. Für
uns ist die Hauptsache, dafs die tiberlieferte Form keinesfalls von Die
selbst herrühren kann. Wenn er selbst eine Ausgabe der Rede be-
sorgte, so gab er ihr gewifs eine bestimmte und abgeschlossene Form,
indem er sich für eine der beiden Fassungen entschied.
Wir haben hier gleich Gelegenheit anzuwenden, was wir aus der
57. Rede gelernt haben. Es ist nämlich leicht erklärlich, dafs Dio, bei
einer Wiederholung der ngog %6v avTOHQctTOQa ^rj&ivzeg koyoi vor
einem gröfseren Publicum, sich Änderungen erlaubte. Es konnte z. B.
ktlrzere Zeit zur Verfügung stehen und deshalb ein kürzerer Schlufsteil
wünschenswert erscheinen. Haben wir die Dämonenrede in ihrer Be-
ziehung auf den Genius des Kaisers oben richtig gedeutet, so stellt sie
die ursprüngliche, vor dem Kaiser selbst vorgetragene Fassung dar.
Die dritte Rede bildet durch ihren Überlieferungszustand eines
der schwierigsten Probleme der dionischen Schriflensammlung. Ich habe
früher bewiesen, dafs die Worte ra negl tov Jiog am Ende von § 50
als ein Vermerk des Herausgebers oder Schreibers aufzufassen sind, dafs
hier eigentlich jene Schilderung der göttlichen Weltregierung als des
Vorbildes irdischen Königtums folgen sollte, die gleichlautend in der
ersten und in der zwölften Rede steht. Aber es ist dies keineswegs
die einzige auffallende Erscheinung in dieser Rede. Ich will zunächst
noch nicht die Frage aufwerfen, ob durch Einfügung des Kapitels über
die göttliche Weltregicrung die Lücke in befriedigender Weise ausgefüllt
wird und eine logisch richtige und den Gesetzen rednerischer Compo-
sition entsprechende Gedankenfolge entsteht, sondern vorerst über die
sonstigen Störungen des Zusammenhangs eine Obersicht geben.
Das Proömium umfafst § 1—24. Denn in § 25 folgt die Aufstel-
lung des Themas: Ttonfjaofiai xovg koyovg vTthQ %ov x^ijaToi; ßaai-
XiiüQ, OTtoiov elvac öel Kai tlg i^ diaq>OQa u. s. w. Der Gedankengang
des Proömiums läfst sich folgendermafsen kurz zusammenfassen: Sokrates
erklärte, nicht zu wissen, ob der Perserkönig evdalfxwv sei, da er seine
Gesinnung nicht kenne; ich aber kenne dich hinreichend, um dir die
Eudämonie zuzusprechen. Denn wer von der höchsten Macht den
sc]iönsten Gebrauch macht, dessen Dämon ist gut, für ihn selbst und
für alle seine Unterthancn. Um aber dem Vorwurf der Schmeichelei
zu entgehen, will ich (nicht von dir, sondern) von dem guten König
reden u. s. w.
Das Proömium 'handelt also von der Trefflichkeit Trajans und wird
dadurch zum Abschlufs gebracht, dafs der Redner erklärt, um dem Vor-
Dios letzte Lebensperiode. 415
wurf der Schmeichelei zu entgehen, nicht mehr von dieser, sondern von
dem guten König im allgemeinen handeln zu wollen. Dies setzt natür-
lich voraus, dafs alles, was innerhalb des ProOmiums zum Preis der
Herrschertugenden gesagt wird, nach der Absicht des Redners auf Trajan
persönUch bezogen werden soll. Es ist nOtig dies hervorzuheben, weil
schon von § 3 extr. an der Kaiser selbst nicht mehr genannt oder an-
geredet wird. Dafs auch in § 4 — 9 überall er gemeint ist, lehrt nur
der Zusammenhang. Denn die Frage nach der Eudämonie Trajans,
welche Dio auf Grund seiner intimen Kenntnis des Kaisers zu beant-
worten sich anheischig gemacht hat, wird nirgends sonst als in diesem
Abschnitt beantwortet. Wie könnte auch der Verdacht der Schmeichelei
aufkommen, wenn nicht jeder Hörer diesen Abschnitt als offene Ver-
herrlichung Trajans aufzufassen genötigt war?
Es fügt sich auch alles einzelne vortrefflich dieser Auffassung bis
zu dem Homervers in §9. Denn die Ausdrücke § 3 rov fxeylaTrjy
exovra dvvafiiv, § 4 <^ yaQ l|oy — ovvog 6 olvtiq, § 5 %ov8e rov
avÖQog, § 6 orav ök 7tafinXr]&€ig fxhv (ßvog) VTtaxovwai noXeig —
TcdvTwy ovrog avd'Qwmav ylyvevai awriiQ y,al q)vka^, avneg y rot-
ovzog' %ov yoQ navzwv aQ%ov%og xa2 XQCCTOvvrog u. s. w. schliefsen
die Beziehung auf eine einzelne, bestimmte Person nicht aus. Die
unpersönliche Form ist nur gewählt, um das xar^ oq>^a}.fiovg inaivelv
(vgl. §25), das in diesem Abschnitt enthalten ist, nicht zu crafs hervor-
treten zu lassen.
In diesen Zusammenhang passen offenbar die Worte von § 9 o yag
TOiovTog ßaaiXevg — §llextr. nicht hinein. Hier wird nämlich be-
wiesen, dafs der ideale König (o roiovzog ßaaiXevg) es für unumgäng-
lich nötig halt, selbst die Tugend zu besitzen. Der Beweis besteht
darin, dafs er sie in seiner Stellung mehr als andere nötig hat. Daraus
geht hervor, dafs diese Sätze die Beziehung auf Trajan nicht zulassen,
sondern nur generell verstanden werden können. Es handelt sich hier
nicht darum, die Eudämonie des mit allen Tugenden geschmückten
Herrschers zu beweisen, sondern zu beweisen, dafs der ideale Herrscher
alle Tugenden haben will, weil er sie haben mufs. In dem vorauf-
gehenden Abschnitt wird ein mit allen Tugenden geschmückter Herr-
scher als vorhanden vorausgesetzt und dann gefragt, wie es um seine
Eudämonie steht; in unserm Abschnitt wird ein solcher Herrscher con-
struirt und gezeigt, welche Eigenschaften er haben mufs. Unser Ab-
schnitt handelt Tteql xov xQfJOTOv ßaailiiog bnolov elvai öel (vgl. § 25).
Es kommt hinzu, dafs sich die Worte 6 yaq roiovtog ßaail&ig
416
FüDfles Kapitel.
u. s. w. nichl an das vorausgehende passend anscbliefseo. Sie enthalteD
nicht, wie ydg erwarten läfst, eine Begründung dazu. Zu dem Nach-
weis der Eudamonie des Herrschers stehen sie überhaupt in keiner Be-
ziehung. Es ist daher der ganze Abschnitt als fremdartiger Bestandteil
auszuscheiden. Die Berechtigung dieses Verfahrens wird durch den
weiteren Verlauf der Untersuchung bestätigt werden. Denn es ist dies
nicht der einzige Abschnitt, der den Zusammenhang der dritten Rede
unterbricht.
Übrigens hat der ausgeschiedene Abschnitt eine genaue Parallele
in der Zusammenstellung einzelner loci aus nicht erhaltenen Reden
Dios TceQi ßaailelag, die wir als or. 62 unter dem Titel neQl ßaai-
XeLag 'Aal rvQavvidog lesen.
Or. 3.
§ 9 o yaQ TOiovTog ßaatXeig
TOig fiihy alXoig nalov tct f^fia T^y
dgevriv revcfiinev, avrt^ öh aal
avayxaiov,
§ 10 tIvi fihv yaQ öel TtXeLovog
(pQOVYiaevjg i] zfii ßovkevofiivip 7C€gl
Tfjjv fisyloTwy;
tLvl öe aTLQißeotiqag dixaiO'
avvr^g rj to7 fAei^ovi twv voftojv;
tIvi de awcpQoavvrjg iyxQatea-
tiqag r] ot(i) navta e^eoti;
Tivi de avögelag laxvQOTiqag rj
vq) ov TcavTa a(^^€Tai;
Or. 62.
8 3 ycal Tovra oQ&wg vnoXafX"
ßdvei. tIvi fxlv ydg q)gov7ja€0}g Ö€i
TtXelovog tj xij) negl roaovzwv ßov-
Xevofxivi^ ;
zlvi öh d^gißeOTigag dixaio-
avvrjg tj T(p /lel^ovi twv vofiüiv;
xLvL dl O(x)(pgoavvrig iyycgarea-
rigag rj <^t> ndvxa i^eati;
rlvi dh dvögelag fiel^ovog ^ tc/J
TtdvTa a(i)^ovTi;
Die kleinen Abweichungen des Wortlautes zeigen, dafs dieser locus
in mehreren Reden vorkam. In welchem Zusammenhang er vorkam,
lehrt auch or. 62 nicht mit Bestimmtheit, da er dort mit dem Voraus-
gehenden nicht zusammenhängt und auch mit dem Folgenden der Zu-
sammenhang problematisch ist. Ich neige jetzt zu der Ansicht, dafs ich
auch § 4 xal roLvvv t(j} fiiv aXXwv etc. das Alinea hätte zur Anwen-
dung bringen sollen. Aber wenn wir auch nach dieser Richtung keinen
Aufschlufs erhalten, so ist doch das Vorhandensein von Excerpten nicht
erhaltener Konigsreden, wie sie uns or. 62 bietet, ein beachtenswerter
Wink für die Beurteilung ähnlicher loci, die uns die Analyse des Zu-
sammenhangs aus der dritten Rede auszuscheiden nötigt. Es mufs die
Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dafs solche Auszüge Ursprung-
Dios letzte Lebensperiode. 417
lieh am Rande der Handschrin beigeschriebeo, verseheDtlich in den Text
geraten sind.
Ein zweiter Fall ganz ähnlicher Art folgt dem ersten auf dem Fufse.
Seine Verherrlichung Trajans schliefst, Dio § 12 in. mit der Bemerkung
ab: kiyo) di ravva oix ayvowv ort Ta ^rjS'ivTa vvv vre ifiov iv
TtXelovi XQ^^V ^voty^T^ kiyeaS'ai. Das heifst nach der bei unbefan-
genem Lesen sich darbietenden Auffassung: ich weifs wohl, dafs der
soeben von mir bebandelte Gegenstand (nämlich die Eudämonie Trajans)
mit mehr Zeitaufwand behandelt werden mufs. Wenn wir so erklären,
würde sich an diesen Gedanken sehr passend § 25 anschliefsen : Yva
ök firjTe iyfjj xoXaxelag ahlav ^w rolg x^ilovoi, diaßaXXeiv fi^e'
ov Tov xaT otpd-akfiovg id'ii.eiv iTtaiveia&ai, non^aoftai tovg l6yov$
VTtkg Tov x^i^arot; ßaaiHiog, d.h. die Begründung, warum Dio auf
die ausführliche Behandlung der Eudämonie Trajans verzichtet, nicht
aber die Worte, die sich nach der Überlieferung anschliefsen : aXV ov%
eari öiog fnij nore iyw (paviZ vi xoXaxeltjc Xiywv. Denn ^durch sie
wird die absurde Vorstellung erweckt, dafs eine ausführliche Behandlung
der Eudämonie Trajans den Redner vor dem Verdacht der Schmeichelei
schützen würde, den ihm das Streifen dieses Gegenstandes zugezogen
hat. „Ich weifs wohl, dafs der Gegenstand zu erschöpfender Behand-
lung längere Zeit erfordert, aber auch so (d.h. nach der kurz andeu-
tenden Behandlung in § 2 — 9) brauche ich wohl nicht den Vorwurf der
Schmeichelei zu fürchten.^ Dies kann unmöglich Dios Gedanke gewesen
sein. Denn dann könnte er nicht, nach dem Abschnitt über die Schmei-
chelei, § 25 fortfahren : „Um aber nicht zu dem Vorwurf der Schmei-
chelei Anlafs zu geben, will ich lieber von dem idealen König im allge-
meinen handeln.^ Die an dieser letzteren Stelle ausgedrückte Auffassung
ist die natürliche und in der Sache selbst begründete: je länger Dio
bei der Verherrlichung Trajans verweilt, je ausführlicher er sie zu be-
gründen versucht, desto mehr wird er übelwollenden Beurteilern als
Schmeichler erscheinen.
Wollen wir also den Zusammenhang in § 12 retten, so müssen wir
eine andere Auffassung der Worte: kiyw di Tavra — dyayxrj kfyead-ai
durchzuführen suchen. Kann in ihnen der Gedanke . liegen : ich weifs
wohl, dafs, was ich jetzt rede, von der Nachwelt geprüft und beurteilt
werden wird? Daran würde sich sehr passend anschliefsen: Aber ich
brauche wohl nicht zu fürchten, dafs sie zu dem Ergebnis kommen
wird, ich sei ein Schmeichler gewesen. — Sollte dies nach Dios Absicht
der Sinn der überlieferten Worte sein, so mtlfste man mindestens
▼. Arnim, Dio. 27
418 Fünftes Kapitel.
sagen, dafis er sich sehr UDdeutlich ausgedrückt hat. Xiyead-ai mOfste
von künftigen Recitationen der Rede durch andere oder von erzählender
Wiedergabe ihres Inhahs verstanden werden. Der Hauptbegriff der
Prüfung wäre nicht besonders angedeutet, sondern mttfste als notwendig
mit dem Hyea&ai verbunden hinzugedacht werden. Diese Erwflgung
führt zu der Vermutung, die ich einer brieflichen Mitteilung Ilseners
verdanke: statt kiyea&ai sei iHyx^o^ai zu schreiben. Aber auch so
bleibt der Widerspruch bestehen, dafs Dio erst ausführlich beweist, er
brauche den Vorwurf der xokaxela nicht zu fürchten und dann doch
(vgl. § 25) aus Furcht vor diesem Vorwurf das Thema wechselt. Un-
möglich konnten sich die Worte: cva dk ^rpiB lym xokaxelaf; ai%lav
ex(o an den Nachweis anschliefsen , dafs er diesen Vorwurf nicht be-
fürchte. Wozu denn, würde man fragen, diese breite, die Symmetrie
des Proömiums störende Abhandlung über die Schmeichelei, wenn der
Redner diesem Vorwurf doch nicht entgehen kann und doch vor ihm
zurückzuweichen gesonnen ist?
Ich glaube daher, dafs der ganze Abschnitt negl xolaxelag von
§ 12 akk^ ovx — § 24 als zwar dionisch, aber nicht zu unserer Rede
gehörig auszuscheiden ist. Dafs es andere Reden Dios Tteql ßaaiXeiag
gab, in denen er minder zaghaft das Lob Trajans verkündete, zeigt
wiederum or. 62. Denn die Wendung in § 3 o d^ ayad-og a^coy,
uianeQ av zeigt deutlich, dafs in der Rede, der dieser Abschnitt ent-
nommen ist, Trajan direct und ohne Vorbehalt dem aya^og a^wv
gleichgesetzt wurde. Da war mehr Veranlassung, sich gegen den Ver-
dacht der xokaxeia zu verwahren. — Das Zurückgreifen auf den Ein-
gang der Rede in § 29 (fieta yaq Trjv anoxQLOiv %r^v negl r^g eidai-
(xovLag) spricht auch gegen die übermäfsige Ausdehnung des Proömiums.
Auf das Proömium folgt als erster Hauptteil der Rede die Fortsetzung
jenes sokratischen Gesprächs, auf das schon der Eingang Bezug nahm.
Wie Sokrates über die Eudämonie des Perserkönigs nichts zu wissen
erklärte, da er seinen Seelenzustand nicht kenne, so stellte er sich auch
skeptisch zu der zweiten Frage, ob der Perserkönig stark und mächtig
ist, und zu der dritten Frage, ob er ein Herrscher und König ist über
die Völker seines Reichs. Wenn er nicht besonnen, tapfer, gerecht,
einsichtig ist, sondern ein Knecht seiner Leidenschaften, so ist er nicht
stark und mächtig, sondern schwach. Wenn er nicht nach Recht und
Gesetz zum Wohle seiner Unterthanen, sondern ungerecht und selbst-
süchtig herrscht, so ist er nicht ein König, sondern ein Tyrann (§ 29 — 42
xai IdcwTag).
Dios letzte Lebensperiode. 419
Hieran schliefst sich § 42 of^oia dk elQTjKaat — 49 incl. eine Fort-
setzung, die beweisen soll, dafs mit dieser sokratischen Unterscheidung
von Königtum und Tyrannis auch die platonisch-aristotelische Staatslehre
übereinstimmt, wenn sie drei gute Staatsformen annimmt, Königtum,
Aristokratie, Demokratie, und drei ihnen entsprechende Entartungen,
Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie. Denn das Unterscheidungsmerkmal
einer jeden guten Verfassung von der ihr entsprechenden Entartung
besteht darin, dafs die Regierungsgewalt von ihrem Träger nach Recht
und Gesetz zum Wohle des Ganzen ausgeübt wird. Dafs dieser Abschnitt
nicht als zweiter Hauptteil, sondern nur als Fortsetzung und Abschlufs
des ersten zu betrachten ist, lehrt § 49 extr. : tovrwv fikv ovv 6 Xoyog
Dagegen sind die Anfangsworte von § 50 tvcqI ök ir^g evdal/dovog
%B %a\ d^eiag xavaaTaaecjg Trjg vvv iTtixgaTOvorjg XQV if'^^^^lv
iTti^ekiateQov als Obergang zum zweiten Hauptteil aufzufassen. Da
wenige Zeilen nach diesem Übergang die besprochene Lücke klafTt (tot
7t€Ql Tov Ji6g)y so wissen wir nur, dafs das Wesen und die natürliche
Berechtigung der monarchischen Regierungsform an der göttlichen Welt-
regierung als dem Ur- und Vorbilde des irdischen Königtums dargelegt
wurde. Da der Redner versprochen hat, von der vvv iTtiTLQojovoa
xardavaGig, d. h. von der in Trajan verwirklichten idealen Monarchie
zu handeln, für die er das göttliche Weltregiment nur als eixciv und
Tcagadecyfia heranzieht, so mufste er jedenfalls bald zu jener zurück-
kehren. Keinesfalls kann die Schilderung der göttlichen Weltregierong
den Schlufs der ganzen Rede gebildet haben. Man wird sich diesen
Abschnitt ganz ähnlich den §§ 39 — 48 der ersten Rede vorzustellen
haben. Doch wird ja ausdrücklich in § 48 eine ausführlichere Behand-
lung des Themas für eine spätere Gelegenheit in Aussicht gestellt. Da
die Wiederholung in der zwölften Rede nicht ausführlicher, sondern
kürzer ist, so liegt die Vermutung nahe, dafs in der dritten Rede jenes
Versprechen eingelöst wurde. Wahrscheinlich wurde auch die Auf-
zählung der Beinamen des Zeus wiederholt, um aus ihnen die wich-
tigsten Eigenschaften des guten Königs abzuleiten.
Nach der Lücke, von § 51 an, befinden wir uns in einer Dar-
stellung des irdischen Fürstenideals, die mit § 15 — 32 der ersten Rede
nahe verwandt, nur viel ausführlicher ist. Wie dort wird auch hier
zuerst das Verhältnis des Königs zu den Göttern geschildert und dann
erst zu der Fürsorge für die Menschen übergegangen.
27*
420
Ffinftes Kapitel.
Or. 1.
§ 15 €OTL Örj TtQWTOV fikv &€(jSv
IntfxeXtig xai ro daifioviov nqo-
Tlfl(Sv
§ 16 ooTcg ök xaxog wv rjyeiial
Ttoxe d'eotg agioxeiv, %tn a.v%o
TOVTO rCQWTOV OVX OOlOQ iotlV'
1] yoQ avoTjiov rj TtovrjQOv vevo-
fi€Ta di Tovg &€ovg av^Qcinwv
Ini^eXelxai
Or. 3.
§ 51 TOlOVtOg ök WV fCQWTOV
/xiv loTi ^BocpiXrig — xai Ttguh-
nov ye xa2 ^aXioxa d-egoTtevaei
to ^elov etc.
§ 52 ovök Toig d-eovg avo'drj-
(xaötv ovök dvölaig oierai xctlQ€iv
TcJv adUiüVy naqa jxovwv dk %div
aya^üv TtQoalea^ai %a dido^eva
ixelvoig ye ftriv ovöiitoTB
7tava€Tai tt(j.wv, %otg xakolg £^
yoig xal talg dixalaig Ttgd^eaiv,
§ 55 iriv T6 %Civ avd'QWTttJv
knifxiXeiav ov naqBQyov oide
aaxoXlav aXXwg vsvofiixev etc.
Dann folgt in beiden Reden die Schilderung der q>iXoftoyla des
Königs, ganz kurz in der ersten, sehr ausführlich in der dritten Rede.
Im einzelnen vergleiche man noch:
Or. 1.
§ 21 kTtlaxonaL yccQ oxi al [xiv
ridovai Tovg ael ovvovxag %a %e
aXXa XvfiaivovTai xal taxv noi-
oiöiv aövvaTOvg ngog avTag, ol
ih Ttovoi Ta T€ aXXa wy>€Xovac
xais^el fiaXXov Ttaqixovat övva-
fiivov£. Ttoveiv.
Or. 3.
§ 83 %ti dk ol ^kv Ttovoi avTovg
iXdtTOvg ael tcolovöl xal (pigeiv
lXaq>QO%iqovgy tag ök '^öovag ftei-
^ovg xal aßXaßeatiQag , otav yl-
yviüvTai fxera lovg rcovovg. ^ da
ye TQvq^r] %ovg fikv novovg aei
XaXenwtiQovg noul q>alveG'd'ai,
tag ök ^öoyag ano^agalvet xai
aa-3-eveig anoöebivvoiv.
Wenn e^j^i^'^ i^ ^^i* dritten Rede auf die Behandlung der av^Qcj"
Ttiov InifiiXe^l^^^^ (pcXoTtovla die lange Abhandlung tlber die Freund-
schaft § 86 U^W^^^^^' ^^ bietet auch hierfür die erste Rede eine
Analogie. Denn in 8^^^~~^^ handelt auch sie in ganz demselben Sinne
von den Freunden #^. Königs. Freilich schUefsen sich diese Para-
graphen nicht unmittPikW ^° *^*^ Erwähnung der q>cXonovla an. Den-
noch wird man in H *^k 'widerten Obereinstimmung eine Bestätigung
erbhcken dürfen für d' f**^^^ **^^ ^^^ Composition in der dritten Rede,
^^er diese ßestät' ' ^^'^^ ^ nur die Grundzüge. Sobald wir den
EJozelheiten nacbirehf f^ *^m». 'ie Schwierigkeiten von neuem. Drei
Gesichupunkte sind
^f di^ nacJi
Schwierigkeiten
'OS Darstellung dem König seine
Dios letzte Lebensperiode. 421
Mühewaltung für das Wohl der UnterthaneD anDehmbar machen sollen.
Erstens: die Fürsorge für das Wohl der Menschen ist sein von Gott
ihm verordneter Beruf; so wenig wie der Steuermann, der Bauer, der
Jäger darf er die mit seinem Beruf notwendig verbundene Mühe und
Arbeit scheuen (§ 55 u. 56). Zweitens: Es ist Gottes Ordnung, dafs
überall das bessere und höhere über das geringere herrscht und dadurch
mehr Sorge und Mühe auf sich zu nehmen hat (§ 57 — 82). Drittens:
Ein arbeitsames Leben ist gesünder und angenehmer als ein träges
(§ 83 u. 84). — Von diesen drei Teilen bedarf der zweite, bei weitem
umfangreichste, genauerer Analyse. An der Spitze steht die Behauptung,
dafs der König nicht verschmäht, sich um der andern willen zu plagen,
und keine Benachteiligung seiner Person darin erblickt, dafs er sich am
meisten anzustrengen hat. Dann folgt in allen Handschriften der Satz:
oQq ycLQ TLoi Tov f^kiov ovdevog ikazTO) twv d^euiv ovza ov% ax^6~
fievov, et awTrjQlag ^v&iev av-d'QwvttJv xal ßlov tov aiwva dia-
7tQQTT€Tai TtdvTa ooo 7tQatT€i. Es läfst sich nicht leugnen, dafe
dieser Satz sich ganz passend an das Vorhergehende anschliefst. Nur
erwartet man eine weitere Ausführung und Begründung des an sich
nicht ganz einleuchtenden Gedankens. Statt dessen folgen in § 58—61
Betrachtungen, die schon Emperius als nicht in diesen Zusammenhang
gehörig erkannte. Der Inhalt von § 58 — 61 ist nämlich folgender: „da
Tapferkeit, Enthaltsamkeit, Einsicht auch für den Tyrannen erforderlich
sind, wenn anders er seine Herrschaft behaupten will, so ist es besser,
auch noch die vierte Tugend, die Gerechtigkeit, hinzuzufügen und sich
so statt Hafs und Tadel Ehre und Liebe der Götter und Menschen, der
Mit- und Nachwelt zuzubereiten.'' Der Abschnitt handelt also von der
Gerechtigkeit, die er als die wichtigste unter den königlichen Tugenden
darstellt, als das, was den König vom Tyrannen unterscheidet. Mit dem
Thema der §§ 57. 62 — 82 steht er in keiner Beziehung. Auch hängt
er weder am Anfang noch am Schlufs mit den umgebenden Textpartien
zusammen. Emperius wollte § 58—61 nach § 85 umstellen, und leider
bin ich ihm hierin gefolgt Es ist klar, dafs sie da ebensowenig am
Platze sind. Denn sie stellen den Fürsten vor die Alternative : Gerech-
tigkeit oder Ungerechtigkeit, Königtum oder Tyrannis, was sonst in der
ganzen Rede nirgends geschieht, und setzen einen Zusammenhang vor-
aus, in dem von den vier Cardinaltugenden und von der Gerechtigkeit
als der wichtigsten unter ihnen ausführlich gehandelt wurde. Wir könne»
daher den Abschnitt § 58 — 61 nur einfach ausscheiden und als Bruch-
stück einer andern Rede negl ßaoilelag betrachten.
422 Ffinftes Kapitel.
Es folgt daoD mit § 62 id. ein neuer BegrttnduDgssatz, nahe ver-
wandt dem vorher besprochenen, der dem ausgeschiedenen Abschnitt
unmittelbar vorausgeht und wie jener mit 6q^ yaQ beginnend. OfTen-
bar werden auch hier Erwägungen mitgeteilt, die den KOnig bestimmen,
die grofse mit seinem Amte verbundene Mühewaltung nicht zu scheuen.
Der Unterschied hegt darin, dafs in jenem ersten Begründungssätze
{oQ^ yaQ Y,al %6v i]kiov etc.) die begründende Erwägung eine specieüe,
im zweiten {6q^ yccQ ort nav%€x%ov %6 ßik%iov etc.) eine generelle ist
Das erste Mal tröstet sich der König über die Strapazen seines Berufs
durch den speciellen Hinweis auf Helios, der sich, obwohl einer der
vornehmsten unter den Göttern, um das Heil der Menschen von Ewig-
keit her unaufhörlich bemüht. Das zweite Mal tröstet er sich mit dem
allgemeineren (ledanken, dafs überall in der Welt dem Besseren und
Stärkeren mit der Herrschaft über die Schwächeren die gröCsere Arbeits-
last zuMlt. Dieser allgemeine Gedanke wird dann durch eine Reihe
von Beispielen belegt (KvßeQvrJTrjg xai kncßaTai. § 63—65, avQotrriYog
mal aTQaiiiJTai § 66 — 67, xpvxr] xal ow^a § 68 — 69, avriq yLoi yvvri
§70 --72), unter denen nach den eben aufgezählten als fünftes und
letztes das Beispiel des Helios wiederkehrt (§ 73 fr.)i das uns schon vor-
her begegnete. Man vergleiche die entsprechenden Abschnitte:
§ 57. ^
oqq ycLQ yLal %bv rikiov ovöevog
iXaTTW Tcuv d'Bwv ovta otfx ax9'6~
fxevovy €l aioTTjQlag eveaev avd'Qii-
nu)v xal ßLov %bv aiüva öiOTzgaz-
zezai Ttdvra oaa 7Cq6tt€u
§ 73.
To dk ^iyiOTOv OQq %6v tjkiov
iXBi fioxQioTriTi d'cdg äv' oxi de
ovx, avalverai di^ aiwvog fi^lv
VTtovgycSv xai z'^g '^^erigag &6xa
aiüTTjQlag TtgazTUiv anavra etc.
Es ist hier mit Händen zu greifen, dafs der in unsern Hand-
schriften überlieferte Conteit durch Vereinigung zweier Redactionen
unserer Rede entstanden ist. In der Redaction u^, zu der die oben
aus § 57 ausgeschriebenen Worte gehören, war nur von Helios als dem
himmlischen Vorbilde des Königs die Rede, in der Redaction jB, zu der
§ 62 und die ganze folgende Beispielreihe bis zu § 73 incl. gehört, war
der Gedanke allgemeiner formulirt und das in Red. ^ selbständig auf-
tretende Beispiel zu einem unter fünf dem allgemeinen Satze unter-
geordneten Beispielen hinabgedrückt. In erwünschtester Weise finden
wir durch diesen Befund bestätigt, dafs dem Redactor der dionischen
Schriftensammlung mehrere abweichende Nachschriften der von Dio mehr-
fach gehaltenen Reden zu Gebote standen.
Dios letzte Lebensperiode. 423
Ich habe vorhin betont, dafs dag Heliosmotiv in § 57 nicht ersch(Vpft
ist. Es mufste notwendig in der Redaction A eine weitere Ausführung
folgen. Wir dürfen mit um so grOfserer Sicherheit für diese Redaction
eine ziemlich ausführliche Behandlung des Heliosmotivs annehmen, als
ja in ihr für den Gesamtorganismus der Rede das Heliosmotiv denselben
Platz ausfüllen sollte, der in der Redaction jB durch die fünfgliedrige
Beispielreihe ausgefüllt wurde. Die Frage ist nur, ob diese weitere
Ausführung in Folge der Contamination verloren gegangen oder in dem
erhaltenen Texte noch nachweisbar ist. Ich werde beweisen, dafs das
letztere der Fall ist: die Worte % 75 d yaq xcri ai^ixgov — § 83 ovx
ax^erai xaQteQuiv geboren der Redaction A, nicht der Redaction B an ;
sie waren bestimmt, nicht an die jetzt ihnen voraufgehende Beispiel-
reihe, sondern an die Worte in § 57 6q^ yag xal %bv ijkiov — navTa
oaa 7CQaTT€i sich unmittelbar anzuschliefsen.
Für die Redaction B ist die Behandlung des Heliosmotivs in § 73
bis 75 Ttccvv loxvqav vollkommen ausreichend. Um der Symmetrie
willen mufste es hier kürzer als in Red. A abgethan werden. Der be-
zeichnete Abschnitt ist nicht kürzer als die Behandlung der avögeg xal
yvvaixeg in § 70 — 72. Dem Gedanken nach ist er vollkommen in sich
abgeschlossen. Die drei Leistungen, die in § 74 der Sonne zugeschrie-
ben werden, Unterscheidung der Jahreszeiten, Förderung alles orga-
nischen Wachstums, Spendung des Lichtes, bilden auch den Gegenstand
der ausführlichen Darstellung in § 77 — 81 , die nur in der Scheidung
von Tag und Nacht ein Plus bietet. Den Worten : xai %av%a ovdiTtoxB
xa^vei xaQiC^o^evog § 74 extr. entspricht am Schlufs der ausführlichen
Fassung § 81 extr.: %al Tavra firjxctvoifievog di^ alwvog oidinote
xa^vei. Die folgenden Worte § 75 in. tj nov ye öovkelav dovkeveiv
(palri Tig av navv loxvQav bilden den Abschlufs des Abschnitts. Es
ist kein Anstofs daran zu nehmen, dafs der Hauptgedanke: „Und doch
ist Helios seliger als die Menschen, denen er dienf^ hier nicht noch
einmal ausgesprochen wird , wie § 69 extr. : S^tog 6h ^eioregov xal
ßaOLkixwT€Q0v und § 71 aXV ov dicc %ov%o fiakkov av Tig fiaxaQloeu
Twy avÖQvjv rag yvvaixag. Denn dieser Gedanke ist schon im Ein-
gang des Abschnitts §73 ausgesprochen: Ttoacp fikv twv av^QWTtoiv
vneqix^L fxcmaQiotrjTL O^eog wv, auf den durch Steigerung des vnovQyelv
zum dovXevBiv zurückgegriffen wird.
Der Begründungssatz in § 75 bI yag xa2 a/xiiiQdv afieXi^aeie etc.
schliefst sich nicht passend an das nach der Oberlieferung vorausgehende
an. Denn der Gedanke : „Wenn die Sonne aus ihrer Bahn wiche, würde
424 FQnftes Kapitel.
die ganze Well zugrunde gehen^ giebt weder Rechtfertigung noch wei-
tere Ausführung für die öovXela ioxvga. Passend hingegen würde er
folgen auf die Worte in § 57, an die er sich nach meiner Vermutung
anschliefsen sollte. Die Behauptung, dars Helios omvriQiag eve^ev av-
&QW7CWV xal ßlov Tov aiwva öiangaTrerai ndvra oaa jtQatTSi
wird passend durch den Gedanken begründet, dafs, wenn er nicht thäte
was er thut, das All zugrunde ginge.
Es ist also erwiesen , dafs § 57 oqq yag — ooa 7CQatr€L § 75 el
yoLQ xai Ofxixgov — § 81 extr. zur Redaction ^ geboren und in der
Redaction B durch § 62 — 75 Ttdvv iaxvQav ersetzt wurden. Dafs der
Parallelabschnitt der Redaction B gleich nach dem ersten Satze der Re-
daction u4 eingeschoben ist, deren Zusammenhang dadurch zerrissen
wurde, ist leicht verständlich, weil in Redaction B die anderen Beispiele
dem des Helios voraufgingen. Dafs ferner an eben der Stelle, wo nach
unserer Vermutung der Redactor seine erste Vorlage verliefs, um sich
einer anderen zuzuwenden, der fremdartige, wahrscheinlich aus einer
anderen Rede stammende Abschnitt § 58—61 eingeschoben ist, erhöht
nur die Wahrscheinlichkeit des Vorganges. Dagegen ist durch die bis-
herige Betrachtung eine, andere merkwürdige Erscheinung noch nicht
erklärt, dafs nämlich am Schlufs des ganzen von der (piXonovLa han-
delnden Teils der Rede, unmittelbar vor dem Beginn des folgenden
Hauptteils neQi q)iUag^ als § 85 ein versprengter Satz steht, dessen
richtiger Platz am Schlufs von § 67 ist. Ich denke, eine plausible Er-
klärung dieser merkwürdigen Erscheinung ergiebt sich von selbst, wenn
wir den bisher betretenen Weg der Erklärung weiter verfolgen. Nicht
zwei, sondern drei von einander abweichende Vorlagen waren es, die
der Redactor in diesem Teil der Rede zusammenklitterte. Eine, die wir
u4 genannt haben, hatte nur das HeHosmotiv, eine zweite und dritte
hatten gemeinsam den generellen Satz in § 62, unterschieden sich aber
dadurch, dafs die zweite diesen Satz nur durch zwei Beispiele (Steuer-
mann und Feldherr) erläuterte, die dritte durch fünf. Der Redactor,
der hinter § 57 die erste Vorlage verlassen hatte, folgte zunächst der
zweiten Vorlage in § 62 — 67, fügte dann aus der dritten Vorlage in
§ 68 — 75 die weiteren Beispiele hinzu und kehrte, da unter diesen auch
Helios wiederkehrte, mit § 75 zu der ersten Vorlage zurück, der er bis
§ 84 incl. folgte. Für den folgenden Hauptteil der Rede, der negl
(piXiag handelt, entschlofs er sich, die zweite Vorlage zugrunde zu legen,
vielleicht weil er in ihr am ausführlichsten behandelt war. Indem er
zu ihr zurückkehrte, schrieb er, sei es versehentlich, sei es um deu
Dio8 letzte Lebensperiode. 425
wahren Sachverhalt anzudeuten, den Satz mit ab, mit dem in dieser
Fassung der voraufgehende Teil der Rede (tcsqI (pikonovlag) endete.
Vielleicht ist diese Erklärung nicht die allein mögliche. Ich hatte
nur zu zeigen, dafs sich alle auflallenden Erscheinungen dieser Text-
partie aus meiner Grundanschauung über die Geschichte des Dioteites
erklären lassen. Es kommt dabei weniger auf die Richtigkeit der Durch-
führung im einzelnen an als auf die Richtigkeit der ganzen Erklärungs-
methode. Die aber scheint mir über allen Zweifel erhaben. Dafs ein
so beschaffener Text nicht von dem Autor selbst herrühren kann, son-
dern nur von einem Redactor, der mit mehreren im einzelnen ab-
weichenden Handschriften wirtschaftet, ist eine evidente Thatsache. Dafs
ich mir diese abweichenden Vorlagen nicht als verschiedene, vom Autor
selbst besorgte Ausgaben der Rede, sondern als Nachschriften der mit
freier Variation an verschiedenen Orten und bei verschiedenen Gelegen-
heiten von Dio vorgetragenen Rede denke, wird hoffentlich dem Leser,
der meine ganze Untersuchung verfolgt hat, nicht unbegründet er-
scheinen.
Die ausführliche Abhandlung tvsqI (piUag, die §86—122 füllt,
schliefst sich so unvermittelt, ohne jede rhetorische Obergangsformel an
die voraufgehende neq! q)ilo7tovlag an, dafs Zweifel entstehen können,
ob wir den ursprünglichen Zusammenhang vor uns haben. Aber, wie
schon oben bemerkt, für die Richtigkeit der GberUeferung spricht der
Umstand, dafs auch in der ersten Rede das Kapitel Ttegl q)ikiag eine
ähnliche Stellung einnimmt. Dafs indessen nicht in allen Fassungen der
Rede die Abhandlung Ttegl q>cXlag da stand, wo sie in unsern Hand-
schriften steht, scheint aus der Beschaffenheit des auf sie noch folgenden
Schlufsteils der Rede hervorzugeben. Dieser besteht, nach der in meiner
Ausgabe (adn. zu p. 54, 24) mitgeteilten Bemerkung von Wilamowitz,
aus drei unzusammenhängenden Bruchstücken. Das mittlere dieser drei
Bruchstücke (§ 128 — 132) hat Emperius, weil es auch negl q)iXlag
handelt, hinter § 111 in die Abhandlung 7ceQl (piXlag eingeschoben und
ich bin ihm leider darin gefolgt. Aber schon bei der Correctur der
Druckbogen machte mich Wilamowitz darauf aufmerksam, dafs diese
Umstellung nicht richtig sein kann, weil sie den zwischen § 111 u. 112
bestehenden Zusammenhang zerreifst. An die Worte §111: Iv fiovj]
dk (fiXlq ßovXexai TtXeovextelv mufs sich unmittelbar anschliefsen
§ 112: xai ov fxovov ovdiv ^yeliai noulv aronov. So findet der
Ausdruck aionov Ttoielv seine Erklärung. Denn das ßovkeo^ai
nXeov&fLxeiv ist im allgemeinen axoTtov, nur in diesem einen Falle
426 FunHes Kapitel.
nicht. Wie bei andern Störungen des Zusammenhangs in der dritten
Rede ist auch hier nicht durch Umstellung zu helfen, sondern der ver-
sprengte Abschnitt als Dublette anzusehen, die der Redactor, weil er
sie dem Zusammenhang nicht einverleiben konnte, am Schlufs der Rede
nachgetragen hat. § 128 — 132 können wohl § 111. 112 ersetzen, nicht
aber zwischen sie eingeschoben oder überhaupt mit ihnen vereinigt
werden.
Dagegen scheinen der erste und dritte Abschnitt des Schlufsteils
(§ 123—127 und § 133 — 138), nachdem der zwischen* ihnen stehende
eben besprochene Abschnitt entfernt ist, sich zu einem zusammen-
hängenden Ganzen zusammenzuschliefsen. Vereinigt könnten sie sehr
gut den Schlufs der ganzen Rede gebildet haben in einer Fassung, die
der Abhandlung Ttegl q)illag entbehrte. Der erste Abschnitt § 123 — 127
berührt sich im Gedanken und zum Teil im Ausdruck recht nah mit
§ 83. 84, also mit dem dritten und letzten Abschnit rcegi (pUoTtovlag.
Man vergleiche besonders:
§ 123.
xal tag ^kv fjdovag av^ei xolg
Ttovoig xal fiel^ovg öia tovto tloq-
Tcovraiy Tovg 81 Ttovovg Irtekcc^
§ 83.
€Ti öh Ol fiiv TtovoL aliovg
IkavTOvg ael 7€Oiovai xal q>iQ€cv
lXaq)QO%iQovg^ tag 8h fjdovag ^el-
^ovg xal aßlaßeaviQag , Srav yL-
yviovTai fxeta tovg Ttovovg»
Unzweifelhaft können § 123—127 als Ersatzstück für § 83. 84
aufgefafst werden. Sie enthalten, wie jene, den Gedanken, dafs das
arbeitsame Leben zu allem übrigen auch angenehmer und gesünder ist
als ein träges Genufsleben. Schwerlich würde dieses zu der Abhand-
lung Tteql q)iXo7tovlag gehörige Ersatzstück in unserem Text hinter
der Abhandlung tvsqI q)iklag stehen, wenn es nicht einer Fassung der
Rede entstammte, der die Abhandlung tcsqI q)iXlag überhaupt fehlte.
Wäre diese vorhanden gewesen, so wäre das Stück vor ihr unterge-
bracht worden.
Leider ist der Text gegen Ende desselben und am Anfang von
§ 133 so stark verderbt^ dafs dadurch die Beurteilung, ob Zusammen-
hang vorhanden ist oder nicht, erschwert wird. Klar ist, dafs § 133 — 138,
die von der Königen angemessenen Erholung handeln, auf das Kapitel
negl q)iXo7iovlag als Abschlufs folgen sollten. „Der König lebt in
Mühe und Arbeit. Aber er fühlt sich durch solches Leben nicht be-
nachteiligt, sondern bedenkt, dafs Fürsorge für die Menschen sein von
Gott geordneter Beruf ist, dafs überall in der Welt Würde Bürde bringt
N
Dios letzte Lebensperiode. 427
und dafs ein arbeitsames Leben gesünder und angenehmer ist als ein
träges Genufsleben. Da aber auch er ein Mensch ist und der Erholung
bedarf, so sucht er diese bisweilen, aber nicht in entnervenden sinn-
lichen Genüssen, sondern in dem wahrhaft königlichen, Leib und Seele
stärkenden Vergnügen der Jagd/^ Das wäre ein richtiger Gedanken-
gang, in dem die ganze Rede ihren Abschlufs flnden könnte.
Die Abhandlung tvcqI q>iXLag § 86 — 118, zu der die Besprechung
der verwandtschaftlichen Verhältnisse des Königs in § 119 — 122 einen
Anhang bildet — denn ovyyavelg und olyceioi sind eine besondere Art
von q)lloi — ist im allgemeinen einheitlich und zusammenhängend.
Nur hin und wieder wird der Zusammenhang durch Dubletten und Zu-
sätze unterbrochen, die wie es scheint am Rande beigeschrieben waren
und von da in den Context hineingeraten sind.
§ 90.
oQf dk ort Tiüv fikv aXlwv xtjj-
fiOTCJv Ta fxkv avayxala fxovov xal
XQTjaifia doxsl näai, Tiqxpiv ök
ovdefilav TtagixcTai' tu dk ^dia
jxovoy, avfxq)iQovTa ök ov' tov-
vavxlov di la nXeloxa %wv fjdiwv
dav/4(poQa eigioxerai.
§ 91.
xai Tolvvv oaa fihv avayxaia
xaJ xQTiai^a rwv XTrjfidTiüv, ov
Ttavicjg '^öon^v Tiva ex^i rolg
xeKzrj^ivoig' oaa dh reQTcva, ovx
evd^vg dta tovto xal ov(xq)iQov%a'
Tovvavrlov ydq noXXa twv f^öitov
a^v^q>OQa i^eUyx^tai,
Derartige Dubletten kann man nicht einem Interpolator in die
Schuhe schieben. Wenn ein solcher die Enthymeme des Autors for-
mell variirt und, wie Synesius sagt, ti^ ovyyQacpBl nQooyvfiya^etai,
so erwartet man zwischen den beiden Fassungen rhetorisch bedeutsame
Formunterschiede zu flnden. Hier sind sie ganz bedeutungslos. So
verführerisch es ist, diese Eigentümlichkeiten des überlieferten Diotextes
mit rhetorischen Übungen, wie sie Synesius am Schlufs seines „Dion^
schildert, in ursächlichen Zusammenhang zu bringen, halte ich doch
diesen Weg der Erklärung für einen Irrweg. Ein Synesius mochte ja
stolz darauf sein, wenn er eine Partie der Rede aus dem Kopf repro-
ducirend tov /ihv iydvfirjfxaTog evaioxog iyeyovei, o,ti öh xai rca-
QakkaTTOi T^g Xi^eug aXV oii ^aliava eXxaOTO nqog Trjv clq^io-
vlav TOV ovyyqafiiiaTog, Aber welchen Zweck hätte es gehabt, solche
Variationen des überlieferten Textes durch Eintragung in die Hand-
schrift zu verewigen? Das konnte ihm nur in den Sinn kommen, wenn
er seine Sache in irgend einer Hinsicht besser gemacht zu haben glaubte,
als der Autor selbst. Dagegen konnten solche Dubletten dadurch ent-
stehen, dafs der Autor selbst, eine früher gehaltene Rede aus dem Ge-
428
Fünftes Kapitel.
dächtnis wiederholend, den Wortlaut variirte und ein allzu gewissen-
hafter Herausgeber beide Fassungen erhalten wollte.
Dasselbe Verhältnis zweier aufeinanderfolgender Sätze oder Satzteile
finden wir in § 113 tooovtov dh a^lav TCQlvei r^v (piklav
a) üaxB ovdiva fjyelTai tcJv nvi"
Ttore rjdiTL^a&ai vtco q>lkov^ aXka
Tovro öij €v Twv keyo/divvjv adv-
vatwv eivai.
b) wäre xal nad'elv vnd g>lkov
KcmiSg twv advvdrwv elvai x^-
Durch Textverderbnis verdunkelt scheint dieselbe Erscheinung vor-
zuliegen in § 116 f. Denn dem Satz, dafs der Tyrann keine Freunde
haben kann (tcovtwv yoQ anoQwtaxog kati (piXlag jigawog* ovdh
ycLQ dvvarai Ttoiela&ai q)lXovg) folgen zwei begründende Sätze, die sich
im Gedanken zu nahe berühren^ um nebeneinander geduldet werden
zu können.
a) Tovg /Lth yoQ ofioiovg av%(^
fCovrjQovg ovrag vcpOQciTai, vnb
6h zvjv avofxoicjv xal aya&tiv
Auch die Schwierigkeiten in § 109. 110 sind vielleicht durch die
Annahme zu heben, dafs zwei Fassungen, von denen die eine eine
Variation der andern darstellt, mit einander contaminirt sind.
b) ol filv ycLQ öUaioi (libri öi-
xaltog) fuaovoiv avrov, ol dk zwv
avTwv inidvfxovvreg Ijtißovk&ü-
ovoiv.
a) ei dk TtlovTog 7ii(pvyL€v ei-
(pQaLveiv rovg xrwfiivovg, noX-
Xai^ig av eh] nXovoiog 6 toig q)l'
kocg fieraöidovg Tuiv TcagovTOJv.
b) Kai Tolvvv fidv fiev jfa^/^c-
aO^ai Tolg Ikev^igoig , acp&oviüv
ovTfjJv, '^dv dk kafißdveiv dwga,
diKaltog kafißavovTtt xai öi ige-
T1JV • 6 Tolvvv Toig (plkoig jfa^i^o-
fxevog riderai afxa (xhv wg didovg^
Q/na öi log avTog xtcifievog
xai yccQ d^ nakawg iariv 6 koyog 6 xoivd anocpalviov xd xcSv q)lka}v.
Die Gedanken decken sich in diesem Falle nicht völlig: b enthält
mehr als a. Da es aber auch den Gedanken von a in besserer und
präciserer Form mit enthält, so hat a neben b keine Daseinsberech-
tigung. Doch ist zuzugeben, dafs dieser Fall weniger klar liegt als die
vorher besprochenen.
Aufser den Dubletten finden sich mehrfach Zusätze anderer Art.
Den in meiner Ausgabe athetirten Satz in § 97 glaube ich jetzt halten
zu können, wenn ich nur -^eolg streiche: rtola de dvaia xexaQiafaivrj
Dios letzte Lebensperiode. 429
[^£o2^] av€v Tujv üvvevwxov^ivwv. Dagegen bin ich noch jetzt der
Meinung, dafs der Satz in § 101 ei dh axv^Qio/idv — nQelTTwv an
diese Stelle nicht gehören kann. Die Worte iyw /xhv yag ovö^ evTvxlccv
ixelvijv v€v6iÄixa, rj firjdiva ^€i %bv avvijdo^evov kommen nur dann
zu voller Geltung, wenn sie sich berichtigend und steigernd unmittelbar
anscbliefsen an die Worte: rtola öl &)tvxla xoiQlg qilXuv omaxaQig;
Die im überlieferten Text eingeschobene Bemerkung über av&QWTtwv
iqri^la und (pUwv igri^la macht nicht allein die rhetorische Wir-
kung dieser Steigerung zunichte, sie l^llt auch aus dem Zusammen-
hang heraus, weil sie zu dem demonstrandum: /aovov dh tovto ra
fiiv dvax€Qrj nav%a ixeioi, %a de ayad'a Ttavxa av^ei in keiner
Beziehung steht. Wenn es gälte, in dem überlieferten Texte eine
passende Stelle für diesen Satz zu flnden, so könnte man ihn am ersten
nach § 96 einschieben. Aber auch da ergiebt sich kein ganz befrie-
digender Zusammenhang. Die Worte knel ivSv ye /xri evvoovvroiv
TcoXkaxig fj i^rj/ila xgelmov würden nur wiederholen was dort steht
in dem Satze: ^ti dk XvTtrjQoteQov , ei dei^oece xoivcjvelv toIq i^rj
ayanmoiv. Auch wenn wir den Satz aus § 101 als Ersatzstttck an die
Stelle jenes Schlufssatzes von §96 treten lassen, schliefst sich §97
nicht ungezwungen an. Es ist daher von jeder Umstellung Abstand zu
nehmen. Der Satz ist ein Analogon jener Bruchstücke der Königsreden,
die wir in or. 62 zusammengestellt finden.
Dasselbe gilt von § 103. Die zweite Hälfte desselben von 6 yciQ
^OLOvrog an hatte schon Heiske als fremdartigen Zusatz erkannt. Man
mufs aber weiter gehen und den ganzen Paragraphen streichen. Er
stellt ein in sich zusammenhängendes Enthymem dar, das nicht in eine
Verherrlichung der Freundschaft, sondern nur in eine Glücklichpreisung
des guten Königs hineinpafst Die Worte Tcwg 6 toiovvog oi %eXiwg
eidal/aiüy zeigen, was hier der Redner beweisen will; xpiyeiv dk oldeig
dwafievog geht auf die sittliche Reinheit des idealen Königs, von der
in diesem Zusammenhang nicht die Rede ist und nicht die Rede sein
konnte. Der ganze Abschnitt, in dem wir uns hier befinden, verherr-
licht die Freundschaft als das höchste der Lebensgüter, um dadurch zu
beweisen, dafs der ideale König sie höher schätzen wird, als alle an-
deren Besitztümer. Sein Inhalt, auf die einfachste logische Form ge-
bracht, ist der Schlufs: weil nur Freundschaft glücklich macht, wird
der König sich Freunde zu machen streben. Dagegen lautet der Schlufs
in § 103 so: da der ideale König die besten zu Freunden und nur die
schlechtesten zu Feinden hat, da viele ihn loben und keiner ihn tadeln
430 Fünftes Kapitel.
kann, ist er vollkommen glückKch. Wir können in diesem Falle nicht
zweifeln, warum der zu einer andern Rede Dios gehörige Satz gerade
an dieser Stelle beigeschrieben wurde. In den dem Einschiebsel vor-
ausgehenden Worten wird der für den allereleudesten Mann erklärt, der
TtXeloTOvg roifg i(prjdoiÄivovg und ovdiva tov avvrjöoixepüv hat. Da-
bei fiel einem aufmerksamen Leser die ähnliche Stelle einer andern
Königsrede ein, wo der Mann für vollkommen glücklich erklärt wird^
der Ttokkovg tovg avvrjöofiivovgf ovdiva ök icprjdo^evov l^fii. In dem
begründenden Zusatz xal dia %b evTvxelv l(p ' anaoi u. s. w. zeigt sich
am deutlichsten, dafs diese Stelle in ganz anderem Zusammenhange stand.
Ich habe also in meiner Ausgabe hier mit Unrecht von einem Inter-
polator gesprochen. Der die Stelle zuerst am Rande beischrieb, hatte
gewifs nicht die Absicht, sie dem Text der dritten Rede einzuverleibeD.
Der schon von Emperius atbetirte Satz in § 118 wate 6 fiiv niQ-
avfi €va TLva eaxev 6q)\^aX^6v ßaaiXiwg Xsyc^evoVy xal %ov%ov ov
anovöalov avS^QVJjtoVy aXXa kx twv imzvxovtwv, ayvouiv Ott %ov
aya&ov ßaaiXiwg oi q>Lkoi navxeg elaiv 6(p&akfiol ist anderer Art.
Hit den ihn umgebenden Textpartiecn ist er so völlig ohne auch nur
scheinbaren Zusammenhang, dafs ich mir den Reweis sparen kann. Dem
Gedanken nach gehört er zu dem Abschnitt § 104—107. Diesem kann
er an keiner Stelle eingeschaltet werden, auch nicht nach &€aad^ai§ 105.
Denn hier eingeschaltet würde er die rhetorische Wirkung der drei
concinn gebauten Glieder (Augen, Ohren, Zunge) aufheben, die nur bei
unmittelbarer Aufeinanderfolge ins Ohr ßlllt. Eher ginge es an, ihn
an den Schlufs dieses Abschnittes hinter § 107 zu rücken. Aber der
Umstand, dafs in § 107 nicht nur vom Sehen, sondern auch vom Hören,
Handeln, Ratschlagen die Rede ist, macht auch diese Umstellung wenig
wahrscheinlich. Es kommt hinzu, dafs in dem ganzen Preis der Freund-
schaft § 91 — 110 nirgends ausdrücklich von dem guten König die Rede
ist. Es scheint daher, dafs § 118 nicht zu der in § 104 — 107 erhal-
tenen , sondern zu einer formell abweichenden Fassung dieses rortog
gehörte. Man kann sich leicht eine kürzere Fassung desselben vor-
stellen, in der die Freunde nur mit den Augen, nicht auch mit Ohren
und Zunge in Verbindung gebracht wurden. Einen solchen Abschnitt
würde § 118 passend abschliefsen. Unter dieser Voraussetzung könnte
man die Stellung des Satzes nach Analogie des oben über § 85 ge-
sagten erklären.
Durch unsere Ergebnisse inbetrefT des Oberheferungszustandes der
dritten Rede wird auch ihre ästhetische Beurteilung beeinflufst. Der
Dios letzte Lebensperiode. 481
Eindruck des Mafs- und Formloseo, den sie in der überlieferten Gestalt
hervorruft, beruht wenigstens zum Teil auf der durch Vereinigung ab-
weichender Redactionen bewirkten Erweiterung. Die Proportionen der
Teile unter einander und zum Ganzen sind dadurch verschoben. Es
ist eine ganz unmögliche Coniposition herausgekommen, die von Dios
wohlbekannter Weise absticht. Aber auch hiervon abgesehen steht die
Rede nicht auf der Hohe der drei andern KOnigsreden, geschweige denn
der eigentlichen Meisterwerke Dios, der Olympica, der Alexandrina, der
tarsischen Reden. Jeder einzelne Teil der dritten Rede leidet an Ober-
ladung: der Preis der Eudämonie Trajans im Prooemium, der Abschnitt
71€qI xokaxelag, der 7t€Ql (piXonovLag^ der neQi (piXlag. Charakte-
ristisch für die Schwülstigkeit des Stils sind namentlich die vielgliedrigen
Reihen in Inhalt und Form paralleler Sätze oder Satzglieder, eine Manier,
die auch sonst von Dio verwendet, hier aber ins Extrem getrieben wird.
Z. B. in der Periode, die § 4 und 5 füllt^ sind zunächst von (^ yag
i^ov drei Infinitive abhängig: QTtdvrwv fikv anolavecv twv fiöiwv,
fiTjöevog dk neiQciaO'ai tcJv inmovwv, ^a&vfxovrta öh dg olov %b
ßioxeveiv und der gleich darauf folgende Temporalsatz (orav ^/ etc.)
hat gar sieben Prädicate, von denen jedes mit seinem Zubehör ungeHlhr
eine Druckzeile füllt und deren Parallelismus durch Gleichheit der Wort-
stellung und Gliederung stark ins Ohr iA\i:
vofiifitireQog fihv doiaOTr^g — icJv xora xkrJQOv öixa^vTiov
ircieLxioTeQog ök ßaatkeig — Tuiv vnev-d'ivuiv Iv xäig noXeoi
aQxovTiüv
dvxaiotEQog 61 OTQarrjyog — tc5v inofiivwv axQatiunwv
q)ii.onov(üj€Qog ök iv Qfcaot zolg egyoig — tcJv V7t^ avayxiqg
TtOVOVVtUiV
ekatTOV Ö€ ßovlofieyog iQvcpäv — TÜy /drjöe^iag evTtoQOvvrwv
T(}vq>ijg
euvovOTCQog ök %oig mcqxooig — tcJv q>iix)Tixvwv TtaxiQuv
q)o߀QOJT€Qog ök toig icoke^ioig — tcJv avtxrittjv xat afxaxfj^v
Auch in den folgenden Paragraphen wird dasselbe Kunstmittel immer
wieder bis zum Oberdrufs angewandt So finden wir § 10, 11, um an-
deres zu übergehen, eine Reihe von fünf directen Fragen, die alle mit
dem Pronomen %lg beginnen und überhaupt in Wortstellung und Glie-
derung möglichst parallel gebaut sind. Auch in den übrigen Teilen
der Rede wird besonders häufig der Parallelismus der Kola durch Ana-
phora hervorgehoben; z. B. in dem Abschnitt neql q>iXo7tovlag
432 Fünftes Kapitel.
§ 56 i^TLiOia fikv TcvßeQvrjtrjg ax^^a^elrj TOig kv -^aXarzfi novoig
T^xiara Ö€ yeiagyog %oig ne^l yetJQylav ^yoig
i]KiaTa dk xvvrjyiTTjg olg dei d^qQwvxa xifjLveiv
Kalroi aq>6dQa fikv Inlnovov yewQyla, aq)6ÖQa ök xvvrjyeala.
§64 T(^ xvßeQvrjrt] ök avayxrj f^hv oqSv ngog to TtiXayog
avdyxrj di anoßkineiv elg tov ovqavov
avayytrj ök Ttgoaxonely r^y yijv,
§ 66 TCt)v fikv OTQajiwTwv hiaoTog avttp ii6v(p kTttfieXelTai tuxI
OTtXoiv xai tQoq>^g
^ovrjg di g)QoyTl^ei Ttjg
vyulag rijg ictvtov
^ovijg öi T'^g aanrjQlag,
§67 r<jJ CTQaTtjycp dh %Qyov la%\v anavTag fikv witXlo&ai xalaig
STtavTag di evnoQBlv oxiTvrjg.
§68 ij ipvxfj di VTtBQ ixelvov naaag ^iv (pQOvvldag q>Qovtlt,ei
Ttaaag öi hmvolag oxUXu,
§69 xai TtoXXa rtioxei ^vofiivt] fxlv In vooiov to ow^a
^vo/divTj di ix ftoXijxuv
QvofievT] di Ix xeiioxivog
Qvofiivr] di Ix &aXaaarig,
§70 xai an € IQ OL fxiv wg to noXv x^^f^^^^^^^ diareXovoiv
a 7t € IQ OL di TtoXi^vjv
ancLQOL di XLvdvvwv.
§71 TOlg di avdQaOL fCQoarjxeL fxiv OTQareveod'aL
TtQoorixeL di vamLXlag,
§74 av^ovra di xal TQiq)Ov%a navTa ^iv %a fcJcr
Ttivxa di ta (pv%a.
§75 ovdiv xaiXveL Jtavxa (xiv ovQavov
Ttäaav di yijv
Ttaoav di O^aXatray 0LX€a&aL
TtavTa di %ov%ov — %6v xoa/xov — axoofilav
q)av^vaL,
§77 deiTOL f^iv aXiag ij yfj ajore yevv^aoL %a q>v6^eva
xal wäre av^rjaoL
xal lüOte luLTeXioaL
deliaL di va ^(ßa xal aunrjQlag evexa rwv aio^dvwv
xal '^dovfjg Ttjg xata cpvöLV
deo/xe-^a di navtiov ^aXioza rj^eig —
Dios letzte Lebeosperiode. 438
&iQog iTtolrjaev — iVcr navTa fihv qnfOtj
navta ök ^Qiif^r]
ndvra ök Tsi^itiar].
§78 deirai fikv yaq vTtb rov tpvxovg ra atifictra avvlaTaa9ai
öelrai 6i Tti/Hvciaetag tcc tpvxa
deiTai öi ofißgwv ^ y^.
Ich habe die ganze Reihe der Beispiele ausgeschrieben, weil so am
besten veranschaulicht wird, mit welcher Haofigkeit diese mifsbräuch-
liehe Verwendung der Anaphora auf kurzem Baume wiederkehrt Sie
ist hier so häußg, dafs sie dem ganzen Stil das Gepräge giebt. Der
Redner benutzt sie, um bei dürftigem Gedankeninhalt den Eindruck
der Fülle und des Reichtums und zugleich eine Klangwirkung hervor-
zurufen, die der des Reims in der modernen Poesie vergleichb^ ist.
Vielgliedrige Reiben paralleler Kola erwecken in dem Hörer das Gefühl,
als ob der Redner aus dem Vollen schöpfte und die Gedanken mit ver-
schwenderischer Hand ausstreute. Sie sind geeignet dem Hörer zu im-
poniren, der sich dem Eindruck des Augenblicks hingiebt, während der
Leser, der zu zergliedernder Kritik Zeit findet, bald bemerken wird,
dafs dieser Reichtum nur Schein ist, und auf einer hohlen und ver-
werflichen Manier beruht, einfache Gedanken zu prächtigen, volltönen-
den Perioden anzuschwellen. Mit Mafs angewandt und auf die Höhe-
punkte der Darstellung beschränkt, wo das lebhaft erregte Gefühl des
Redners einen begeisterten Ton rechtfertigt, ist dieser Stil allenfalls zu
entschuldigen. Durch so grofse Strecken, wie in der dritten Rede,
fortgesetzt — denn auch die Verherrlichung der (ptlla ist mit demselben
Gewürz überreichlich gewürzt — wirkt er abstofsend. Der fromme
Prediger hat hier die vielgeschmähten Sophisten an hohlem Wortpomp
überboten und eine durchaus sophistische Sprache geredet. Nicht allein
die äufsere Form, sondern auch die Gedankenfolge der Rede ist von
dem Streben nach Ampliücation beherrscht. Der Satz oti xb aq%eiv
ovött/iicjg ^^^vfiov aJiV Inhtovov wird durch fünf Beispiele belegt und
jedes einzelne dieser Beispiele mit rhetorischer Breite ausgeführt. Uno
den unvergleichlichen Wert der Freundschaft darzutbun, vergleicht sie
der Redner mit zahllosen anderen Werten, um immer wieder zu dem
Ergebnis zu kommen, dafs ihr der Vorzug gebohrt. In beiden Fällen
ist er von dem Vorwurf der Oberladung nicht freizusprechen. Dazu
kommt endlich noch die SpKzflndigkeit der Enthymeme, besonders in
den Abschnitten tibqI ytokcmelag und rteifl q>iXlag^ die an Erzeughisse
der sophistischen Periode wie die RJhodiaca erinnert. Alle die^e Eigeo-
▼. Arnim, Dio. 28
434 Fünftes Kapitel.
tümlichkeiten zusammengeoommen niacbeD die dritte Rede zu dem uner-
freulichsten Werk der diooischen SchriftensamniluDg, das ich geradezu
seines Verfassers unwürdig nennen möchte. Natürlich begegnen uns
dieselben stilistischen Mittel auch in andern Reden, aber nirgends über-
wuchern sie so das ganze Werk und nirgends entarten sie wie hier zu
leerem Wortgeklingel. In der ersten Rede vom Königtum, die über-
haupt der dritten, wie wir gesehen haben, inhaltlich nahe steht, finden
sich in § 17. 31. 34 — 35 ähnliche Anhäufungen rhetorischer Fragen,
wie in der dritten Rede, desgleichen am Schlufs von or. 41 (rtQog
uinafÄElg 7i€Qi ofiovoiag), und noch stärkeren Gebrauch macht von
dieser Form der Declaniation or. 39 {h Niycal(jc Ttercav^ivrig jrjg azd-
oewg). An der letztgenannten Stelle hat man auch schon den Eindruck
des überladenen. Aber da mag es Diu zur Entschuldigung gereichen,
dafs er krank und daher zu einer gröfseren rednerischen Leistung un-
fähig "war. Durch Wärme des Gefühls will er ersetzen, was ihm durch
seinen Gesundheitszustand an echter rednerischer Kraft abgeht. Auch
macht der Abschnitt der 39. Rede mehr den Eindruck eines aus auf-
richtigem Wohlmeinen und warmer Empfindung quellenden Ergusses.
Er hat Beziehung zu einer actuellen Wirklichkeit, die eine Aufwallung
des Gefühls rechtfertigen kann, während in der dritten Rede kein An-
lafs zu solcher Erhitzung vorliegt, sondern alles blofse Epideixis ist
Durchaus verschieden ist der epideiktische Stil der dritten Rede von dem
der zweiten und vierten und überhaupt von allen Reden der spätesten
Epoche: der Olympica, dem Euboicus, der Alexandrina, den tarsischen
Reden. In allen diesen Reden wahrt Dio die Rolle des Lehrers und
Philosophen. Die Rhetorik, deren er sich bedient, ist des philosophischen
Inhalts nicht unwürdig. In der dritten Rede scheint er in den Stil
seiner sophistischen Jugendreden zurückzufallen, von denen Synesius
sagt (Vol. U p. 317 meiner Ausg.): h helvaig fiiv yaQ vTcrid^ei xal
wQaL^€Tai, xa&aTveQ 6 %awg neQia^Qwv avTov xai olov yavvf4€vog
kill Talg aylataig tov koyov, Sre nqog tv tovco oqwv xal ziXog
%rjv €v(p(JtJvlav fid-ifievog — xav yaQ aTtOTtQoanoLrJTai , ftavv %ov
d'cdzQov ylyvetat.
Diese Stilverschiedenheit der dritten Königsrede von der zweiten
und vierten, die zeitlich gewifs nicht weit von ihr abliegen, ist sehr
merkwürdig. Man würdig annehmen, dafs Dio, als er zu einer epideik-
tischen Wirksamkeit grofsen Stils zurückgekehrt war, erst allmählich den
hierfür angemessenen Stil sich ausbildete und würde die dritte Rede als
eine mifslungene Studie ansehen, wenn nicht der Überlieferungszustand
Dios letzte I/ebensperiode. 435
gerade sie ak eio häufig wiederholtes Paradestttck erwiese und wenn
nicht die Priorität der Borysthenitica sicher, die der vierten Königsrede
wahrscheinlich wäre. Auch ist der Stil der Bruchstücke in or. 62, so-
weit sie umfönglich genug sind, um ein Urteil zu gestatten, ganz der-
selbe, sodafs die Eiistenz mehrerer KOnigsreden dieser Gattung feststeht.
Es ist unsere nächste Aufgabe, die bisher nur hypothetisch ange-
nommene Zuweisung des Euboicus, der Alexandrina, der tarsischen Reden
an die letzte Epoche von Dios Leben näher zu begründen. Es wird
dabei die Beobachtung der in den einzelnen Reden enthaltenen dürftigen
Zeitindicien , wie in unseren früheren chronologischen Untersuchungen,
ergänzt werden müssen durch den Nachweis der inhaltlichen und stili-
stischen Zusammengehörigkeit dieser Reden unter sich und mit der
Olyropica. Denn für diese ist nachgewiesen, dafs sie dem Jahre 105
angehört.
Deutliche Zeichen ihrer Entstehungszeit enthält die alexandrinische
Rede in den mehrfachen Anspielungen auf den regierenden Kaiser, die
nur auf Trajan gedeutet werden können: § 60 ^ ßovlea&e, iTteiöf}
Tolg ßaOiXevOi Tovg dtjinovg xayw naqißakov y NiQwvt q)alv€Gd'ai
TTjv avTTjv exovzeg voaoy; alV ovd' kneivov üjvtjoev 17 klav kfineigia
7C€Qi TOVTO xal anovd'q. xal noatp ngeiiiov fufieiad-at rbv vvv aQ-
Xovza TtatdeLf^ xal loyip nQoaixovra; Die Gegenüberstellung Neros
beweist, dafs mit dem vvv aQxcDV der regierende römische Kaiser ge-
meint ist. Ihn stellt Dio den Alexandrinern als Muster vor. Da er
schon an einer früheren Stelle der Rede, auf die das Citat in § 60 zu-
rückweist, die guten Demoi mit Königen, die schlechten mit Tyrannen
verglichen hat (§25 ff.), so hegt in unserer Stelle die Anerkennung,
dafs der jetzt regierende Kaiser ßaaUevg nicht nur im gewöhnhchen,
sondern auch im dionischen Sinne ist. Als solchen hatte Dio in
den Reden „vom Königtum'' Trajan gefeiert. Schon die Art, wie in
§ 25 ff. die ßaaiXelg und die ivgowoi charakterisirt werden , beweist
streng genommen, dafs unsere Rede nach den Königsreden gehalten ist.
Denn die Ausdrücke enthalten Reminiscenzen an jene. Erst als er
unter Trajan Fürsprecher der aufgeklärten Monarchie wurde, hat Dio
den Gegensatz von ßaatlela und jvgavvlg in dieser Form ausgebildet
und zu einem Hauptmotiv seiner Reden gemacht. Ohne besonderen
Nachweis können wir, auf Grund früher gewonnener Ergebnisse be-
haupten, dafs die Rede nicht vor der Verbannung entstanden sein, also
mit dem guten Herrscher nicht Vespasian oder Titus gemeint sein kann.
Denn nach § 22 trägt der Redner der Alexandrina das rgißtiviov und
28*
486 Fünftes Kapitel.
rechnet sich zu den Philosophen. Da Domitian natürlich ausgeschlossen
ist, hieiben nur Nerva und Trajan. Aber auch in die Regierung Nenras
kann die Rede nicht Tallen, da während dieser Dio in Prusa weilte und
durch Krankheit selbst an der dringend notwendigen Gesandtschaltsreise
nach Rom gehindert wurde. Es ist also unmöglich die Reise nach
Alexandreia in diese Zeit zu verlegen. Auf Trajan weist auch die
Charakteristik des Kaisers in § 60: naideLq %aX loyco ft^oai%ov%a.
Dieses Compliment, das auf den ersten Blick für den litterarischen Dingen
fernstehenden Trajan wenig zutreffend scheint, ist eine Quittung Dies
für die ihm, dem Philosophen, er?riesene Auszeichnung und Aufmerk-
samkeit. Denn naideia steht hier im Sinne ethischer Bildung, wie oft
bei Dio (z. B. or. 4 § 29 fr., or. 1 § 61), und Xoyog ist der q>iX6üO(pog
Xoyog. Durch die ganze Rede geht ja der Vorwurf hindurch, dafs die
Alexandriner für Augenlust und Ohrenlust empfänglich sind, nicht aber
für die Ermahnungen des Philosophen. In dieser Hinsicht wird ihnen
Trajan als Muster vorgehalten. Vespasian ist, aufser allem übrigen, auch
dadurch ausgeschlossen, dafs er bei den Alexandrinern besonders un-
beliebt war (Suet. Vesp. 19), während der , jetzt regierende Kaiser^S wi«
namentlich die zweite Stelle in § 95 beweist, sich durch besondere
Gnadenbeweise bei den Alexandrinern behebt gemacht hatte: Ttqog %ov
^diog ovx oQare oariv 6 avtoxQarwq ifidSv neTcolrjrai vijg noi^atg
ifcifiikeiav ; ovxovv xqtj y^al vfiäg avtiq^iloTifieia^ai xal Trjv TtcctQlda
xgeltTiü Ttoulv, fia JC ov ngtjvaig ovdk TtQonvXaloig' (ßls) '^otvva
fxhv yag ov dvvaad-e vfXBvg avaXlaxeiv ovö^ av vnegßakota&i rcore
olfiai Trjv ixelyov fieyakoifjvxlav * aXV €VTa^l(f, %6afi(fi, T(p deixvvBip
v^ag avTovQ aticpQovotq tlcu ßeßalovg' oiirwg yag av ow' ifil rolg
yeyovoai /Äeravorjaeu Ttai nXeLova vfiag ayad-a igyaaesai^ xai Xatag
av avTifß xal rrjg ivS-dde aq)l^€wg Ttagdaxotze no&ov ' ov ydg ovTtag
ro üdklog %(üv oixodoiHTjiAaTwv fcgoodyeiv avTov divarai' 7tav%a
ydg xgelTTw xcri TiokvTekeoTega ^€£ twv onov di^nore* dXk oxav
dxovoj] vovg VTcode^ofiivovg av%6v evvolag xal ftlavewg d^lovg xai
%wv Ttefinofiivwv enaötog ytal öioikovvtvjv vfidg TtgoTifitjarj. Was
unter der gleich anfangs erwähnten inifiiXeia zu verstehen ist, lehrt
das Folgende. Es handelt sich um einen kürzlich der Stadt zuteil ge-
wordenen greifbaren Beweis der kaiserlichen Fürsorge, der nur in der
Bewilligung eines bedeutenden Zuschusses für städtische Zwecke aus
dem kaiseriichen Aerar bestanden haben kann. Dafs dieser Zuschufs
für Bewässerungsanlagen und andere Bauten {ngonikaia) gewährt wurde,
scheint aus der Bemerkung hervorzugehen, die Alexandriner sollten ihre
Dios letzte Lebensperiode. 487
q>iXotifila lieber auf einem andern Gebiete bethätigen, da sie auf diesem
die grofsartige Freigebigkeit des Kaisers doch nicht überbieten könnten.
Wenn die Alexandriner sich künftig als loyale, ordnungsliebende Unter-
thanen beweisen, so wird der Kaiser nicht bereuen, was er für sie ge-
than hat, und noch mehr für sie thun. Ja, vielleicht wird er sogar zu
einem Besuch in Alexandreia sich entschliefsen.
Dio setzt also voraus, dafs den Alexandrinern ein kaiserlicher Be-
such sehr erwünscht sein würde, und giebt ihnen an, was sie thun
können, um diesen Wunsch der Erfüllung näher zu bringen. Nur sehr
selten haben sich die römischen Kaiser entschlossen, Alexandreia zu
besuchen. Unsere Stelle lehrt, wie ich glaube, dafs Trajan den Ge-
danken eines Besuchs in Alexandreia in Erwägung gezogen hat. Schwer-
lich würde Dio den Besuch des Kaisers auch nur in dieser bedingten
Form angekündigt haben, wenn er nicht dazu autorisirt gewesen wäre.
Als eine wenn nicht ofQcielle, so doch of&ciöse Ankündigung mufsten
die Worte jedem erscheinen, dem das Verhältnis Dios zu Trajan bekannt
war. Oberhaupt macht der ganze Abschnitt den Eindruck einer offl-
ciösen Kundgebung. Dio hätte einerseits gar keine Veranlassung gehabt,
den Kaiser ins Spiel zu ziehen und das Interesse der kaiserlichen Re-
gierung zu vertreten, und andererseits hätten solche Äufserungen, wie
die in Rede stehenden, keinen Eindruck auf die Zuhörer gemacht, wenn
nicht schon damals Dio als Vertrauter des Kaisers gegolten hätte. Durch
sein Verhältnis zum Kaiser fühlte sich Dio moralisch verpflichtet, mit
den ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu Gunsten der Reichsregierung
zu wirken, und dafs dieses Verhältnis bekannt war, gab seinen Worten
Gewicht und veranlafste den zuchtlosen alexandrinischen Demos, die
Strafpredigt geduldiger, als es sonst seine Art war, anzuhören. — Um
diese Seite der alexandrinischen Rede ganz zu würdigen, mufs man die
andere Stelle mit heranziehen, die sich zu der eben besprochenen ver-
hält wie zum Zuckerbrot die Peitsche. In § 71. 72 erinnert Dio die
Alexandriner an einen kürzUch stattgehabten Strafsentumult, der mit
Blutvergiefeen geendet hatte (itog iyevaaaS'e noXi^ov xorl lo detvov
OL%Qi 7C€lQag TtQ&ql&ev), Er deutet an, dafs solche schwere und ver-
hängnisvolle Ausschreitungen mit den scheinbar harmlosen in Theater
und Cirkus, die das Thema der Rede bilden, nicht ohne Zusammenhang
sind. Er giebt seiner Predigt Nachdruck, iiylem er auf die unange-
nehmen Folgen hinweist, die erst kürzlich die Zuchtlosigkeit des Pöbels
der Stadt eingetragen hatte. Trotz der besten Absicht, den Aufruhr
friedlich und ohne Blutvergiefsen zu beenden, hatte der Commandant
438 Ffinfles Kapitel.
der römischen Truppen schliefslich doch nicht umhin gekonnt, auf die
bethörte wehrlose Menge einhauen zu lassen; und die Folgen dieser
Ereignisse dauerten noch fort. Um der Wiederkehr ähnlicher Vorgänge
vorzubeugen, hatte der Präfect umfassende Vorsichtsmafsregeln getroffen :
kTtifieXeOTigag x^^yat q)vXaKfjg (^T^d^tjOav rj fCQOjeQOv. Man kann
dies wohl nur in dem Sii\ne verstehen, dafs die römische Legion, die
ihr Standquartier sonst in der Nähe von Alexandreia aufserhalb der Stadt
hatte, ganz oder teilweise in die Stadt selbst verlegt wurde. Für diese
Auffassung spricht namentlich auch § 51. Wenn es da heifst: Gott hat
euch Zucbtmeister gesetzt, die verständiger sind, als ihr: fieS^ wv xa)
d-Biageite xai taXXa afxeivov TtQaTTere, so beweisen diese Worte
zweifellos die Anwesenheit eines römischen Detachements im Theater.
Denn nur die Römer, nicht etwa städtische Polizeitruppen konnten in
dieser Weise der Gesamtheit des alexandrinischen Volkes als Zuchtmeister
und Vertreter gesunder Vernunft gegenübergestellt werden. — Also auch
hier giebt sich der Volkserzieher Dio als Helfer und Förderer des Er-
ziebungswerks der römischen Regierung^ an deren Strafen er warnend
erinnert, wie er an anderer Stelle ihre Fürsorge rühmt und ihre Be-
lohnungen in Aussicht stellt. Es ist einleuchtend, dafs diese Seite der
alexandrinischen Rede einen Schlufs auf die Entstehungszeit erlaubt.
Erst nachdem der Redner zum Kaiser in nahe persönliche Beziehungen
getreten war, wird seine Thätigkeit als Volkserzieher diese gouvernemen-
tale Richtung eingeschlagen haben, d. h. nach seinem zweiten römischen
Aufenthalt, nach dem Jahre 105.
Nachdem die olympische und alexandrinische Rede als Werke der
letzten Periode erwiesen sind, soll für die übrigen Städtereden ein-
schliefslich des Euboicus zunächst die inhaltliche und stilistische Zu-
sammengehörigkeit mit diesen Werken dargethan werden.
Gemeinsam ist der olympischen, alexandrinischen, ersten tarsischen
und der Rede in Kelainai, ^ie alle zur Gattung der öiaXi^eig gehören,
die ziemlich ausführliche, auf die Persönlichkeit des Redners und sein
Verhältnis zum Publicum bezügliche Einleitung: Olympica § 1 — 20,
Alexandrina § 1 — 29, Tarsica prior § 1 — 16, Celaenis habita § 1 — 10.
Die zweite tarsische Rede, die einer andern Redegattung angehört, mufs
hier vorläufig beiseite gelassen werden. Die genannten Einleitungen
sind alle selbständige, eigene Themata behandelnde Reden, sogenannte
TtQokalial^ wie sie uns aus del* lukianischen Sammlung als sophistischem
Brauch entsprechend geläufig sind. Aber während die lukianischen tvqo-
kahal streng einheitlich sind, ist für die dionischen Berührung einer
Dios letzte Lebensperiode. 439
Mehrheit von Gegenständen charakteristisch. Ehe der Redner zu dem
Hauptthema seines Vortrags gelangt, überläfst er sich anscheinend eine
Zeit lang seiner subjectiven, durch keine Disposition geregelten Ge-
dankenrolge. Dieses nkavaad-at kv roZg Xoyotg (Olymp. § 16) wird
von Dio mehrfach als bezeichnendes Merkmal seiner philosophischen
Dialexeis hervorgehoben und der straffen Disposition schulgerechter rhe-
torischer Leistungen gegenübergestellt. Es ist nicht auf die nqoXaXiaL
beschränkt, wenn es auch in ihnen am häufigsten sich findet. Am aus-
führlichsten spricht sich Dio im Euboicus über diese Eigentümlichkeit
seines Redestils aus. In § 102 rechtfertigt er seine ausführliche Be-
kämpfung einiger Dichterstellen. Kleanthes hatte über dieselben Stellen
in demselben Sinne gehandelt: ov firjv^ waneg viv rjf^elg dia fiaxgcSv^
are ov naQoxQ^f^^ (^^ ^^^® '^^^ geschrieben statt des überlieferten
TCQog ro XQW^) >tofTa tcoXX^v i^ovalav öie^icivj akV iv ßlßXoig
yQaqiwv. Die schriftstellerische Darstellung ist also nach Dios Auffassung
an die Gesetze der Symmetrie gebunden. Sie will ein Ganzes bieten.
Daher mufs sie die richtigen Proportionen der Teile unter sich und
zum Ganzen einhalten. Die von ihm gepflegte Gattung popularphilo-
sophischer Vorträge ist in dieser Hinsicht ganz frei und ungebunden.
In § 124 (f. kommt der Redner noch einmal auf diesen didaktischen
Gesichtspunkt zurück. Sein eigentliches Thema im Euboicus ist die
Frage nach der Bedeutung von Armut und Reichtum für die Gestaltung
eines menschenwürdigen Daseins. Die hiermit zusammenhängende Unter-
suchung über die einzelnen Erwerbszweige hat er ausführlicher behan-
delt, als es das Hauptthema erforderte. Er rechtfertigt seine Abschweifung
(IxTQOTtal rov Xoyov) damit, dafs diese Untersuchung auch an sich
nützlich und belehrend sei: el di noXXa tcSv elgrjiniviüv xad-oXov
XQT^Oijua iari nqbg noXtieiav xai r^v rov nQoarJKOvrog aigeaiv,
TavTf] xal dixaioTSQOv avyyvwiiirjv ^eiv rov fii^xovg tcJv Xoywv,
ozi ov (larrfv aXXwg ovök negl axQriaxa nXavtüfiivq) nXeioveg
yeyovaaLv, — xqii ovv rag iyronag %(3v Xoywy, av xal atpoÖQa
fiaxQol doxwGi, firj /livroi tcbqI ys q)avXo)v firjdk ava^lwv fÄTjöh ov
nqoOYixovTwVy /irj dvaxoXcog (piQSiv^ wg ovx avTTjv XiTCovrog vfv xtSv
SXvjv vnod-eoiv rov Xiyovrog^ ^wg av ftegl tcJv avayxalwv xal
TVQoarjxovrwv (piXoaog)lf die^it]. Und dann vergleicht er sein Ver-
fahren mit dem eines Jägers, der, wenn er, der Spur eines Wildes fol-
gend, unterwegs auf eine andere deutlichere Spur stufst, zunächst dieser
folgt, um, wenn er das später aufgespürte Wild erlegt hat, zu der ersten
Spur zurückzukehren. Wenn Plato in der Politeia, um den Begriff der
440 Fanftes Kapitel.
Gerechtigkeit klar zu stellen, zu einer Darstellung der Staatsverfassungeo
abschweift und diesen Gegenstand mit der grOfsten Ausführlichkeit bis
in alle Einzelheiten behandelt, so verdient er wegen dieser Abschweifung
keinen Tadel, vorausgesetzt, dafs wirklich durcb sie für die Losung des
anfönglichen Problems etwas gewonnen wird. — Auch in den Anfangs-
worten des Euboicus wird das Abschweifen vom Thema als Gepflogep*
heit des greisen Redners hingestellt: Xacjg yaq av (wvov TtQsaßvTixov
nohjXoyia xal xb firidiva diw&eta&ai ^(fdliog tcjv Ififti-
nrovtwv Xoyoßv, ngog öh t^ nQ€oßvjix(ß tvxov av eXrj xai
akrjiiTidv. Wahrend an der vorher besprochenen Stelle § 128 die be-
rechtigten Abschweifungen auf ngoci^ycovreg Xoyot beschränkt werden,
d. h. auf solche Dinge, die mit dem Thema in einem inneren Zusam-
menhang stehen (eine Beschränkung, die freilich z. T. wieder aufgehoben
wird durch die Worte: ^cog av negl TtQoarjxovxcav (piXoaoq>L(f die^ir^)^
fordert hier der Redner schlankweg Anerkennung seiner Gewohnheit,
den ifUTtlTtJovreg Xoyot zu folgen. Jene Stelle giebt eine ernstgemeinte
Erklärung des Redners über sein didaktisches Verfahren, diese eine
ironische Einkleidung desselben Gedankens. Nicht aus greisenhafter
Geschwätzigkeit und Gewohnheit des Vagabundirens ist Dio unfähig, bei
der Stange zu bleiben, sondern das nkaväad-ai h toig koyoig ist die
aus den Bedingungen seiner Lehrthäligkeit mit Notwendigkeit erwacb-
sene, ihm und seinen Zuhörern angemessenste Form philosophischer
Vorträge. In der Philosophie hängen alle einzelnen Lehren unter ein-
ander zusammen. W^enn der Lehrer, um diese Zusammenhänge darzAi-
legen, nicht geradlinig in seiner Darstellung vorwärtsstrebt, sondern
nach rechts und links vom geraden Wege abbiegend die angrenzenden
Gedankengebiete berührt, so verfährt er nur, wie es sein Gegenstand
erfordert. Der Zweck des popularphilosophischen Predigers ist ja in
erster Linie nicht, eine einzelne Frage zu beantworten, einen einzelnen
Lehrsatz zu beweisen, sondern auf die ganze Gesinnung der Hörer ein-
zuwirken. Er wird praktisch mehr wirken, wenn er viele Fragen be-
rührt, reiche, mannichfaltige Anregungen ausstreut. W'er vieles bringt,
wird manchem etwas bringen. Nicht nur dem Gegenstand, sondern
auch dem Publicum ist diese Bebandlungsweise angemessen. Das Pu-
blicum solcher Vorträge ist sehr verschieden von der angemeldeten,
Honorar zahlenden Zuhörerschaft eines schulmäfsigen Cursus. Es setzt
sich hauptsächlich aus solchen Leuten zusammen, die zu einer syste-
matischen Beschäftigung mit der Wissenschaft weder in ihrer Jugend
Gelegenheit gefunden noch jetzt Mufse haben. An der Philosophie inter-
Dios letzte Lebensperiode. 441
essirt sie weniger die theoretische als die praktische Seite. Weno sie
zwischen ihren Berufsgeschflflen kurze Zeit erübrigen können, um einen
Vortrag zu besuchen, so erwarten sie nicht eine erschöpfende, in strenger
Beweisführung sich bewegende Behandlung der Probleme, die ihnen an-
strengende Denkthätigkeit zumuten würde; sie wollen Belehrung in an-
mutiger Form. Auch soll der Gegenstand des Vortrags nicht zu speciell
sein. Wenn der Vortragende eine Menge allgemein-interessanter Fragen
streift, so ist ihnen mehr damit gedient, als wenn er eine gründlich
und methodisch behandelt. — Es ist aber auch drittens das Ttkaväa&ai
iv Tolg koyoig dem Redner selbst und der Art seiner Ausbildung höchst
angemessen. Von jeher gewöhnt aus dem Stegreif zu reden, schöpft
er frei aus seinem philosophischen Gedankenvorrat, was ihm der Augen-
blick zu erfordern scheint. Er verweilt bei einem Gegenstande, solange
die Quelle in seinem Innern fliefst, und geht zu einem andern über,
wenn ihn der spontane Verlauf seiner Vorstellungen dazu führt. Es ist
klar, dafs das nXayäo^ai h koyoig die dem Stegreifredner angemessene
Form ist. Was man an den Stegreifrednern vor allem bewunderte, war die
e^ig^ die sie in ihrem Stoffgebiet sich angeeignet hatten. Die schwerste
Probe der ^^ig ist das Reden über ein aus dem Publicum gestelltes
Thema. Aber auch das nlavaa&at iv Xoyoig kann als Beweis der
e^ig gelten. Es setzt eine grofse Herrschaft über den bereitliegenden
GedankenstofT voraus. Für den Mangel eindringender Gründlichkeit wird
der Hörer derartiger Reden durch ihre Frische und Unmittelbarkeit eht-
schädigty indem der Redner nur seinen spontanen Gedankenverlauf zu
geben und alles aus der lebendigen Persönlichkeit zu quellen scheint. —
Aufser den erwähnten Stellen des Euboicus ist besonders Olymp. § 38
zu beachten, wo Dio wieder eine Abschweifung, die er sich gestattet
hat, mit den Worten entschuldigt: %avTa ixev ovv ine^X^ev 6 Xoyog
xad- avTov ixßdg' %vx6v yoQ ov ^tjfdiov %6v tov (ptXoaocpov vovv
xai "koyov iftiax^lv, ^v&a av OQfn^ar], tov ^vvavTWVTog aei rpaivo-
fihov ^v/iiq)iQovTog xai avayxalov %olg axQOWf.iivoig, ov fieXetrj^ivja
TtQog vdcjQ xal dixavixrjv dvdyxrjv, wa/csQ ovv etpr] rig, dkkd fieta
noXk^g i^ovalag xai aöeiag. Es ist in diesen Worten erstens die
der Philosophie eigentümliche innere Verknüpfung aller Gegenstände
hervorgehoben, die es unmöglich macht, den Gedanken streng bei einem
Gegenstande festzuhalten und ihm Halt zu gebieten, wenn er vom ge-
raden Wege abbiegt, zweitens der Nutzen der Zuhörer, die bei den
Abschweifungen doch immer nur nützliches und notwendiges zu hören
bekommen, und drittens, dafs der Philosoph nicht an ein bestimmtes
442 FQnftes Kapitel.
Zeitmafs gebunden ist, also die Notwendigkeit, in gegebener Zeit einen
bestimmten Gegenstand zu erledigen, dieser wichtigste Grund Abschwei-
fungen zu meiden, für ihn nicht besteht. Die Folge des Abschweifens
könnte sein, dafs die anfänglich aufgeworfene Frage garnicht beant-
wortet würde, weil keine Zeit mehr für sie bliebe. Aber auch das
würde nichts schaden, da ja der Inhalt der Abschweifungen für den
Hörer nicht minder nützlich war, als die Beantwortung der anfänglichen
Frage. Eine andere Folge der Abschweifungen kann übermäfsige Aus-
dehnung des Vortrags sein, das firjycog twv koywv, das Dio im Enboicus
mit gutem Grund entschuldigen zu müssen glaubt. Bedenkt man, dafs
sowohl am Anfang als am Schlufs dieser Rede viel verloren gegangen
ist, so wächst sie allerdings über das Durchschnittsmafs dionischer Reden
weit hinaus. Vielleicht wurde in solchen Fällen der Vortrag auf zwei
aufeinanderfolgende Tage verteilt, wie es Aristides für die Rede inkg
Tüiv teTTccQwv vorschreibt. Bezeichnend für die Absicht, die dem
nlavao&at zugrunde liegt, ist es auch, wenn sich Dio gegen den
supponirten Vorwurf verteidigt, bisher (in der TCQolaha) den Zuhörern
nichts Substantielles geboten zu haben, und die behandelten xeqxiXaia
aufzählt: Alexandr. § 33 tloItoi xaxa (prioei rig wg TtokXa Xiytov
ovöhv v^iv Gv/dßeßovkevKa ovde eXgrjTta aa^wgj iq>^ (^ fiaXiara Im-
Ti-inüß' TOVTO öi iqyov elvai %ov diddaxovrog. iyw öh xal vvv fikv
fjyovjuai noXXa xal XQxiaifAa* slQTjudvai %olg nQoaixovöi notl negl
d-eov %a\ TteQL driiiov (pvaewg xai tibqX rov deiv axoveiv, xel ft^
neld^eo&e, koywv. Das schnelle Vorübergleiten der einzelnen Motive
ist zwar sehr unterhaltend, aber es erschwert die Übersicht und die
Erinnerung an das Gebotene. Darum hält es Dio für nötig, seinen
Hörern durch eine Recapitulation zum Bewufstsein zu bringen, wie viel
Beherzigenswertes er ihnen schon in der Einleitung geboten hat
Das nlavaa&ai iv koyoig ist eine gemeinsame Eigentümlichkeit
aller Reden, die wir zunächst für die letzte Periode in Anspruch nehmen,
nicht nur der Olympica und der Alexandrina, sondern auch des Euboicus,
der ersten tarsischen Rede, der Rede in Kelainai. Für den Euboicus
braucht dies nicht mehr besonders erwiesen zu werden, da ja gerade
in ihm die Theorie dieses Verfahrens entwickelt wird. Aber auch auf
die erste tarsische Rede, die nach einem langen, sehr verschiedene
Gegenstände berührenden Prooemium erst in der zweiten Hälfte zu ihrem
eigentlichen Hauptthema gelangt, pafst der Ausdruck Ttkaväad^at iv Xo-
yoig. Der Redner entwickelt seinen Gegensatz nicht nur zu den Rhe-
toren, die iyxoifxia rcSv TtoXeiov vortragen, sondern auch zu den
Bios letzte Lebensperiode. 448
philosophischen Epi(]ciktikeri\f Beiden stellt er den wahren Philosophen
gegenüber, der wie der Arzt Heilung, nicht Unterhaltung seiner Zuhörer
erstrebt. Er schildert sowohl die Gefahren als die hohe Würde dieses
Berufs und verweilt auch bei der subjectiven Qualification des Philo-
sophen; und nachdem dieser Teil beendet ist, der in die Erörterung
der Frage, was die Hörer von ihm zu erwarten haben, eine Reihe an
sich „nützlicher^ Erörterungen hineingezogen hat, kommt er immer
noch nicht auf das specielle Thema, sondern legt erst noch eine Be-
sprechung des vergleichsweisen Wertes materieller und moralischer Güter
ein. — Natürlich sind alle diese Momente kunstvoll zu einem einheit-
lichen Gedankengang verbunden; aber wer die Erklärungen Dios in der
Olympica und im Euboicus über nXavaa&ai und hcrgorval und die
Recapitulation in der Alexandrina § 33 kennt, wird nicht zweifeln, dafs
Dio auch hier stolz darauf war, eine ganze Reihe nützlicher 7t€g)aXaia
in natürlichem Gedankenflufs zu berühren. — Dasselbe Verfahren zeigt
auch das Prooemium der Rede in Kelainai. Zugrunde gelegt ist wieder
ein persönliches Thema; es soll bewiesen werden, dafs Dio nicht um
Lob zu ernten, sondern gerade um falsches Lob von sich abzuwehren
und den schädlichen Folgen unverdienten Ruhms zu entgehen, sich zum
Auftreten entschlossen hat. In diesen Gedankengang ist erstens eine
Declamation tccqi tov öxrifiotroq eingelegt, die sich mit der unter diesem
Namen gehenden or. 72 berührt, und zweitens eine Auseinandersetzung
über das Verhältnis des Sophisten zu seinem Publicum. Hauptthema der
Rede ist hier die in der Alexandrina und der ersten tarsischen Rede nur ge-
streifte Frage nach dem Wert der äufseren Güter und der materiellen Cultur.
Aber nicht nur diese Eigentümlichkeit der Gedankenfolge und An-
einanderreihung der Motive haben Euboicus, erste tarsische Rede, Rede
in Kelainai mit der Olympica und Alexandrina gemein, — was noch
keine ausreichende Grundlage für chronologische Schlüsse bieten würde —
sie zeigen auch in den Gedanken und Motiven selbst auffallende Ober-
einstimmungen.
Inhaltlich stimmen die vier Prooemien der Olympica, Alexandrina,
Tarsica I und der Rede in Kelainai darin überein, dafs sie alle das Ver-
hältnis des Redners zu seinem Publicum bezw. des Publicums zum Redner
behandeln und diese Erörterungen benutzen, um allerhand belehrendes
und beherzigenswertes einzuflechten. Aber die Alexandrina unterscheidet
sich in der Auffassung dieses Verhältnisses von den drei übrigen Reden.
In jenen setzt nämlich Dio voraus, dafs das Volk begierig ist, ihn zu
hören, und mit grofsen Erwartungen seinem Vortrag entgegensieht.
444 Fänftes Kapitel.
Diese hohe Meinung, diese Erwartungen lehnt er ab. Er giebt sich das
Ansehen, die Hörer abwehren zu wollen und nur halb widerwillig sich
zum Reden herbeizulassen. In der Alexandrina hingegen verfolgt die
Einleitung den Zweck, bei dem solche Darbietungen gering schätzenden
Publicum dem Redner Gehör zu verschaffen und eine Empf^ngUchkeit
für das mahnende Wort des Predigers erst zu erzeugen. Darum zielt
hier alles dai'auf ab, eine hohe Meinung und Erwartung in den Hörern
zu wecken. In den drei übrigen Prooemien ist das Motiv der Ableh-
nung der Erwartung in verschiedener Weise ausgestaltet. Die Einlei-
tungen der Olympica und der Rede in Kelainai stimmen darin überein,
dafs sich der Redner jede den Erwartungen der Hörer entsprechende
Weisheit abspricht. Wir können diese Ausgestaltung des Motivs als
7tQoa7toLriüig idiwtia^ov bezeichnen. In der ersten tarsischen Rede
hingegen wird zwar die Erwartung der Hörer, durch Dios Vortrag Ge-
nufs und Unterhaltung zu finden, aufs entschiedenste abgelehnt; aber
der Redner ist hier weit entfernt von der ironischen Rescbeidenheil
jener beiden andern Prooemien. Er tritt nicht als idivirrig, sondern
als (piXoaocpog auf und sucht den Hörern, wie in der Alexandrina^ von
der Nützlichkeit der beabsichtigten Strafpredigt im voraus die höchste
Meinung zu erwecken. Die beiden auf der ngoOTtolrjaig idiioria^ov
beruhenden Prooemien unterscheiden sich wieder darin, dafs in der
Rede in Kelainai Dio zu reden vorgiebt, um der Gberscbätzung seiner
Person zu steuern, während in der Olympica eine Motivirung, warum er,
obwohl iöiüJTTjgy doch redet, nicht versucht, sondern einfach dem
Drängen der Hörer nachgegeben wird: ei d^ vfilv doxiei vode Xowsbqov
xai ccfieivov, öqaoniov tovto xai 7tBiQa%iov onwg ay jj öwarov
fifilv. Allen vier Prooemien gemeinsam ist die Bezugnahme auf Dios
Verhältnis zu den Sophisten einerseits, zu den übrigen Philosophen
andererseits. Nur durch diese doppelte Vergleichung glaubt er den
Hörern seine eigene Berufsauffassung verdeutlichen zu können. In
der Olympica wird der Gegensatz der Philosophen und der Sophisten
durch Eule und Pfau bildlich veranschaulicht. Auch in § 13 stellt
sich Dio zu den Sophisten in Gegensatz. Wie die Eule selbst mit
den Vögeln, die sich um sie scharen, nichts anzufangen weifs, dem
Vogelsteller aber nützlich ist, der sie zum Vogelfang benutzt, so hat
auch Dio keinen Nutzen von den Hörern, die sich um ihn scharen,
da er die Lehrthätigkeit nicht als Gewinn bringendes Gewerbe treibt,
wohl aber könnte ihn ein Sophist benutzen, um durch ihn die Schüler
zu sammeln, und dann selbst auszubeuten. Es ist merkwürdig, setzt
Dio8 letzte Lebensperiode. 445
Dio scherzend hinzu, dafs noch keiner von ihnen mich dazu engagirt
hau Hier steht Sophist in dem weiteren Sinne, der nicht nur die
Rhetoren, sondern auch die falschen Philosophen mit umfiaföt. Wenn
dagegen Dio in § 10 seinen HOrern verspricht, ihnen die wahrhaft
weisen MSnner zu izeigen und namhaft zu machen, denen sie folgen
müssen , um glücklich zu werden , und denen sie ihre Söhne anver-
trauen müssen, damit sie wahre Bildung erlangen, so ist dabei, wie der
Schlufs von § 12 durch seine Erwähnung der naXaiol avögeg beweist,
nicht an die alten Philosophen zu denken, sondern an diejenigen unter
den zeitgenossischen Philosophen, welche Dio als ächte Lehrer aner-
kennt, dieselben von denen er in Kelainai § 10 sagt: elal yag ol
xaküg xal av^q>BQ6v%u3g to Tcgayfia nQcttxovxeg, olg ^dei anivöeiv
xal dvfuiav. So veranschaulicht er das Verhältnis, in dem er als blofs
protreptischer Lehrer zu den eigentlichen Systematikern steht. Wir
werden dieses Verhältnis sogleich in der Alexandrina noch von einer
andern Seite beleuchtet sehen. — Sehr deutlich zieht sich der Gegen-
satz Dios zu den rhetorischen Sophisten und zu den falschen Philo-
sophen durch die Einleitung der Rede in Kelainai hindurch. Gleich
anfangs stellt Dio der rednerischen ÖBivorr^g seine eigene schlichte
Redeweise gegenüber, der Abschnitt negi rov xofiav zielt auf die
Unterscheidung der wahren von den falschen Philosophen ab, von den
Sophisten und ihrem Verhältnis zum Publicum handelt § 8. — Die
tarsiscbe Rede hebt gleich damit an, dafs sich der Redner den sophisti-
schen Rhetoren, den Verfassern von iyycwfiLa rwv TtoXewVy gegenüber-
stellt und der mit § 17 beginnende Abschnitt ist eine Invective gegen
die herkömmlichen rhetorischen iyadfiia %wv TtoXewv. Dagegen geht
§ 4 fr. auf die philosophischen Collegen Dios, die über alle möglichen
Fragen aus dem weiten Felde der Philosophie epideiktische Vorträge
halten, aber die wichtigste Seite des philosophischen Berufs, die Arbeit
an der moralischen Besserung der Hörer, vernachläfsigen. — In der
Alexandrina endlich werden die sophistischen Rhetoren und ihre iyaoh-
inia Twv ftokewv in sehr ähnlicher Weise wie in der Tarsica lächerlich
gemacht (§ 37 fr.) und in § 8 — 10 setzt sich Dio ausführlich mit seinen
philosophischen Collegen auseinander. Um zu zeigen, dafs sie durch
ihr Verhalten die sittliche Entartung des Volkes verschulden, geht er
die verschiedenen Klassen durch, in die der Philosophenstand nicht
nach seinem Schulbekenntnis, sondern nach seiner Lehrweise zerßlH.
1. olfihv yag ovtwv olwg elg nX'^d'og ovx Yaoiv ovdk &ilovüi öia-
Ktvövveveiv, QTteyvancoTeg Xotog to ßeXilovg av rroi^aai Tovg rcolkoig.
446 Fänftes Kapitel.
Damit sind, wie ich früher hemerkt habe, Leute wie Cornutus gemeint,
die ihre Wirksamkeit auf den eogsten, durch HausgeoosseDscbaft {avfi-
ßlojGig) verbuDdeneD Freundeskreis beschränkten.
2. ol d' Iv zolg xakovidivoig axQoaTTjQloig (pwvaaxovaiVf ivOTtov-
dovg kaßovreg axQoazag xai xeiQotid^Btg kavTOlg. Gemeint sind die
eigentlichen Professoren, die ortsansässigen Lehrer, deren Weisheit nur
den Studenten zugute kommt, die ihre Curse belegen und bezahlen.
Diese beiden ersten Klassen waren Dio dadurch überlegen, dafs sie
einen zusammenhängenden systematischen Unterricht erteilten. Was er
ihnen zum Vorwurf macht, ist dafs ihr Wirken, weil es sich auf zu enge
Kreise beschränkt, für die Hebung der allgemeinen sittlichen Zustände
fruchtlos bleibt. Es folgen zwei andere Klassen von Philosophen, die
sich zwar mit ihren Vorträgen an die weitesten Kreise wenden, aber
inhaltlich minderwertiges bieten, nämlich
3. die in Alexandreia sehr zahlreichen Kyniker, unwissende Men-
schen, die auf Strafsen und Plätzen das ungebildete Publicum um sich
versammeln und durch die Unflätigkeit ihrer W^itze wie durch die Tri-
vialität ihrer Gesprächführung die Philosophie in Verruf bringen.
4. T(Zv dh elg vfiäg naQtovTWv wg neTcaidevfiivwv ol /ihv Itvi-
detxzLXoig koyovg xat zovTOvg a/ia^elg, ol öi nonjfiata avvd'ivzeg
(cdovatv — ovTOi d ei fiiv eioi noirjzal xal ^rjTOQeg, ovöiy Xawg
öeivov ei d'cug q)ik6ooq)oi Tavra rcQQitovOL xigdovg ^venev %ai
öo^r^g rt]g iavTUJv, ov %rfi vfAerigag wq)elelag, %ov%o d' ijdr] öeivov.
Diese Leute sind zwar nicht analöevrot, wie die Mehrzahl der Kyniker,
aber da sie sich mehr den eigenen Ruhm als den Nutzen der Hörer
zum Ziel setzen, verdienen sie nicht, Philosophen genannt zu werden.
Es ist klar, dafs Dio für sich eine Mittelstellung zwischen diesen
Gruppen in Anspruch nimmt. Mit der ersten und zweiten Klasse teilt
er die gründliche philosophische Bildung und das aufrichtige Streben,
den Hörern ächte, praktisch wertvolle Erkenntnis zu vermitteln, mit der
dritten und vierten Klasse die Einwirkung auf die breite Masse des Volks.
Erinnern wir uns der in den drei anderen Proömien enthaltenen Äufse-
rungen Dios über seine philosophischen Collegen, so ergiebt sich, dab
hier alles zusammengefafst ist, was sich dort einzeln findet. Wegen der
ersten und zweiten Klasse verweisen wir auf die Olympica. Ich habe
vorhin den fundamentalen Unterschied zwischen den Prooemien der
Alexandrina und der Olympica betont. Aus diesem Unterschied erklärt
sich auch die scheinbar sehr verschiedene Behandlung der Systematiker
und Schulphilosophen. In der Olympica bringt es die TtQoanoltjOig
Dios leUle Lebensperiode. 447
Idiuntofiov mit sich, dafs Dio seine missionirende Tbätigkeit, durch die
er jenen SchQlcr zuführt, als etwas ganz unerhebliches und neben der
Lehrlhätigkeit jener kaum in Betracht kommendes hinstellt; in der
Alexandrina, wo Dio durch selbstbewuPstes Auftreten dem Volk imponiren
will, hebt er die Eingeschränkiheit des schulmäfsigen Unterrichts und
die Unentbehrlichkeit der protreptischen Predigt hervor. Die Äufserungen
der Alexandrina über die Kyniker finden ihre Parallele in dem was die
Rede in Kelainai über das kynische Costüm vorbringt. Die vierte Klasse
endlich, jene Philosophen, die in Wahrheit l/rtdctxTtxol Qr]%oqeg sind,
begegnen uns wieder in der Einleitung der ersten tarsischen Rede
§ 4 — 6. Beidemal wird ihre Schwäche durch Vergleichung des philo-
sophischen mit dem ärztlichen Beruf veranschaulicht.
Ich glaube durch diese vergleichende Betrachtung eine innere Zu-
sammengehörigkeit dieser vier Reden erwiesen zu haben, die auch auf
eine zeitliche Zusammengehörigkeit schliefseu läfst. Es kann sich dabei
nur um die Alternative handeln, ob die Rede in Kelainai und die erste
tarsische auch in die Exilszeit gehören können oder, wie ich meine, der
Zeit nach 105 angehören. Für die letztere Annahme spricht, dafs alle
vier Prooemien dieselben Grundmotive variieren. Erst nachdem Dio den
epideiktischen Rhetoren in der Form seiner Vorträge wieder ähnlich
geworden war, sah er sich veranlagst, seine Verschiedenheit von ihnen
zu einem Hauptmotiv seiner Prooemien zu machen. Der Beweis läfst
sich noch verstärken durch Vergleichung einzelner Stellen. Es liegt im
Wesen der Stegreifrede, dafs sie mit gewissen zu wiederholter Verwen-
dung geeigneten Motiven (xonot) operirt, die der Redner stets in Be-
reitschaft hält. Je näher sich zwei Vorträge eines Stegreifredners der
Zeit nach stehen, desto deutlicher mufs sich zeigen, dafs der in seiner
Seele bereit liegende Motivenvorrat noch derselbe ist.
So deutet es gewifs auf zeitliche Nähe, wenn in der ersten tarsi-
schen Rede gelegentlich das Motiv benutzt wird, das in der Rede in
Kelainai als Hauptmotiv vollste Entfaltung findet.^) In der tarsischen
Rede heifst es § 24 : ei yag jovra övvarat nouiv avd^Qwnovg fiaxa-
Qlovg, Tcora/Äog ij Tcgaaig aiQog rj Tortog ytjg rj xal x^aXaTtrjg kifii-
v€g 7} vadg ij xet^og, ovx eajiv el/teiv dawv XeLneo&B. Bv^awlovg
ixeivovg axoveze naq aviov olxovvrag %6v TIovtov, fiixgov e^vj
Tov otofictTogy avTOfÄajwv IxOvoßv avTOig enl Ttjv y^v ixTtiTctovrwv
IvLoiB ' aiA' o^(ag ovieig av eXrtoi dia %6v lx\^v evöal^ovag Bv
\) Vgl. auch or. 79 ne^l Ttla^rov,
448 Fünftes Kapitel.
^avTlovg, ei fifj xal rovg kaQOvg, ovöe jilyvTtriovg dia %6v Nsikov
ovdh BaßvXwvlovg dia xo teixog. Es mufs an dieser Stelle aufTallen,
dars die hyperbolische Behauptung ovyi tartv elfceiv oawv XelnBod-e
so unzureichend begründet wird. Nur ein Beispiel, das der Byzantier,
wird ausgeführt, dann folgen noch zwei in abgekürzter Form. Es ist
ja freilich selbstverständlich, dafs der Nil dem Kydnos und die babylo-
nische Mauer der von Tarsos überlegen ist Aber es bleibt doch ein
Anstofs, dafs Dio bei dem zweiten und dritten Beispiel nicht mehr
daran denkt, das Zurückstehen der Tarsenser hinter zahllosen anderen
Städten zu beweisen. Dieser Anstofs schwindet, sobald man den ent-
sprechenden Abschnitt der Rede in Kelainai §17 — 25 vergleicht und
die Stelle der Tarsica als eine kurz angedeutete Reminiscenz der dor-
tigen Ausführung aufTafst. Dort folgte auf die Schilderung des mate-
riellen Wohlstandes von Kelainai eine durch die Verstümmelung der
Rede grOfstenteils verloren gegangene Aufzählung von Völkerschaften
und Städten, die es Kelainai an Reichtum zuvorthun. Unter den drei
erhaltenen Beispielen findet sich auch das der Byzantier. Wie in der
Tarsica wird hervorgehoben, dafs ihnen die Fische ohne Arbeit zufliegen.
Hier war der ronog so behandelt, dafs er zu voller Wirkung kam. Es
ist daher anzunehmen, dafs die tarsische Rede nicht lange nach der
Rede in Kelainai gehalten ist.
Zahlreiche Berührungen zeigt die Tarsica prior, namentlich in ihrer
ersten Hälfte, mit der Alexandrina und z. T. auch der Olympica. In
dem Nachweis der Nützlichkeit von Spott und Tadel für die Städte, in
dem sich die tarsische mit der alexandrinischen Rede berührt, wird
beidemal auf das Beispiel der Athener verwiesen, die sich von den
Komikern Spott und Schelte gern gefallen liefsen: Tars. § 9 L^^ya^oi
yoQ eicjd'oreg axoveiv xantSg, xai yfj dia in avxo zovxo aw i6 vreg
eig %b S^iaxQov tag loidoQTjdTjaofievoi, xal TCQOTsd-etxoTeg aydfva xal
vUrjv toig apLBivov avro TCQarxovaiv, ovx ccvrol zovxo evgovreg,
akka Tov &€ov avfißovkevaavrog , l^QiaToq)dvovg fikv fpt^ovov xai
KqotLvov xal lHatwvog etc. Alexandr. §6: iuel xal tovg Iti&t]^
valovg — ov Ttdvvwg evQriaofiev afjtaQzdvovrag' dlka Tovto ye
ixelvoL xal Ttdvv xalwg kuolovv y oti rolg Ttoirjraig i/cir^enov fiij
piovov Tovg xar avÖQa ekiyxsiv, dkkd xal xoivy r^v nokiv eX %i
fjirj xakwg IjcgaTTOv (folgen Komikercitate) xal ravva fjxovov ioQva^
Covreg xal örjfioxQaTov/iUvot i^ov avzoig el ißovkovtö firjökv
drjdeg axoveiv.
Kurz vorher steht in der Tarsica § 6. 7 ein anderes Motiv, das in
Dios letzte LebeDsperiode. 449
der Alexandrina wiederkehrt Die epideiktischen Philosophen, die nicht
auf die ethische ßesserimg der Hörer abzielen , werden in § 6 mit
Ärzten verglichen, die niemanden heilen, sondern nur Vorträge über
ürztliche Kunst und Methode zur Ergötzung des Publicums halten, und
dann fortgefahren : 6 dl aXrj^g Icctqoq ovx iart toiovrog ovdi ovTwg;
öiaXiyerat rolg ovrwg öeofidvoig' Ttod'Bv; aXka nQoaita^e %l öel
Ttouiv, xal g)ay€lv ßovkofievov rj tiuIv ixajkvae, xal Xaßutv irBfiBv
oLfpeotrpwg %i rov acifiorog, wOTteQ ovv ei avvekd'ovveg ol icdfivovteg
eW i7tl %6v laiQov ineKWfjiaCov nai xw&wvl^ead^ai rj^lovv, ovx av
avToig xar* IXrtida ro TtQayfia ajrqvrrjaev , akk Xawg riyavaxTOvv
vcQog zriv vTtodoxrjv, tavTo fioi nenov^ivat doxovaiv ol TtoXXoi
^vviovveg Ini tov toiovtov xal Xiyeiv xsXevovTeg. Hiermit vergleiche
man Alexandr. § 10, wo es, ebenfalls nach einer Schilderung der philo-
sophischen Epideiktiker heifst: ofioiov yaQ äaneQ eX %ig laxqbg iftl
y.dfxvovrag av^Qtinovg elaidtv zijg fikv atJttjQiag avtwv xal z^g
^egartelag afiekrjaeu, axetpavovg öh xal izalgag xal fivQov avrolg
eiaq)iQOu
Die Vergleichung des Homer und des Archilochos in der Tarsica
§ 11. 12, die beweisen soll oar/j to XoiöoqbIv xtiv aßelzeglav ttjv
ixdazow xal Trjv TCOvtjQlav (pavegay Ttouiv xqeIttov iazi rov ;ra^/-
^ead^ai öia tcov koytov ist ein Gegenstück zu der Vergleichung des
Homer und des Phokylides in der ßorysthenitica § 13. Dafs der Redner
selbst an Phokylides denkt, wird in § 17 — 19 klar. Archilochos sagt:
ov q)iJLiw fiiyav avQarrjyov u. s. w. Glaubt ihr, dafs er eine Stadt
wegen noTafioL, ßaXaveia, xg^vai, OToal loben wUrde: aW %iioiyB
öoxei fidkkov av tovtwv nQOxgivai afiixqdv te xxxl ollytjv aoicpQoviDg-
oixovfiivtjv xav ijtl nizQag. Der in der ßorysthenitica § 13 citirte
Phokylidesspruch wird hier, ohne Nennung des Phokylides, als Gedanke
des Archilochos erwiesen und dadurch zu Homer übergeleitet, der durch
seine Verherrlichung des Odysseus, des Sohnes der Felseninsel Ithaka,
dieselbe Ansicht kundgegeben habe. Nur durch die Einschwärzung des
phokylideischen Gedankens wird eine ßeziehung zwischen dem Archi-
lochoscitat und der folgenden ßetrachtung über Homer hergestellt.
Diese merkwürdige Verwendung des Phokylidesspruches wird psycho-
logisch dadurch erklärlich, dafs sich der früher in ähnlichem Zusammen-
hang verwertete Spruch unwillkürlich dem ßewufstsein des Redner^«
aufdrängte und er doch den Phokylides hier nicht nennen durfte, um
nicht die in § 11. 12 begonnene und hier weitergeführte Gegenüber-
stellung des Homer und Archilochos (pv q>r^fii Tip ^änokXwvt agiaai)
V.Arnim, DIo. 29
460 Fünftes Kapitel.
zu slören. Natürlich ist das unwillkürliche AnkHugeo des Motivs zeil-
üch später als das ausdrückliche Citat. Ebenso haben wir vorhin das
Verhältnis von Tarsica § 24 zu dem Hauptmotiv der Rede in Kelainai
beurteilt« Ist aber die tarsische Rede später als die frühestens den
bithynischeu Jahren angehörige Borysthenitica, so gehört sie in die Zeit
nach dem Jahre 105.
Mit der Alexandrina teilt die erste tarsische Rede die starke Be-
tonung der Herbigkeit und Bitterkeit, die den Reden des wahren Philo-
sophen eigen ist. Alexandr. § 18 (ptXoaofpov de xaxov firj tcitcqov
elvau In der Tarsica wird dieser Gedanke weiter ausgeführt und
namentlich durch die aesopischc Fabel von den Augen, die den Honig
kosten wollten, illustrirt.
Ferner wird in beiden Reden der Widerstand des sittlich Kranken
gegen die schmerzhafte Cur, die der Seelenarzt ihm auferlegt, und die
Gleichgültigkeit des Philosophen gegen diesen Widerstand geschildert:
Tarsica § 44 kyu dk oqü xai zovg iaxqovg %ad'^ ore anTOfiivovg tuv
ovK av fjd'eXoVy ovxl vwv xakklaTCJV tov avifiarog, xai nokloug olda
TcJy &€Qa7t€vofiiy(Dv ayavcncvotvTag, orav o/rri^rat tov nenov&OTog.
6 äh noXkamg afivTT€i tovto xal rifÄvei ßowvrog. Ein ähnliches
Bild ündet sich in der Alexandrina § 17 ovfißaivei ök %ovg xcnUarovg
xat aTvxsOTarovg wg itOQQwrdTCJ (pevyeiv ano tov Xoyov xal f^ij
id-ikeiv axoveiv, ^r}ö' av ßid^rjTai Tig, cia7r€Q olpiai, xal Ttüv khuiv
Tcc övax^QTJ XLav ovx i^ 7CQoadipaa^aiy xal tovto avTo arj/ielov ioTi
TOV Ttuvv TtovriQiüg avTcc e^^iy.
In beiden Reden setzt der Redner voraus, dafs den Hürern der
Gegenstand seiner Ermahnungen geringfügig erscheinen wird, und be-
weist ausführlich seine weittragende Bedeutung. In beiden bebt er
auch hervor, dafs es unmöglich gewesen sei, gleich alle Laster des
Volkes zu besprechen; er habe zunächst einen Punkt auswählen müssen.
Vgl. besonders Tarsica §31 tI ovv dfxaQT&vofxev rifxelg; tol fikv ali4x
kw. yeXoiov yoQ, et Tig JCQog tov ölwg ovx iTtLOTafiBvov xid-a^l--
^€iv, €7C€iTa (ig €Tvx€ x{tovovTa, knixBiQol Xiyeiv o,rt rjfia^ev ij
Ttva (p&oyyov TtaQißrj. tooovtov dk (.lovov ebceiv a^iov o fitjdeig
av aQvi]aaiTo, Alexandr. § 33 tL ovv; Taxot IqbI Tig, tovto (jlovov
afiaQTavo^ev , t6 q>avkwg d^ewQSiv, xal jcsqI fiovov tovtov kiyeig
rifAiVy akko ö^ ovdiv; {jieeuntur verba corrupta et inlerpolatä) xal /ui^y
negi ye Ttiv akkwv t6 fxkv 7cdvTa hiB^ekO'eiv, xal TavTa iv TjfiiQfjc
l.uq, xal Tckiwg v^dg avayxdoai xarayvwvai Tr^g xaxlag xal tc5v
dfj,aQTr^fidT(jJv ov övvazov.
Dio9 letzte Lebensperiode. 451
ot(J' ei /doi dhca fxhv ykaiaaai, dina 6h atopLcn:^ elev u, s. w,
avTo öi vovzo Ttsgl ov kdyeiv TjQ^ai^ir^v, oqcltb fiXUov kavlv.
Tareica § 37 xalrot, ^£ ov liXrj&ev ovc taug rcvkg XrjQeZv fie
vofxl^ovat, Ta %oiav%a i^erd^ovra xal firjdky elvai ftaga tovzo u.s.w.
§ 44 Tivkg de lawg xarayehsjaiv, ei iceQi firjdevog xQelTvovog evgov
elneiv. § 56 alV aneXevaea&e dyavaxtovvreg aal lelijQtjxivai ^
(pdaxovteg , el rooovzovg koyovg fidrrjv died'ifirjv xal nqog ovdhv
Tiüv x^92<7^iuciiy. firjdefilav yaQ Ix tovtov ßkdßrjv dnav%dv firjde x^t-
Qov oi%ela&at Trjv Ttohv. Diese Meinung wird widerlegt § 62extr.elsq.
durch den Gedanken, dafs das Laster immer im Fortschritt begriffen
ist, also aus kleinen Anfängen grofse Obel entstehen: OQaze ydq ol
Tigoeiaiv, yevelwv %i Tcgdrov evQidT] ncovQd u. s. w. Damit vergleiche
man Alexandr. § 73. 74 rj ydg vuiv TQonwv xovfpoTTjg xae to ai.dyL''
<nov ovx 1^ fiiveiv inl voig ildjToaiv ovo* *exec fiitQov ovökv 17
dvoLa Tüjv dfiaQTrjfidrcjv, dkX* i/tl rcdv bfiolijjg TtQoeiai mal 7tav%bg
dnTerai fietd ri^g iarjg evxeQelag. fÄTj ovv oXea&e negl fiLXQcSv elvai
xov XoyoVy otav tig vfxlv diaXiyiqtai, TteQi %(jjv kv %olg ^edtgoig
^OQvßiov e. q. s. Ganz ähnlich Cuboicus § 138ir.
In beiden Reden wird die Geschichte des Musikers Timotheos er*
zählt, dem als er nach Sparta kam, die Lakedaimonier die überflüssigen
Saiten seiner Kithara durchschnitten. Tarsica § 57 ovtu) acpoÖQo rd
(jjva iipikaTTov xal tTilixavrrjv ^yovvro övvafiLv ttjv axorjv ^cey,
wäre d7]kvveiv ttjv didvoiav kloX döiY.elad-ai %d xfig dqfxovlag* toi--
yaQOvv q>aac ^cmeöaifiovlovg , Irteidi] Tipio-d-eog rjxe naQ^ avrovg
XafjinQog ußv ^ärj xal dvvaaievwv iv rij (novaixfj , ttjv re xi^dgav
avTov dq>eXiad'ai nal %wv xoqÖwv rag Tcegivtdg ixrefielv. Alexandr.
§ 67 kyti d' ifiiv ßovXofiai ^anedatfiovliDV eqyov elneiv, dg ixelvoi
7tQoa7]vix^oav avÖQl lu^agtfdf^ y^avixal^o^iv^i rote iv rolg^'Ellrjaiv.
Ott ydg klav ^dig iöonei not negitrog elvai, fid JC ovx hlfirioav
avTov, aAA' d<pelkovro riqv xi&dgav xal zdg x^Q^^^ l^irefiov, drei"
evai 7tQoeifc6vTeg ix r^g TtoXewg. ixelvoi fikv ovv to nqdyfxa ov%iJi}g
v<peü)QwvTO xal iq>vXanov %d ana, wg dv fi'q öiaipr^aQVjaiv cd
dxoal firidh rQvq>eQwveQai yiviovzai tov diovrog u. s. w.
Ferner vergleiche man die Wendung Tarsica §61 nolog ovv^'Ofir^gog
rj %lg ^QxlXoxog lox;vet rd xaxd zavia i^^aai; mit Alexandr. § 79
Ttoiog ydg^'OiiriQog rj rig dv-9'Qwnwv dvvatai rd avfxßaivovxa eirceiv;
Oder Tarsica § 29 v^ielg öi, dv iikv ex rixTig 6 norapLog fieza-
ßdXji xal ^vfi d^oXegvitegog y dx^eo&e xal ngog %ovg nQÜxov ini-^
Ö7]fir^aav%ag ahlav Xiyete' %bv di tqotiov %rig noXewg fieraßdXXovra
29*
452 Fünftes Kapitel.
oQüivreg xal x^^Q^ yiyvofjLevov xal xetaQaypLivov ael fiakXov ov
q)QOVTl^€t€. akXa vdcjQ fikv ov fiovov tcIvuv ßovkeod'E xad-agov,
akka xal oqqV rjd'og öi xa&agov xai /litgiov ov ^rjtelTe. Alexandr.
§ 46 yvvi dk To fiiv twv rivio^wv %iva ixTceaelv Ix tov dlqjQov
öeivov fjyelad'e xal avfiq)OQav naawv fieyiaTrjv* alrol äk hcnlTcrovreg
ix Toü xooftov TOV TtqoorixovTog xaX rijg a^lag Trjg eccvTOßV ov q>QOV''
tigere, xav (liv vfiiv 6 xi^aQ(i)ödg IxfÄelaJg ^dr] xat 7caga xov
%6vov, avvlere. avTol dh navTeXvjg e^w r^g agfiovlag T^g xara
q>vaiv yiyvofievoi xal atpodga afiovawg exovteg ov diag>iQ€a-9'€. Die
Übereinstimmung der beiden Stellen erstreckt sieb nicht nur auf die
rhetorische Figur, sondern auch auf den Gedanken.
Beide Reden suchen dem Volke durch Hinweis auf seine Götter
und auf seine berühmten Männer Scham einzuflöfsen : Tarsica § 47. 48
(Herakles, Perseus, Athenodoros), Alexandr. § 13 CAmdog g>rjfj,ai in
Memphis), § 95 (Alexandros).
Beide Reden verweisen auf den schlechten Ruf, den sich die Stadt
durch ihre Laster bei Nachbarn und Fremden zuzieht: Tarsica § 49
7cq6t€qov (jlbv ovv Itc €VTa^l<jc xal a(x}q>Qoavv7] diaßorjTog rjv vficir
tj jtoXig xal ToiovTOvg aviq)€Q€v avÖQag' vvv dk iyw öiöovxa /äi]
rrjv IvaviLav kdßj] id^cv, wäre ftera rdvöe xal rtivöe ovofid^eo&ai,
§ 51 elz* ax^ea&e roig Alyevai xal xoig l^davevaiv , öxav v/däg
loidoQwaiv etc. § 55 elra i7t* ay&Qtinov (xiv 6 maQfxbg i^rjkey^e
%6v TQOTtov — — 7c6Xiv ök ovx av €v Tc zoiovTOv diaßoXoi xai
ö6^7]g dvaTckrjaeu novrjQag. Sehr ausführlich wird dasselbe Thema
in der Alexandrina § 390*. abgehandelt: xal vvv elnov %d tvbqI tljg
nokewg, del^ai ßovkoftevog vfilv shg 6,ti av aaxfjf^ovfjve ov XQvq)a
yLyvetai tovto ovo' iv oXiyoig, dXX' kv oTtaaiv dvd'QVJTCOig u. s. w.
In beiden Reden wird auch im Zusammenhange hiermit der BegriflT
des dr^fioaiov oveidog entwickelt, indem gezeigt wird, wie durch pri*
vale Fehltritte des einzelnen, wenn sie sich verbreiten und zur Regel
werden, die ganze Stadt in Verruf kommt. Tarsica §34 ov6h yoQ
fietQiov loTL TO yiyv6fi€vov ovdh arcaviwg av^ßalvoVy aXk ael xal
Ttavxaxov Tijg TtoXeiog § 36 trjV dk TtoXiv rl (pijaovaiv, iv ^ Jtctv-
Taxov axsöov elg imxQaTei q)&6yyog § 37 eY Tig avrtJv naqayivoito
eig noXiVy iv rj Ttdvxeg o,ti av deixvvwai rq) fiiaip öaxTvkq) öeix-
vvovat — 7roLav rivd ijyi^aovtaL Trjv 7c6i.iv zavrrjv; § 38 vccvr*
ioTi Ta xad"' vfitZv cKpog/nfjv öeöwxota ßlaag>r]filag, äare dtjfioa l<jc
y.ara rrjg rcoXewg ex^iv o,ti kiyuat xovg aTtex^cig vfiiv diaxai-
fiiivovg; Derselbe Gedanke durchzieht die folgenden Paragraphen» Damit
Dios letzte Lebensperiode. 453
vergleiche man Alexandr. §91fr« xalzoi deiva fiiv rcov mal kcp^ Ixa-
0%(jjv Ja Toiavra, %(f nartl dk aiaxLu) drjfÄoaltf tpaivof^eva und das
Folgende bis zum Ende von § 93, besonders den Satz § 92: nola yag
Tcokig iazl Twy firj aq>6dQa iQrjfxaiv xal fiixQwv, iv fj fXTj xa^' fjfiiQav
Tig 7tvQi%TBi TcavTwg' akla Kavvlovg fiovov 7taQ€llr]q>€ xaxelvwv
iatl To oveidog, ort rcivreg av%b naaxovaiv.
Die Vergleichung der beiden Reden liefse sich durch yertiefle Be-
trachtung noch viel weiter treiben, aber ich will mich begnügen, zum
Schlufs nur noch zwei besonders charakteristische Details hervorzuheben.
Tarsica §28 heifst es: ^17 yctq oXea&e rohg nQiovg firjök zag kXeTto-
Xeig :iai zag aklag firjxovag ovvwg avcttqiTteiv wg TQvq)rjv, utb
avdqa ßovkerai zig neTtTamoTa löeiv sTlre no'kiv. Ganz ähnlich
Alexandr. § 89 pLi] yaq tovzo fiovov fiyeiad'e dkußoiv elvai nolecjg,
av Tiveg zb zelxog %a:zaßak6vz€g aTvoaqxivzwat zoig av&QVJTCovg
xai zag yvvalxag oTtayioaiv xai zag oii^lag xazaxacjoiv' • TtaQ
olg ö av f] 7tavzu)v afiiXeia zwv xakuiv, ivog dk nQayfiazog ayev-
vovg BQtjg — zovz^ iaziv alaxQcc ^cokewg xal Ircovelöiazog akcjoig,
xal yag avd'QtifCovg iakwxivai q)afikv ovx vno kr^azaiv fiovov, akXa
xal azalQag xal yaözqbg xäl akkrjg zivog q>avkr^g iTCi&vfilag. Wäh-
rend an dieser Stelle der in der Tarsica nur mit wenigen Worten an-
gedeutete zoTtog in der Alexandrina weiter ausgesponnen wird, findet
das umgekehrte Verhältnis^statt bezüglich der Sätze, an die sich in der
Alexandrina der eben citirte Abschnitt anschliefst. § 88 ovdk ^ twv
Tqüjwv Ttokig €vdalfÄü)v, ozi jcovtjqwv xal axokaazwv vn^Q^e jtoki-
ziZv. xalzoi fieyakf] ze xal *evdo^og rjV akV 0f4wg 6 zijg ^Id'dxrjg
Tcokizrjg InoQdr^aev avzi^v, z'^g.f^ixgag xal ado^ov acpoÖQa ovaav
€VQvx(JifQov. Tars. § 19 ovx 6 fxlv ^Odvaaevg vrjaiojzTjg.rjv ovdh zvth
avfiftizQwv vrjOijy' no&ev ; oiöh zwv eyxaQTCwv, akV rjv ^ovov
inatvioaL S^ikwv alyißozov eXQVjxey. akV ofiwg tpr^al zfj zovzov
ßovkji ze xal yvcififj xal zijv Tgolav aiQedijvai, zrjkixavzrjv nokiv.
Es wird nun zunächst ausführlich und schwungvoll Troias Reichtum
und Glanz geschildert und dann fortgefahren: dk)^ Sfiwg, iTteidfi
zQv(pfi xal vßgig eiarjk&Bv avzovg xal Tcaidelag xal atJtpQoavvrjg
oidkv (povzo deio^aiy nokv ndvzußv azvxiozazoi yeyoyaaiv. Alle
vorher aufgezählten Herrlichkeiten haben ihnen nichts genützt, akk^
V7t' dvögog l^ ovzo) kvuQag xal ado^ov Ttokewg antjkovzo , xal
laxvoev 6 zijg I'9'dxrjg noklzr^g jceQiyeviad'ai zwv kx zov ^Iklov
Tcdvzüßv u. s. w. Der Gedanke, dafs Odysseus, der Bürger einer unbe-
rühmten Stadt, das reiche und mächtige Troia durch seine Klugheit zu
454 Fönftes Kapitel.
Fall gebracht hat, kehrt io beiden Reden wieder, aber in der Alexandrina
ist er mit dem oben citirten Abschnitt über akcjatg Ttokecjg im ethi-
schen Sinne verbunden, während er in der Tarsica einen Bestandteil
der ausführlichen Abhandlung über die Geringwertigkeit der materiellen
Guter bildet, der § 17—30 umfafst.
Dieser Gedankengang, in den das Odysseusmotiv in der Tarsica
hineingestellt ist, hat ebenfalls in der Alexandrina seine Parallele, aber
an anderer Stelle und ohne Verwendung des Odysseusmotivs. Die Ge-
ringwertigkeit günstiger Lage, grofsen Handelsverkehrs, schöner Gebäude
und überhaupt aller materiellen Güter für den Staat wird in der Alexau-
drina § 36 — 38 behandelt. Auf eine Schilderung der günstigen Lage
und des Reichtums von Alexandreia, die in der Schilderung von Kelainai
or. 35 §13 — 17 ihre nächste Parallele hat, folgt der Beweis, dafs das
Lob der örtlichkeit nicht ein Lob des Volkes ist §37: Xatog ovv xaL-
gere axovovvegy aal yofil^ere knaivBlad'ai, %av%a ifiov Xiyovvog,
äa7C€Q VTco %ufv akkiov twv ael d-tjnevovriüv vfxdg' iyw de hnf^veaa
vd(üQ xal yrjv xal kifiivag xae ronovg nal navTa fiäklov rj v^ag,
Menschen lobt nur der, der ihnen sittliche Tugenden nachzurühmen
weifs. avayiayal öi %al xaTciQaeig veciy xat nXrj&ovg VTtBQßoXtj yLoi
wvlcjv xal avd'QiüTtuiv TcavijyvQewg xai Xi^ivog xal ayoqag eaziv
kyxiifiiov, ov Ttolecjg' ovdi ys av vdotg iTcaivij %tg, avS-QdjntJv
%7taivog ovTog iat^v, akka (pqeaxwv' ovo av Ttegl evagaalag kiyr^
tig, tovg av&QiüTtovg elvai q)rjaiv aya&ovgy aXXa zfjv x'«>^«y' ovd*
av Ttegl Ixdvwv, ttjv noktv inaivel' ftox^ev; aXXa ^dlarrav tj
Xifivriv 7] Tcotafiov. vfiBig dh av iyxwfiidtj] %ig %ov Nelkov, iTtal-
gead'e, äarceg avTol ^iovreg dno AWiortlag, axedov di aal ztov
akkußv Ol nXeiovg iTtl %olg roiovroig xalgovot aal fioxaglovg iav-
%ovg nglvovaiv, av oIkwoi xa&^ '^'Ofirjgov v^aov öevögrjBoaav ^ ßa-
d-eldv Viva rjfceigov rj Ttgog ogeot amegoig rj nijyaig diavyiaiv u. s. w.
Die in diesem Abschnitt der Alexandrina enthaltenen Gedanken klingen
in der Tarsica schon gleich anfangs an § 2 &i dh olfiat negi te x^Q^S
xal TWV ogtSv tvjv xaz avTfjV xal zovde rov Kvävov, wg de^ici^
javog dndvxixiv Ttozafxwv aal naXkiazog, o% %e oTt^ avvov nlvovteg
a<pv€ioi xal ^axdgioi xa&^ ^Oiirigov und bilden das Grundmotiv von
§17 — 30, das am klarsten ausgesprochen wird §28: ov notafjiog haziv
ovdi 7t€ÖLov ovök kifiijv 6 rcoiuiv evöalfiova noXiv ovök x^i^/ciaraiv
Ttkrjd'og ovdk oixoöofit]fÄdj(üv ovök &r]aavgoi d'Ewv diXd croi-
(pgoavvr] xal vovg ioTi td a(^^ovTa. zavra noiel %ovg ;c^WjU^yot;g,
fxaxaglovg, Tavta roig S^eoig ngoatpikeig u. s. w. An die Äufserung
»^
X
DioB letzte Lebensperiode. 455
in der Alexandrina , die Alexandriner seien stolz auf ihren Nil, Üotcsq
txlxol ^iovTsg anb Al&iorclag erinnert speciell die Erwähnung des
ISils Tarsica §23.
Die soeben aufgezählten Berührungen zwischen der Tarsica prior
und der AleoDandrina bieten nicht jede einzeln genommen, wohl aber
in ihrer Gesamtheit eine genügende Grundlage für den chronologischen
Schlufs, den ich auf sie baue. Jede der beiden Reden hat ihr beson-
deres, von dem der anderen durchaus verschiedenes Thema. Um so
mehr darf die häufige Benutzung derselben rortot als Beweis betrachtet
werden, dafs sie derselben Entwicklungsperiode des Redners ange-
hören. Wir sehen Dio in beiden Reden aus demselben Vorrat bereit-
liegender Motive schöpfen und für zwei verschiedene Gemälde denselben
landschaftlichen Hintergrund und dieselben technischen Mittel benutzen.
Wenn eine derartige Betrachtung auch nicht den stringenten Beweis
für die Datirung, wie etwa Anspielungen auf datirbare geschichtliche
Verbältnisse, erbringen kann, so ergiebt sie doch einen sehr hohen Grad
von Wahrscheinlichkeit für die Behauptung, dafs auch die erste tarsische
Rede der Zeit nach 105 angehört. In dieselbe Zeit dürfen wir auch
die Rede in Kelainai setzen.
Was nun weiter den Euboicus betrifft, so läfst sich ebenfalls leicht
seine Zugehörigkeit zu dieser Periode erweisen. Von dem nXavaad'at
Iv koyoig^ das diese Rede mit den eben besprochenen teilt, ist schon
die Rede gewesen. Vor allem ist zu beachten, dafs sich Dio hier als
TtQeaßvTTjg bezeichnet, was auf ein höheres Alter schliefsen läfst als
die in der Olympica gebrauchten Ausdrücke: § 15 r?} ze fiXtxlq rta^
QTjxfiaxoTog TJärj und § 20 ttjv di 'qi.txlav nQorfKoiv, Die Worte, mit
denen die Geschwätzigkeit des Greises und des ahqrrig motivirt werden :
aXriov di, ozi TtoXXa rvxbv afKpoTCQOi TtSTtoV'd'aCiv, dv ovx arjöwg
liifjivrjvTai lehren, dafs seine Leidenszeit, die Zeit des Exils, weit hinter
ihm liegt und ihm nur noch eine Quelle angenehmer Erinnerungen
ist. Das Abenteuer, das er in dem berühmten dirjynrjf^a erzählt, gehört
natürlich, mag es nun frei erfunden sein oder eine wahre Begebenheit
zugrunde liegen, in die Zeit der Verbannung, ein Seitenstück zu dem
der ersten Königsrede. Das zeigt die Art, wie er reist Qiera Tiviav
aXiiwv %^w T^g &€Qiv^g WQag kv fxixQt^ navrehag axctrlq)) und noch
mehr § 8 or yoQ Iftißovkevd'^val nore %dBiaa, ovdlv %%(üv tj q>atXat
IfxoTiov samt der folgenden Betrachtung über die rtevla. Es ist nirgends
gesagt, ja sogar mit der Schilderung des Schiffbruchs unvereinbar, dafs
etwa Dio nur durch den Schiffbruch alle Habe bis auf den Rock, den
456 Fünftes Kapilel.
er am Leibe trug, eingebüfst hatte und dadurch in augeDblickliche
Armut geraten war. Diese nevla ist vielmehr der normale und dauernd«
Zustand während der cpvyri. Daher hat er auch die Erfahrung, dai's
Armut ein XQW^ Uqov %al aavkov ist, in dieser Zeit oft gemacht.
D«r Zusammenhang lehrt, dafs mit der aAij awe^rig nur das unstäte
Leben der Verbannung gemeint sein kann. Es darf uns also nicht
irre führen, dafs Dio auch seine späteren Fahrten als Wanderprediger
gelegentlich akaad'ai und sich selbst in unserer Rede mit Bezug auf
die Gegenwart akrjTTjg nennt. Später wird mit diesen Ausdrucken ge-
spielt: hier stehen die Worte h akj] avvsxel im buchstäblichen Sinne.
Wie könnte sonst die Armut als selbstverständliches Zubehör der Skt]
hingestellt werden? Nicht allein die andern Fälle, wo Dio die geschil-
derte Erfahrung machte {7toXi,axig fikv dij xai aklore efteiQa&rjv)^
sondern auch der jetzt in Rede stehende (ctrag ovv df] xal rore) wird
durch das aze mit der Verbannung in causale Verbindung gebracht.
Dio erzählt viele Jahre später, lange nach seiner Restitution, ein an-
gebliches Erlebnis aus seiner Verbannungszeit. Denn während dieser
hat er nicht das Alter eines TtQeoßvrrjg erreicht. — Auch der Inhalt
der Rede spricht für späte Entstehung. Auf eine Berührung mit Ge-
danken der ersten tarsischen und der alexandrinischen Rede habe ich
schon hingewiesen: § 137 wg ovTiore (piXel ra fiox^lQoc ^iveiv Irti
%oig avTolg, akÜ ael xiv€i%ai xal TtQouaiv inl %o aaekyiaicQov,
fitjdevog avayxalov fiiitQov xvyxavovra. Ferner ist das ganze Werk
von dem für die letzte Periode bezeichnenden politisch-socialen Inter-
esse erfüllt. Der Ratgeber der Städte ist es, der hier das Wort führt.
In der Schilderung der Volksversammlung glaubt man seine bithynischen
Erfahrungen wieder zu erkennen. Die Vorschläge, die in dieser Ver-
sammlung von dem ^'qrcjg htuiYrig gemacht werden, um das brach-
liegende Gemeindeland wieder in Cultur zu setzen, das städtische Prole-
tariat zu vermindern und durch Hebung der Landwirtschaft Kraft und
Wohlstand der ganzen Bevölkerung zu fördern, berühren eine Frage
der Volkswirtschaft, die auch für Italien gerade damals actuelle Bedeu-
tung hatte. Ober solche Gegenstände wird sich Dio mit dem Kaiser
unterhalten haben. Der Abschnitt über die Bordelle § 133 ff. enthalt
eine beredte Aufforderung an die Herrscher und Gesetzgeber, zum Wohle
der allgemeinen Sittlichkeit des Volkes diese Institute wenn nicht auf-
zuheben, so doch so viel als möglich einzuschränken. Auch hier wird
also eine wichtige Seite der socialen Frage behandelt. Man sieht, dass
der Blick des Ethikers nicht mehr auf das Leben des Einzelnen, son-
Bios letzte Lebensperiode. 457
dem auf das grofse Ganze und auf die sittlicheD Zustände der Massen
gerichtet ist. Diese Richtung darf als besondere Eigeutümlichkeil der
letzten Periode gelten. In der Verfolgung der geschlechtlichen Laster
berührt sich der Euboicus mit der ersten tarsischen Rede, wie er anderer-
seits mit der zweiten in der Fürsorge für das Wohl der Armen zu-
sammentrifft. Die Feindseligkeit gegen Schauspieler, Mimen, Tänzer,
die im Euboicus § 119 fr. zum Ausdruck kommt, hat naheliegende Paral-
lelen in der zweiten Rede vom Königtum und in der Alexandrina. Aus
derselben sittlichen Grundanschauung geht es hervor, wenn or. 2 {/teQl
ßaaikelag) § 56 der Herrscher, in der Alexandrina der Demos von
Alexandreia vor den filfioi^ OQxriaxal und a%Qa%ov yikwTog noirjtal
gewarnt werden und wenn im Euboicus den Armen untersagt wird,
durch einen dieser Berufe ihren Lebensunterhalt zu erwerben. — Es
ist ferner klar, wie ich schon an anderer Stelle bemerkt habe, dafs der
ganze Vortrag für ein grofsstädtisches Publicum bestimmt ist. Wenn
sich auch erst mit § 104 die Darstellung ausdrücklich den städtischen
Armen zuwendet, so ist doch unverkennbar auch der erste Teil für
Städter bestimmt. Denn gegen die Unnatürlichkeit'dcr städtischen Cultur
richtet auch er seine Spitze. Es liegt ihm der Gedanke zugrunde, dafs
die Schwierigkeit, ohne Capitalbesitz ein menschenwürdiges Dasein zu
führen, auf dem Lande weniger gröfs ist, als in der Stadt. Der Bauern-
stand ist es, den Dio in erster Linie verherrlicht. Nur weil es unmög-
lich ist, die Besitzlosen aus den Städten alle aufs Land zurückzuleiten
und zu Bauern zu machen, sieht er sich genötigt, auch den städtischen
Armen die Wege zu einem menschenwürdigen Dasein zu weisen. Zweifel-
los ist auch die Verherrlichung des Bauernstandes für Städter bestimmt.
Wir können sogar einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass es
eine Grofsstadt, ja höchst wahrscheinlich Rom selbst ist, für das dieser
Vortrag ursprünglich bestimmt war. Obgleich nämlich der Redner keinen
Ort nennt und seine Betrachtungen ganz allgemein hält, ist doch klar,
dafs er von § 141 an römische Verbältnisse im Auge hat. Nach Dios
Darstellung durchläuft die geschlechtliche Zuchtlosigkeit vier aufeinander-
folgende Stadien. Ausgebend von dem Verkehr mit Weibern, die ausser-
halb der ehrbaren bürgerlichen Gesellschaft stehen, schreitet sie fort
zu den Ehefrauen, sodafs der Ehebruch von der öffentlichen Meinung
als eine alltägliche und selbstverständliche Erscheinung geduldet wird.
Auf der dritten Stufe ihrer Entwicklung wagt sie sich an Mädchen
bürgerlichen Standes, sodafs der Glaube an die Jungfräulichkeit der
Bräute erschüttert wird, um endlich auf der vierten Stufe in der wider-
458 Fünftes Kapitel.
iiatUrlicheo Knabenliebe zu gipfeln. Um seine Behauptung zu recht-
fertigen, dafs die gesetzliche Zulassung der Bordelle nicht, wie manche
behaupten, auf die sittlichen Zustände innerhalb der btirgerlichen Ge-
sellschaft heilsam wirkt, sondern im Gegenteil Ehebruch, Jungfrauen-
und Knabenschändung als weitere Folgen nach sich zieht, beruft sich
Dio auf die Erfahrungsthatsache, dafs in den Städten, wo der Ehebruch
allgemein als etwas selbstverständliches und erträgliches geduldet wird,
auch die Keuschheit der Jungfrauen und Knaben nicht mehr sicher ist
(§ 141 Tzaq olg yag yiai ra rcSv fioiX€iwv (XByaXoTtQBTcioTBQOV Tvaig
7taQanipi7ce%at u. s. w. § 146 Iv Ixelvfj rij noXet u. s. w.). Diese
ganze Schilderung ist unverkennbar auf römische Zustände zugeschDit-
ten. Der Singular § 146 Iv ixelvj] rrj nolet zeigt, dafs Dio an eine
bestimmte Stadt denkt, und dafs diese keine andere als Born ist, zeigt
die Schilderung der vornehmen Jungfrauen in § 145, die wie die Königs-
töchter der Sage iv Tcoza^olg xal iTtl xqtjvwv verführt werden, xcrr
olxlag ovTiog evdalfiovag xriTtiov re xal TtQoaOTelwv TtoXvrekelg
iTcavleig IV not vvpKpüoL naTeaxevaOfiivoig xai ^cev^iaarolg aXasoiv,
at€ ov ftevixqag ovök neviJTtJv ßaoiXiiov o2ag vdQoq>OQ€lv re xal
Ttai^eiv Ttaga volg Ttoxapioig^ '^^Q^ Xovrga Xovofxivag xal iv alyga-
Xolg ava7t€7CTa/iiivoig, aXka (.laxaglag xal fiaxaQlwv yoviaiv^ iv ßa-
aiXixaig xaraytoyalg \'dia navta tavra Ixovaag noXv XQelwova
xal fi€yaXo7tQe7t€at€Qa twv xolvlov. Diese Schilderung ist nicht all-
gemein gültig; sie pafst nur auf die Töchter der römischen Grofsen,
die sich vornehmer und reicher fühlen als jene armseligen ROnigs-
töchler, und auf ihreu Villen, die aa Pracht mit den Besidenzen der
Könige wetteifern, die Flüsse und Brunnen selbst besitzen, an denen
sie sich dem Verführer hingeben. Auch die Schilderung der den Ehe-
bruch ihrer Gattinnen duldenden Ehemänner in § 141 ist typisch fOr
die aus der römischen Litteratur bekannten Verhältnisse der Hauptstadt
während sie auf griechische Verhältnisse nicht pafst. Ist dies richtig,
so ist auch der weitere Schlufs erlaubt, dafs die Bede vor einem römischen
Publicum gehalten ist. Denn dafs der allgemeinen Erörterung bestimmte
örtliche Verhältnisse untergelegt werden, mufs darin seinen Grund haben,
dafs diese Verhältnisse die den Hörern nächstliegenden sind. Die Ab-
schweifung ist so ausführlich, dafs wir annehmen dürfen, sie sei auch
um ihrer selbst willen da und verfolge den praktischen Zweck, den
Hörern selbst die Wahrheit zu sagen. Ist aber die Bede in Born ge-
halten, so ist schon dadurch ihre Entstehung iu der Exilszeit aus-
geschlossen. — Auch der Stil des Euboicus ist der der letzten Periode.
Dios letzte Lebensperiode. 459
In dem zweiten Teil (von § 81 an) verwendet Dio seinen epideiktischen
Stil in höchst gesteigerter Form. Am ähnlichsten in Ton und Satzbau
ist die Dämonenrede in or. 4 und die Olympica. Charakteristisch für
diesen Stil ist besonders, dafs die einzelnen Elemente der Periode Ober
das Bedürfnis des Hauptgedankens hinaus erweitert und ausgemalt
werden. Wie durch das TtXaväa^ac h Xoyoig der Gedankenfortschritt
der ganzen Rede verlangsamt wird, weil der Redner immer wieder vom
geraden Wege ah und in ihn zurUcklenkt, so wird auch die einzelne
Periode durch das Ausmalen der Gedankenelemente langsam zum Ziel
geführt. Besonders kommt diese Eigentümlichkeit in der Häufigkeit der
Participialconstructionen zum Ausdruck. Die Nomina werden oft durch
lange Reihen attributiver Participien bestimmt, von denen jedes mit
seinem Zubehör in einen selbständigen Satz umgeformt werden könnte.
Auch die Construction des genetivus absolutus dient häufig dazu, den
Hauptgedanken durch Angabe causaler oder modaler Umstände aus-
zumalen. Grofs ist die Vorliebe für die Coordination zweier begrifllich
nah verwandter Ausdrücke, die aus dem Streben nach Reichtum und
Fülle des Ausdruckes hervorgeht. Sie erstreckt sich gleichermafsen auf
Substantive und Verba, auf Adjectiva und Adverbia. Durch die Häufung
der attributiven Bestimmungen, die jedem einzelnen HauptbegrifT in
grofser Zahl zugefügt werden und die oft selbst wieder attributiv be-
stimmt sind, entstehen lange gewichtige Kola und grofs ist auch die
Zahl der Kola, aus denen die Periode besteht. Es handelt sich dabei
um lauter Dinge, die in Erzeugnissen jeden Stiles vorkommen können,
die aber in ihrer überwiegenden Häufigkeit dem Stil das Gepräge des
viprjlov und fi€yai.oftQ€7tig verleihen. Andererseits ist das fast gänz-
liche Fehlen der Antithesen, dieses wichtigsten Kunstmittels des agonis-
tischen Stiles, charakteristisch. Der agonistische Stil, für den bei Dio
die rhodische Rede das beste Beispiel abgiebt, sucht durch Scharfsinn
der Enthymeme zu glänzen und wendet sich vorwiegend an den Ver-
stand des Hörers. Dem entspricht der antithetische Charakter des Stiles.
Dagegen sucht der Stil des Euboicus (zweiter Teil), der Olympica, der
Dämonenrede auf das Gefühl zu wirken. Schlüsse und Beweise spielen
hier keine Rolle. Der Redner spricht dogmatisch seine Überzeugungen
aus und sucht durch die Wucht einer vom höchsten persönlichen Pathos
durchdrungenen Darstellung die Zustimmung der Hörer zu erobern.
Der wissenschaftliche Nachweis dieser stilistischen Eigentümlichkeit er-
fordert eine besondere, weitläufige Untersuchung. Hier wird die gegebene
andeutende Charakteristik genügen, um die stilistische Zusammengehörig-
460 Fünftes Kapitel.
keit des Euboicus mit der Olympica zu erweisen und unsere Ansicht
von der späten Abfassung des Euboicus zu bestätigen.
Es soll scblierslich noch für die zweite tarsische Rede, auch eines der
reifen Meisterwerke Dios, denen er seinen berechtigten Ruhm verdankt,
die Zugehörigkeit zur letzten Epoche erwiesen werden. Ich habe sie
von den übrigen Städtereden abgesondert, weil sie einer anderen Rede-.
galtung angehört. Sie ist nicht, wie die erste Tarsica und die Alexandrina,
eine diaXe^ig, sondern eine politische Rede, in der ordentUchen Volks-
versammlung zu Tarsos gehalten und an das ofßcielle Tarsos, das Volk
als politische Körperschaft gerichtet. Sie sucht die Tarsenser über die
inneren und äufseren Gefahren ihrer gegenwärtigen Lage aufzuklären
und die geeigneten Mittel zur Überwindung der Schwierigkeiten an-
zugeben. Es treten daher die ethischen Gesichtspunkte hier ganz gegen
die pohtischen zurück. Dennoch ist sofort klar, dafs die Rede nicht in
die sophistische Periode Dios vor seiner Verbannung gehören kann
wegen § 2 oi; fi^v ovdk hueivo Xav&dvei ixe, ort zovg iv rovrqf
T(j) ax^^fxccTi avvrj&eg (xiv kati voig 7coXXoig Kvviaovg xakelv und
weil er sich in § 3 offenbar zu den Philosophen rechnet. Es erhebt
sich die weitere Frage, ob die Rede in die Exilszeit gehören kann.
Nach der Vorstellung, die wir von Dios Leben und Wirksamkeit währeno
dieser Zeit gewonnen haben, mufs man dies von vornherein unwahr-
scheinlich finden. Das Mitarbeiten an der officiellen Politik und das
Auftreten in politischen Versammlungen pafst nicht für den xlLii/ßag
iavTov d(px^ak/iiwv t€ xal ärwVy den freiwillig aus der bürgerlichen
Gesellschaft ausgetretenen. Ich habe zu zeigen versucht, dafs Die erst
durch seine Restitution wieder der Politik zugeführt wurde und die in
Prusa gesammelten Erfahrungen städtischer und provinzialer Politik
später in seiner kosmopolitischen Wirksamkeit verwertete. Da indefs
dieses Bild von Dios Entwicklung erst durch die Datirung der einzelnen
Reden gewonnen wird, so würden wir uns einer petitio principii schuldig
machen, wenn wir lediglich hieraus die Zeit der Rede bestimmen woUteD.
Glücklicherweise fehlt es nicht an anderweitigen Kennzeichen. Die
Bezugnahme auf den regierenden Kaiser in § 25 ist ganz ähnUch der
m der Alexandrina § 95 ff., die wir für die Datirung jener benutzen
konnten. Wir fanden dort in § 60 das offenkundige Lob Trajans. Wir
sahen das persönliche Verhältnis Dios zum Kaiser sich darin äufsern,
dafs er gewisserniafsen officiös im Sinne der kaiserlichen Regierung
spricht und den Alexandrinern als Lohn loyalen Verhaltens weitere
Wohlthaten und den Besuch des Kaisers in Aussicht stellt Die Stelle
Dios letzte LebeDsperiode.
461
der Tarsica ist an sich weniger klar, erlangt aber durch ihre Ähnlich-
keit mit jener Beweiskraft. Dio stellt den Tarsensern vor, dafs sie sich
bisher kein Anrecht auf die Dankbarkeit und das besondere Wohlwollen
des regierenden Kaisers erworben haben, wie dies Augustus gegenüber
der Fall war. Freilich ist dazu auch keine Gelegenheit gewesen; er
bat die Hülfe der Tarsenser bisher nicht bedurft. Aber es bleibt darum
doch wahr, dafs sie bei ihm vor anderen Städten nichts voraushaben.
Wollen sie also auch fernerhin kaiserliche Huld und Förderung geniefsen,
so müssen sie durch musterhaftes Verhalten {evra^ia xal ro firjde^lav
ahlav öiöovai xa^' avTÜv) diese erst zu verdienen suchen. Es liegt
auf der Hand, dafs Dio so nicht sprechen konnte, wenn es sich um
seinen Todfeind Domitian handelte. Dafs er ein musterhaftes Verhalten
der Bürgerschaft als den sichersten Weg zu der Gunst des Kaisers hin-
stellt, wird man umsomehr als einen Ausdruck seiner Hochachtung
auffassen düi*fen, als ja die sicher auf Trajan bezügUche Stelle der Alexan-
drina denselben Gedanken enthält. — Es kommt hinzu, dafs dies nicht
die einzige Berührung der zweiten Tarsica mit der Alexandrina ist.
Als eine nicht blofs äufserliche, sondern aus der Gesinnung und Denk-
weise der letzten Periode hervorgehende ÄhnUchkeit erscheint es, wenn
sich Dio sowohl in der Alexandrina als in der zweiten Tarsica eine gött-
liche Mission an das Volk zuschreibt. Ich setze beide Stellen her, um
ihre nahe Verwandtschaft zu veranschaulichen:
Tarsica U (or. 34) § 4.
xalTOi TCQOOrpieL ye v/niv, €i pte
di* avTo JOVTO OKOvaai,
fiij yag oiea&e aerovg fikv
noig %6 öiovy xai %r]V naga %(Zv
ToiovTwy avfißovkr]v TCiOTfjv
elvai diQ To av%6 ^ct%ov xal
Alexandrina § 12.
kyw (jlIv yag ov% an ifiavjov
(.lOL öoKü TtgoeXia&ai %ov%o, aXV
vTto daifxoviov tivog yvii-
fiTjg. wv yag ol ^€oi Ttgovoovaiv,
ixelvocg nagaaxevd^ovai xai avft-
ßovkovg ayad'ovg av%ofia% ovg
xtL xal JOVTO ijxLaia vfiäg ani"
oxeiv xgriy nag^ olg f^dkiOTa ftev
TifÄataL %6 daifioviov, (xakiaia öh
avTo deUvvac rfjv avtov övvafxiv
— öta T€ XQ^^h^'^ '^"^ ^*' ovBi"
gdtiüv. fiTj ovv oXeOy^E xoifxuy-
pLivcjv fÄOvov intfiekeia&'ai xov
&e6v kygrjyogotwv de afiekeiv
— § 13 iate örjTCOv tag %ov ^^ini-
dog q>rjfiag hd'dde iv Mificpei
462 Fünfles Kapitel.
%6 d-eiov, avÖQa ök atpiypiivov
ovjwg xal firjöafÄOx^ey vfiiv tzqo-
aijTiovTa jiifj xaza to öai^o-
viov ijii€iv Iqoivza %al avfxßov-
kevoovza, § 5 xaijoL ra fikv rtjv
oliüvdv etxd^eiv öel, twv ök mc
ifjLOv keyofiivwv eariv • axovaaac
avvUvai xal axixpaOx^aiy iav aga
jckr^alov vfxdv, S%i Ttaldeg ccTtcry^
yik'kovai, 7iaiCpvzeg %6 öoxouv T(p
•^e(^y aal tovro aip€vdhg 7fig>rjvev*
6 Ö€ v(jii%eQog &e6g ol^ai, veXei"
6T€Qog üv, dl avÖQCJV vfiag xai
fi€va anovdijg ßovkerai wq>€X€iv,
ou öc^ okLyuiv ^rifiQ%ijJv akk*
iaxvQ^ xaf 7chiiQBi xkrjdovi xal
X6y({ß aag>€i etc.
Ich halte diese Berührungen in demselben Sinne für chronologisch
verwertbar, wie ich oben die Ähnlichkeiten der Alezandrina mit der
ersten Tarsica verwertete. Auch am SchUifs der 38. Hede (ngog Nixo-
firiöeig 7C€Qi ofiovolag T^g jcgog Nixaelg)^ die überhaupt mit der
zweiten tarsischen Rede eine durch die Ähnlichkeit des Anlasses hervor-
gerufene Ähnhchkeit des Inhalts zeigt, kehrt S 51 der Gedanke wieder,
dafs götthche Eingebung den Redner zum Auftreten getriebeo habe:
olfÄai ycLQ xa) avrrjv tavfrjv rijv agx^'^ 7caQ* ixeivtov (seil. xcJy •S'ewv)
yeviad'ai xac ov'd. av alkojg ijceX&elv fioi Tok^rjoai ticq! TtilixovTau
Tigayfiatog iv ifxiv Xiyeiv, vTtkg ov firjdeig TtQovBQog eine. Aber
diese Ähnhchkeit ist nur eine ganz allgemeine und auch die übrigen
Ähnhchkeiten der 38. Rede mit der zweiten Tarsica werden sich kaum
chronologisch verwerten lassen, weil sie zu sehr durch den Gegenstand
gegeben sind. In unserem Falle stimmt nicht nur der allgemeine Ge-
danke, dafs der Redner Werkzeug göttlicher Absichten sei, sondern auch
die rhetorische Ausgestaltung des Gedankens ist dieselbe. Beidemal ver-
gleicht der Redner sein Auftreten mit andern in der betreffenden Stadt
herkömmlichen OfTenbarungen der Gottheit und nimmt für das klare
und vernünftige Männerwort vor anderen durch minderwertige Medien
vermittelten und wegen ihrer Unklarheit der Deutung bedürftigen Offen-
barungen den Vorrang in Anspruch. — Die Stelle Ober die Kyniker
§ 2 berührt sich mit or. 72 (7ceQi xov axrifJLatog)^ wo die Klage Ober
die rohe Behandlung wiederkehrt, der die Kyniker von selten des Volkes
ausgesetzt sind. Die Worte aber in § 3 oi; yaQ iaviv ovdelg q)ik6-
aofpog iiov aöixiuv xal 7tovriQWVy ovo' av T(iv avdgidvrwv 7f€Qitjj
yvfivÖT€Qog klingen stark an eine Stelle der Rede in Kelainai an § 3:
cpr]liÄi loivvv ovöhv oq)ekog elvai tolg yvfxvijai tovTOig, Ttgog ye t6
öixaiov xal oiuipQoovvrjv akrjx^rj xal cpQOvr^atVy ovö^ av %%i fJiaiXov
dTtoövoiüVTai xal yv/iivol 7ieQL'iQixix}0L %ov xeifxtZvog xxÄ. £rwähniiug
verdient wohl auch, dafs in der zweiten Tarsica wie in der Alexandrina
Dios letzte Lebensperiode. 463
der Reüuer anfiiDglich mit eioer Abueigung des Volkes zu kämpfeo hat,
uod zweifelt, ob maD ihn ausreden lassen wird. Beidemal wird dann
in sehr ähnlicher Form constatirt, dafs es ihm gelungen ist, sich Gehör
zu verschaffen. Tars. II § 6 q)iQB ot^v inel aiiDJcate -Aal vTtofiiveze xtA.
Alexandr. § 30 XdezB dk avtovg Iv %i^ naQovri tlol Stov tu avyrj&t]
%^6WQf]t€ oloi loT€ — wote el fiTjöhy akko, tovto ye vfiiv 6 koyog
jcagioxTiTLev ov fiixgov, filav Üqov ooxpQovfiaau
Durch diese Beobachtungen ist nachgewiesen, dafs die Olympica
und Alexandrina, die beiden tarsiscben Reden, die Rede in Kelainai und
der Euboicus der mit 105 beginnenden Periode in Dios Leben ange-
hören, einer Periode, in der der greise Redner von neuem die Städte
des Ostens bereiste, um als Wanderprediger zu wirken. Es sind vor-
wiegend diese Werke, denen er seinen Ruhm verdankt. Eine genauere
Datirung der einzelnen Reden oder auch nur die Feststellung ihrer
Reihenfolge wird schwerlich gelingen. Nicht einmal das können wir
mit Bestimmtheit sagen, ob alle diese Reden in die Zeit zwischen 105
und 112 fallen. Schon vor diesem Jahre, für das uns der Briefwechsel
des Plinius mit Trajan Dios Anwesenheit in Bithynien bezeugt, kann
Dio nach Prusa zurückgekehrt sein. Es ist wahrscheinlich, da& er dort
wieder seinen ständigen Wohnsitz hatte und von dort aus die Reisen
unternahm, auf denen die Reden gehalten sind. Es ist auch möglich, dafs
einige dieser Reisen nach 112 fallen. Aber wahrscheinlich ist es nicht,
dafs sich seine Wirksamkeit und sein Leben weit über diesen Zeitpunkt
hinaus erstreckt haben. Er mufs damals annähernd siebzig Jahre alt
gewesen sein, und seine mehrfach erwähnte Kränklichkeit macht es nicht
wahrscheinlich, dafs er ein viel höheres Alter erreichte. Von jüngeren
Sophisten werden Polemon und Favorinus als Dios Schüler bezeichnet.
Von ersterem heifst es bei Philostratus vitae soph. I p. 231 : q)r}aiy 6
Ilokifiüiv TjXQoäa&ai Tcal Jlwvog anodrjfilav vtiIq tovtov atelkag
lg %6 Tüiv Bl&vvwv e&vog. Dieses uxQoaa&ai ist natürlich als ein
Schülerverhältnis aufzufassen. Der Besuch Polemons in Prusa fällt also
in seine Studentenzeit, etwa zwischen sein zwanzigstes und fünfund-
zwanzigstes Jahr. Polemon, der schon von Trajan als berühmter Sophist
das Privileg erhielt y^a%ekfi jeogevea^ai äia yfjg xal ^akatxrjg^ und
unter Marc Aurel im Alter von 56 Jahren starb, kann nicht vor 82 und
nicht nach 87 geboren sein. Es scheint aber, dafs er noch mehrere
Jahre unter Marc Aurel lebte, sodafs seine Geburt um 85 gesetzt werden
kann. Daraus ergiebt sich, dafs der Besuch des jungen Polemon in
Prusa nicht vor 105, aber auch schwerlich nach 112 fallen kann.
464 , FOnftes Kapitel.
Aiifser den aufgezählten Reden fällt sicher in diese Periode der
durch or. 57 (NiarwQ) bezeugte wiederholte Vortrag der Königsrcden
vor einem gröfseren Publicum.
Unsere Untersuchung über die Abfassungszeit der einzelnen Reden
hat uns schon zur Besprechung der formalen Merkmale geführt, die den
Werken dieser Periode gemeinsam sind. Wir fanden in ihnen eine
teilweise Rückkehr Dios zu den Formen der Sophistik, die durch die
veränderten äufseren Bedingungen seiner Thätigkeit hervorgerufen war.
Er stand auf der Höhe seines Ruhmes und fand überall, wo er auftrat,
ein grofses' Publicum, das ihn zu hören begierig war. Damm mufste
er zu Darstellungsformen greifen, die zur Beherrschung grofser Massen
geeignet sind. Naturgemäfs ergab sich hieraus eine Annäherung an die
Sophislik. Die das persönliche Verhältnis des Redners zu seinem
Publicum begründende ngolahd war für ihn ebenso unentbehrlich
wie für die Sophisten. Im Stil mufste er sich, um zu wirken, dem
herrschenden Geschmack bis zu einem gewissen Grade anpassen. Eine
grofse Volksmasse ist für die nüchterne logische Behandlung wissen-
schaftlicher Probleme nicht empfänglich. Auch lag Dios Begabung nicht
nach dieser Seite. Er wollte auf die Gesinnung und das aus der Ge-
sinnung entspringende Handeln der Menschen einwirken. Darum ver-
Pahrt er nicht wissenschaftlich, sondern dogmatisch. Nicht durch logisches
Beweisverfahren, sondern durch den wuchtigen Ausdruck eigener Ober-
zeugung sucht er die Hörer zu seinen Ansichten zu bekehren. Diesem
Zweck ist auch der Stil angepafst. Er zeigt verschiedene Spielarten, aber
alle sind aus der lebendigen, natürlichen Beredsamkeit entwickelt, die
der Stegreifrede im Gegensatz zur schriftlich ausgearbeiteten Rede
eigentümhch ist. Es ist ein der Wirkung auf grofse Massen angepafstes
öialiyea&ai, das sich manchmal zu einer grofsartigen und erhabenen
Beredsamkeit erhebt. Die Vorbilder dieser äeivoTtjg hat Dio nicht bei
Demosthenes, sondern bei Plato gefunden.
Es ist eine schwierige Frage, inwieweit auch die grofsen epideik-
tischen Reden der letzten Periode Siegreifreden sind. Es widerstrebt
dem natürlichen Gefühl, solche kunstreiche Gebilde, wie etwa die Olym-
pica und den Euboicus, als Eingebungen des Augenblicks zu betrachten.
Dazu kommt, dafs es hier fast ganz an Spuren fehlt, die auf das Vor-
handensein abweichender Nachschriften und auf den Mangel einer von
des Autors Hand ausgehenden, geschlossenen Oberlieferung gedeutet
werden müfsten. In der Rede in Kelainai steht § 11. 12 eine lange
Auseinandersetzung über den bekannten ronog, dafs die Philosophen-
Dios letzte Lebensperiode. 465
trachl (hier speciell %6 xofiay) keio sicheres Kennzeicheo des Philo-
sophen sei. Ao der Stelle, wo sie steht, unterbricht sie zweifellos den
Zusammenhang. Deou die Worte %av%a fiiv ovv OTiswg noih €X^
keUx^iü bilden den Abschlufs der nQohxXia. Es konnte nach diesen
Worten nicht wieder auf den schon an früherer Stelle §2-3 behan-
delten zoftog zurückgegriffen werden. MOgUch ist es, die §$11.12 als
Dublette jener früheren Stelle aufzufassen. Sie können ohne Schä-
digung des Zusammenhangs an Stelle der Worte § 2 «/ yag %ovvo
aXzLOv — § 3 nqiTtovTa av%oig treten. Aber möglich ist es auch,
dafs die Stelle nicht aus einer andern Fassung der Rede, sondern aus
einer andern Rede stammt, in der der beliebte voTtog TteQi xov axi^^
lAOJog behandelt war. Diese zweite Möglichkeit scheint mir sogar mehr
für sich zu haben. Es ist nicht anzunehmen, dafs Dio eine so auf die
örtlichen Verhältnisse zugeschnittene Rede, wie die in Kelainai, in
andern Städten wiederholen konnte. Das durfte er sich wohl bei all-
gemein gehaltenen moralischen Retrachtungen erlauben. Auch die TtQog
%6v avzoxQOTOQa Qtj-d'ivveg Jioyoc hatten allgemeines Interesse. Aber
Reden wie die tarsischen, die Alexandrina, wie die in Kelainai enthielten
zuviel individuelles, um wiederholt werden zu können. Wir werden
hierin den Grund zu erkennen haben für die geschlossene Oberlieferung
der Städtereden. Freilich schliefst der individuelle Charakter einer
solchen Rede nicht aus, dafs sie einzelne Abschnitte enthielt, die sich
zu öfterem Gebrauche eigneten. Von dieser Art ist die nqoXaXia der
Rede in Kelainai. Es ist denkbar, dafs der Redactor sie noch in einer
andern Stadtrede verwendet fand, dort aber mit abweichender Aus-
führung des %67tog n^ql %ov xofiävj und dais er sich hierdurch ver-
anlafst sab, jenen Abschnitt dem Prooemium unserer Rede als Anhang
beizufügen. — In der ersten Tarsica findet sich § 7 (piQe öfj Ttqog
TLJV ^edv — § 8 anüTtuirta läv ein Abschnitt, der an der Stelle, wo
er überliefert ist, den Zusammenbang stört. Das zeigt sich gleich, wenn
man die Anfangsworte von § 9 in ihrem Verhältnis zu dem vorausgehen-
den untersucht, ^ortalze 8h %6 nqayiia olov iativ, eine Aufforde-
rung zu besserer Überlegung der Sache, kann sich nur anschliefsen an
die Erwähnung einer irrigen Ansicht der Hörer (wie § 37 o%O7C0vv%(üv
8k ofiwg avTol to ngäyf^a ovttjg). Denn da eine Oberlegung des
ganzen Gegenstandes, nicht nur eiuer Seite desselben gefordert wird,
so ist der Schlufs berechtigt, dafs im voraufgehenden keine Aufklärung
über ihn enthalten war. Das 8h hat daher nicht anknüpfenden und
weiterführenden, sondern notwendig adversativen Sinn. Nun enthält
▼.Arnim, Dio. 30
466 Fünftes Kapitel.
aber der nach der Oberlieferung dem anonelte vorausgehende Satz den
vollen Ausdruck der nach der Meinung des Autors richtigen Ansicht:
Tov ovv q)ii,6aoq)oy ^q^Ittov iari toZq fcokkoig aiüi7cwvTa iav»
Es kommt hinzu, dafs diesem axoTteite ein anderes axoTcelte nach dem
Überlieferten Context unmittelbar vorausgeht. Das ist hier anstOfsig^
weil das frühere axofceije zu einer viel specielleren Oberlegung auf-
fordert und deshalb das spätere, nur auf das nqayiia im allgemeinen
bezogene axo7C€iT€ post festum kommt. Ferner gelangt der Redner in
§ 16 zu dem Gedanken, der auch in dem Abschnitt § 7. 8 ausgedrückt
ist. Die dort mitgeteilte aesopische Fabel von den Augen, die Honig
essen wollten und Thränen vergossen, als ihr Wunsch erfüllt wurde,
hat für den Gedankengang der Rede genau dieselbe Function wie die
Anekdote von den Iliensern, die einen tragischen Schauspieler auffordern^
ihnen seine Kunst zu zeigen, und die Antwort erhalten: Lafst mich in
Rubel Denn je besser ich spiele, desto unseliger werdet ihr erscheinen.
Dafs die Rede zweimal auf denselben Gedanken zurückkommt, wäre ja
an sich möglich. Ihn beidemal durch Geschichtchen zu veranschaulicheir,
die jeder Hürer sofort als dem Gehalte nach sich deckend erkennen
mufs, wäre eine Geschmacklosigkeit, die ich Dio nicht zutraue. Doch
fragen wir lieber zunächst, ob wirklich der Gedanke an beiden Stellen
durch den Zusammenhang gefordert wird. An der zweiten Stelle (§ 16)
bildet der Gedanke in seiner drastischen Einkleidung durch die aesopische
Fabel den rednerisch wirksamen Abscblufs des ganzen Prooemiums. Die
Voraussagung, dafs den Hörern die Wahrheit bitter und unerträglich
vorkofmmen wird, ist dort wohl motivirt durch die Worte in § 15: ov
yciQ vfxuiv TcaQBOTLevaOTat ta WTa bis koyoig xpevöeai. An der früheren
Stelle geht nichts voraus, was die Unempßinglichkeit der Tarsenser
für den Freimut des Sittenpredigers charakterisirte. Es ist vielmehr im
vorausgehenden allgemein von ol nokXol die Rede. Die Leute irren
sich, wenn sie von den Vorträgen des Philosophen Genufs und Unter-
haltung erwarten. Der Philosoph ist ein Arzt. Nicht Genufs bringt er,
sondern Heilung. Dafs diese heilende Thätigkeit des Seelenarztes für
den Patienten stets schmerzhaft ist, dafs sie in bitterer und verletzender
Scheltrede besteht, ist im vorausgehenden nicht gesagt. Es wird erst
in § 9. 10 an dem Beispiel der Atliener und des Sokrates gezeigt. Dafs
der Redner speciell an den Tarsensern viel zu tadeln findet — das hier
schon in dieser unverblümten Weise auszusprechen, würde verfrüht
sein. Es mufs um der rhetorischen Steigerung willen bis gegen Ende
des Prooemiums aufgespart werden, das in diesem Gedanken gipfeh. Mit
Dios letzte Lebensperiode. 467
gutem Bedacht hat deshalb Dio in § 7, nach der Schilderung des wahren
Arztes und seines Verhältnisses zu den Patienten nicht gesagt: ramo
^01 ncTCov^ivai 6ox€lT€ ificig ^wiovreg Irt ifii, wie man nach den
directen Anreden in § 5 ('qyeia^e. inalgea^e, xaLge^By TtBTtovd-azBy
d-avfxat^exe) erwarten sollte, sondern generell: tavzo fAOi Ttercov&ivai
öoxovaiv ol noXXol ^viovreg ItvI %dv roiovtov. Dieses Ablenken
von der im vorhergehenden gebrauchten directen Anrede zu der gene-
rellen Darstellungsform ist ein retardireudes Moment, das der Rede-
künstler mit voller Absichtlichkeit anwendet, um durch die spätere
Rückkehr zur zweiten Person eine Steigerung zu erzielen. Diese Rück-
kehr und Steigerung erfolgt erst § 13 ei ä^ aga ifieig iTtaivov^evoi
fiäkkov rfiead-By nachdem in §9 — 13 tcDv Inatvovvzwv einerseits die
verletzende und erbitternde Wirkung, andererseits der hohe Wert und
die Gotlgef^lligkeit des philosophischen Freimutes durch Beispiele be-
wiesen ist. Der Abschnitt in § 7. 8 mit dem Beispiel der flicnser
durchbricht also die Anlage des ganzen Prooemiums, indem er durch
plumpes Vorausnehmen der stärksten Anzüglichkeit die allmähliche Steige-
rung der Anzüglichkeit aufhebt. Dafs Dio diesen Kunstfehler nicht be-
gangen hat, zeigt jenes doppelte axoneite, von dem die Rede war. Die
Worte sind also hier auszuscheiden. Dadurch wird ein passender Zu-
sammenhang hergestellt. Denn an den Gedanken : „die Menge, die dem
Philosophen zuläuft, weifs offenbar garnicht, wie Wahrheit schmeckt, und
erwartet irriger Weise etwas angenehmes zu hören ^ schliefst sich pas-
send an: „überleget aber, wie es um diese Sache (nämlich die Predigt
des Philosophen) steht. Das Verhalten der Athener zeigt, dafs ihnen die
Vorwürfe des Sokrates viel unangenehmer waren, als die der Komiker.
Sie, die doch gewohnt waren, sich von den Komikern derb die Wahr-
heit sagen zu lassen, fanden den Freimut des Sokrates unerträglich.^
Das Beispiel zeigt, wie irrig jene Erwartung der Menge ist und wie
bitter die Wahrheit schmeckt. — Der ausgeschiedene Abschnitt kann
aber auch nicht einfach an die Stelle des Parallelabscbnittes in § 16
gesetzt werden. Denn auf den Schlufssatz: tov ovv (piX6aoq>ov xQelt-
Tov iazi volg noklolg oiwnwvTa lav kann nicht § 17 fiyela^e fxiv
yctQ u. s. w. folgen. Es ist ja auch klar, dafs eine Rede wie die erste
tarsische sich nicht zur Wiederholung in anderen Städten eignete. Aber
vielleicht gab es ein anderes Prooemium mit ähnlichem Gedankengang,
in dem jener Abschnitt vorkam.
Noch an einer zweiten Stelle derselben Rede, § 38, habe ich in
meiner Ausgabe eine Störung des Zusammenhanges durch die Annahme
30*
468 Fönftes Kapitel.
doppelter Fassung zu heben versucht. Dafs die erste Hälfte von § 38
oQa ayvoelTB — cnnol noulve den Zusammenhang unterbricht und
an diese Stelle nicht gehören kann, halte ich auch jetzt aufrecht, nicht
die damal» vorgeschlagene Hypothese doppelter Recension. Nachdem
Dio in § 32 — 36 einen ersten Vorstofs gegen die ^tvoTtxvTtla der Tar-
senser unternommen hat, läfst er sich den Einwand machen, dafs es auf
solche Dinge nicht ankomme, wenn nur der materielle Wohlstand der
Stadt gedeihe. Diesen Einwand widerlegt er, indem er beispielshalber
eine Reihe unberechtigter Eigentümlichkeiten einer Stadtbevölkerung
üngirt, die an sich unerheblich, doch wenn sie der ganzen Bevölkerung
eigen wären, der Stadt die grofste Schmach eintragen würden. Angenom-
men es käme Jemand in eine Stadt, in der alle die Gewohnheit hätten,
statt des Zeigefingers den Mittelßnger zum Zeigen zu benutzen, was
würde er von dieser Stadt halten? Wie, wenn alle in einer Stadt mit
aufgeschürzten Kleidern gingen, als ob sie im Wasser wateten? Wie,
wenn alle Männer der Stadt plötzlich mit Weiberstimme sprächen?
Würde man nicht ein Zeichen göttlichen Zornes darin erblicken und
die Orakel befragen? Zwischen diese drei offenbar parallelen, eine Reihe
bildenden Annahmen sind nach der zweiten die Worte eingeschoben:
„wifst ihr nicht, dafs euch die ^ivoxTVTcla schon bei euren Feinden
den Spottnamen xcQxlöeg eingetragen hat? Aber, sagen die Gegner,
ihr braucht euch nicht darum zu bekümmern, was andere über euch
reden, sondern was ihr selbst thut.^ Hierin ist auch eine Widerlegung
jenes Einwandes, aber eine Widerlegung ganz anderer Art, und dann
ein neuer Einwand der Gegner enthalten, der Widerlegung fordert. Dafs
die Worte an diese Stelle nicht gehören, ist evident. Denn erstens geht
es nicht an , dafs der Ablauf jener ersten , in sich gleichartigen hypo-
thetischen Widerlegungsreihe durch eine Widerlegung ganz anderer Art
unterbrochen werde, die nicht mit hypothetischen Fällen, sondern mit
einer wirklichen Thatsache operirt. Zweitens verlangt man durch den
zweiten Einwand der Gegner einen Fortschritt des Gedankens herhei-
gefUhrt zu sehen. Es mufste vor ihm nur die üble Nachrede anderer
und nach ihm das eigene Urteil der Tarsenser berücksichtigt werden.
In dem überlieferten Text aber beruft sich Dio schon vor dem zweiten
Einwand auf das eigene Urteil der Tarsenser {anoTtovvTCJv ök of^wg
avfol To fCQay^ia ovTUig . €% xig avzwv nagayivoito eig ttoXw
7CoLav Tiva rjyT^aovTai ti^v ftokiv;), während nach dem zweiten Ein-
wand die zu seiner Widerlegung unentbehrliche Berufung auf das eige ue
Urteil fehlt. Diese Anstöfse lassen sich am einfachsten durch eine
Dios letsU LebeDsperiode. 469
UmstelluDg beseitigen ^ indem man die ausgeschiedenen Worle in § 37
hinter ta x^ia einschiebt. So entsteht ein rednerisch wirksamer Ge^
dankenfortschritt. Denn eine Steigerung ist es, wenn der Einwand der
Unerheblichkeit des von Dio gerügten Fehlers zunächst nur durch den
Hinweis auf die üble Nachrede, die er hervorgerufen hat, erledigt wird,
und dann erst, wenn sich die Tarsenser über diese Nachrede hinweg-
setzen wollen, an ihr eigenes Urteil appellirt wird. Hier also wäre eine
Spur doppelter Recension der Rede nicht nachgewiesen.
Aber sehr merkwürdig ist es, dafs in der Alexandrina ein Satz steht,
der in § 33 fast wörtlich wiederkehrt:
§ 30 wate el ^r^dkv allo, %ov%6
ye vfilv 6 koyog naQioxn^^ ov
fiiXQOv, ptlav Üqov auHp^orqoai.
xal yccQ Tolg vooovai fieyaXr] ^OTcfj
TtQog aiüTtjQlav fiixQov fiavxaoaoiv.
§ 33 (jJOT^ ei fitjdkv Silo mag-
iaxTjxev vfiiv {liya 6 loyog, rovto
yovv OTi xoaovTov xqovov xad'rjO&e
awipgovovvreg. ymI yaq roig vocov-
Ol f^eyakrj ^ojfq nQog acjrrjglay
fAinQov fjGvxfioaaiv.
Zweifellos sind die Worte in § 30 auszuscheiden. Denn dieser
wichtige Satz, in dem der Redner emphatisch constatirt, was er mit
seiner scheinbar ziellos umherirrenden Rede bisher schon nützliches
erreicht hat, konnte unmöglich wie eine nebensächliche Remerkung
zwischen die Glieder der Antithese vvv {liv iv de %alg aXXaig
üTtovöaig eingeschoben werden. Die Wiederholung des Satzes inner-
halb einer und derselben Fassung der Rede ist natürlich unmöglich.
Aber auch die Annahme empfiehlt sich nicht, dafs der Gedanke in
einer zweiten Redaction der Rede an anderer Stelle als in 4er ersten
stand. Denn nur an der zweiten Stelle, in § 33, sitzt der Satz wirk-
hch fest im Zusammenhange; an der ersten Stelle, in § 30, ist er un-
erträglich und wird durch seine Entfernung der Zusammenhang gebes-
sert. Aber mit der blofsen Ausscheidung ist der Satz nicht abgethan.
Einem Interpolator können wir den Einschub nicht zutrauen. Denn,
von allem übrigen abgesehen, bliebe dabei die merkwürdige Variirung
des Wortlautes unerklärt. Wenn ein Interpolator das Redürfnis empfunden
hätte, die auf der folgenden Seite vom Redner gebrauchten Worte hier
einzuschieben, welchen Zweck hätte es gehabt, sie in dieser unerheb-
lichen und doch schwerlich blofs versehentlichen Weise abzuändern?
Ich sehe nur eine Möglichkeit wahrscheinlicher Erklärung. Die Stelle
in § 30 war als varia lectio zu § 33 vom Redactor beigeschrieben.
Zwischen zwei Columnen der Papyrushandschrift gestellt, ist sie ver-
sehentlich in die vorausgehende statt in die folgende hineingeraten. Die
470 Fönftes Kapitel.
Abweichung der beiden Stellen beruht hauptsächlich auf verschiedener
Anordnung der Worte. Von tovro ye vfiiv 6 ijoyog nagiox^j^^v ov
fiiXQov ist Ttagiaxtiy^Bv vfilv f^iya 6 koyog xovxo yovv eine Permu-
tation, die sich durch die Zahlenreihe 4, 2, 5, 3, 1 ausdrücken läfst.
Aufserdem steht in der zweiten Fassung yovv für ye^ fiiya für ov
fitxQov und als bemerkenswerteste Abweichung ort %oaovtov xqovov
xd&tja&e a(oq)QovovvT€g für filay vjgav aü)q>Qovijaai. Wir werden
eine derartige Abweichung nicht aus wiederholtem Vortrag der Rede,
auch nicht aus einer vom Autor nachträglich angebrachten Besserung,
sondern einfach aus abweichender Nachschrift zweier Tachygraphen zu
erklären haben. Gerade die Wortfolge wird erfahrungsgemäfs beim Nach-
schreiben gesprochener Rede leicht geändert und die drei anderen
Varianten konnten entstehen, indem der Schreiber die unzureichend
mitgeschriebene Stelle, über deren Gedanken er nicht im Zweifel war, bei
der nachträglichen Durchsicht seiner Nachschrift einzurenken bemüht
war. Vielleicht ist auch der Abschnitt in § 52, den ich in meiner Aus-
gabe, weil er den Zusammenhang unterbricht, als Interpolation aus-
scheiden zu müssen glaubte, aus ähnlichen Gründen an falscher Stelle
in den Text geraten. Dafs der Abschnitt an diese Stelle nicht gehören
kann, wird mir jeder zugeben, der den Gedankengang versteht Dio
läfst sich den Einwand machen, dafs es in der Natur solcher öffent-
lichen Vorstellungen liege, das Publicum in Aufregung und Unruhe zu
versetzen : vij JLa, t6 yoQ nQayfia ioxi <pva€i xoiovxov. Dieser Ein-
wand wird durch die Bemerkung erledigt, dafs ja auch in anderen Städten
solche Aufführungen stattfinden und doch nirgends zu solchen Aus-
schreitungen fuhren wie in Alexandreia. Daran setzt eine generelle
Betrachtung an, in der bewiesen wird, dafs nicht allein im Theater,
sondern für alle Thätigkeiten bis -hinab zu den einfachsten und alltäg-
lichsten Lebensfunctionen, wie essen und gehen, der Unterschied ver-
ständigen und zuchtlosen Verhaltens bestehe. Zu dieser Generalisirung
wird übergeleitet mit den Worten: Inel %al vuv akXutv evgi^aofiev
za TtXeioxa ravta TtgazTovrag roig avoi^roig rovg G(jig)Q0vag, olov
ko&lovTag ßaöl^ovrag fcal^owag d'ewQovvrag — äiaq)iQovoi fiivTOi
tcbqX Tatra ftdvTa. Der Reihenfolge der aufgezählten Thätigkeiten fol-
gend weist Dio den Unterschied von Anstand und Unanständigkeit zuerst
§ 53 am lod-Leiv, dann § 54 am ßadl^eiv nach. Hieraus ergiebt sich,
dafs der Abschnitt über die Rhodier, der vom ßaditeiv handelt, wenn
irgendwo in unserer Rede, in § 54 an seinem richtigen Platze stehen
würde. Dagegen kann er nicht vor die Einleitungsworte der generali-
Dios letzte Lebensperiode. 471
sirendeD BetracbtUDg geliOreD, für dereD zweite UoterabteiluDg et ein
Beispiel bringt. Auch müfsteD, wenn die überlieferte Abfolge der Sätze
die ursprüDgliche wäre, die Worte TcJy aklcjv "auf die übrigen mensch-
lichen Tbätigkeiten aufser &€(üq€Iv und ßadl^eiv bezogen werden ; und
doch werden ak Beispiele dieser tcc alla sowohl ßaöl^eiv als d'ewgelv
angeführt Die Anführung des ^ewgelv beruht lediglich auf einer Nach-
lässigkeit des Redners, die beim letzten Gliede der Aufzählung am ersten
entschuldbar war. Das ßadl^eiv, das gleich nach dem lad-letVy an
zweiter Stelle steht und in $ 54 hernach besonders behandelt wird, hätte
nicht unter ta Skia begriffen werden können, wenn unmittelbar vorher
schon vom ßadl^eiv die Rede gewesen war. Auch ist ein verständlicher
Zusammenhang des § 52 mit den nach der Oberlieferung vorausgehenden
Sätzen nicht vorhanden. Erst durch die Generalisirung, die mit iTiei
xai Twv allwv einsetzt, wird ein solcher hergestellt. Ich glaube jetzt,
dafs der Abschnitt echt, aber uach^Ttgog ^€qov § 54 umzustellen ist.
Die Worte ovdk t6 ägaficiv bilden dann eine Steigerung gegenüber
den vorher in § 54 aufgezählten Unschicklichkeiten. Wie aber ist die
Versetzung der Worte zu erklären? Es liegt wohl nahe, das Ergebnis
unserer Untersuchung über § 30. 33 hier anzuwenden und anzunehmen,
dafs der Abschnitt über die Rhodier in einer der beiden von dem
Redactor benutzten Handschriften fehlte und aus der anderen am Rande
nachgetragen wurde. Doch lege ich im gegenwärtigen Zusammenhange
nur darauf Wert, dafs eine variirende Wiederholung der Rede durch
den Autor selbst aus diesen Stellen nicht erschlossen werden kann.
In den übrigen Reden der letzten Periode, der Olympica, dem
Eubpicus, der zweiten tarsischen Rede, habe ich Dubletten nicht ge-
funden.
Es sind also in dem Gberlieferungszustand der Reden dieser Gruppe
keine Erscheinungen nachweisbar, die auf den Hangel einer authentischen
Edition oder einer Handschrift des Autors selbst hinwiesen. Anderer-
seits sind diese Reden so stattliche, gehaltvolle, der Form nach ab-
gerundete Kunstwerke, dafs man sich schwer zu der Annahme improvi-
satorischer Entstehung entschliefst und auch glauben möchte, Dio werde
selbst dafür gesorgt haben, solche Erzeugnisse in reiner und würdiger
Gestalt der Nachwelt zu überliefern. Die zweite Frage ist, wie leicht
ersichtlich, von der ersten ganz unabhängig. Es ist denkbar, dafs Dio
die zunächst aus dem Stegreif vorgetragenen Reden später auf Grund
der vorhandenen Nachschriften selbst edirte und bei dieser Gelegenheit
die erforderlichen Nachbesserungen vornahm. Die Annahme, dafs unser
472 Fanftes Kapitel.
Text auf eise authentische EklitioD zurückgeht, hat als die nächstliegende
zu gelten, wo uns fertige, abgerundete Werke in geschlossener Über-
lieferung vorliegen. Die erstmalige Entstehung der Reden kann darnm
doch eine improvisatorische gewesen und der hierdurch bedingte Charak-
ter von luhalt und Stil auch bei der Edition ihnen gewahrt worden
sein. Der aus dem Beichtum des Inhaltes und der Abrundung der Form
hergeleitete Einwand hat aber offenbar nicht viel auf sich. Einerseits
dürfen wir auf die langjährige Gbung im Stegreifreden hinweisen, die
den Redner in seiner reifsten Periode zur vollkommensten Reherrscbung
dieser Kunst führen mufste. Sodann ist es ja selbstverständlich, dafs
allen derartigen Reden eine Meditation voranfgehen mufste. Was ich für
unwahrscheinlich halte, ist nur die vorherige schriftliche Ausarbeitung
der ganzen Rede. Es ist mit meiner Auffassung wohl vereinbar, dafs
einzelne Abschnitte schriftlich vorbereitet waren. Wir wollen daher ohne
Voreingenommenheit und voreilige Verallgemeinerung jede einzelne Rede
darauf prüfen, ob sie Spuren improvisatorischer Entstehung an sich trägt.
Ich beginne mit dem Euboicus. Dafs dieser zu der Gattung der
Siai^^eig gehört, also in erster Linie auf mündlichen Vortrag berechnet
ist, wird niemand leugnen, der ihn aufmerksam gelesen hat. Der im
Vergleich zu anderen dionischen Reden ungewöhnlich grofse Umfang,
der vor der Verstümmlung am Anfang und am Ende noch erheblich
grüfser gewesen sein mufs, legt, wie früher bemerkt, die Vermutung
nahe, dafs der Euboicus in zwei Teilen an aufeinanderfolgenden Tagen
zum Vortrag gelangte. Natürlich wäre dann der zweite Teil mit § 103
zu beginnen. Der Schlufs des ersten Teils enthält, wenn auch leider
durch Textverderbnis entstellt, das ausdrückliche Selbstzeugnis Dios, dafs
er diese Rede, bei der man sonst am wenigsten daran denken würde,
improvisire, und bildet ^o das wichtigste Fundament meiner Ansicht.
Nachdem Dio in § 81—97 eine euripideische Sentenz, die den hohen
Wert des Reichtnms zugesteht, ziemlich ausführlich bekämpft hat, recht-
fertigt er in § 98 — 101 solche Polemik gegen die Dichter als die zweck-
mäfsigste Art, den Meinungen der unphilosophischen Menge entgegen
zu treten. Er fügt in § 102 hinzu, dafs sie längst bei den Philosophen
üblich sei. So habe z. B. einer der grofsen Philosophen — Kleanthes,
wie sich aus Plut. quom. adul. poöt. aud. 33 c ergiebt — eben diesen
Versen des Euripides und einem Ausspruch des Sophokles über den
Reichtum widersprochen: heivoig (aIv In oXLyov, rolg ök %ov 2o-
q>OY.Xiovq hei nliov, ov ^ijV, waneg vvv fj^elg, dia fianQwv, Sre
oi TVQog %ü XQrjfia xora TtoXXr^v e^ovalav die^iwv, aX), iv ßlßXoig
Dio8 letzte Lebensperiode. 478
yQCLtpwv- — Statt des sinnlosen nqog %o XQV^^^ ^^^ Handschriften habe
ich TtaQttXQtj^ia geschrieben und glaube damit das richtige getroffen zu
.haben. In der aberlieferten Lesart ist t6 xQW^ schlechthin unver-
ständlich, da ja der Gegenstand rednerischer oder schriftstellerischer
Darstellung nicht ein XQW^f sondern ein ngayi^a ist; und wenn TtQog
to XQTifia bedeuten sollte y,zur Sache^, so würde der Gegensatz zu Iv
ßlßkoig yQaqxüv verschoben. Denn gerade darin findet ja Dio den
Unterschied seiner VorlrUge von der schriftstellerischen Darstellung, dafs
er sich nicht so streng an „die Sache^ d. h. an das aufgestellte Thema
zu halten braucht. Ist aber ngog to XQhh^ sprachlich und sachlich
unmöglich, so dürfte TcaQoxQW^f ^^^ ^"^^ ^^"^^ ^^^ Bezeichnung der
Stegreifrede gebraucht wird (gewöhnlich Ix tov TtaQoxQ^^io einehi)
die nächstliegende Änderung sein. In der That kann zur schriflstelle-
rischen Darstellung kein schärferer Gegensalz gedacht werden als eine
freie mündliche Mitteilung, die sich von den freisteigenden Vorstellungen
treiben läfst und sich durch keine Rücksicht auf den zu Gebote stehen-
den Raum oder auf die Proportion der Teile abhalten läfst, bei Neben-
dingen zu verweilen. Dio sagt es uns hier ausdrücklich, dafs er nicht
schreibt, sondern redet, und nicht geschriebenes redet, sondern was
ihm der Augenblick eingiebt. Es darf hier auf die früheren Erörte-
rungen über das nXavao&ai iv loyoig verwiesen werden, das aus der
improvisatorischen Productionsweise entspringt. Aus dem Augenblick
geboren sind solche Reden zunächst auch nur für den Augenblick be-
rechnet. Die nokkij l^ovala unserer Stelle kehrt wieder Olymp. §38
Tvxov yag oi ^^diov tov tov q>iXoa6(pov vovv xai Xoyov irciaxBlv,
*€V\^a av ogfiTJOT], tov ^vavraivTog aei (paivofiivov ^vfKpiqovxog
xa£ avayxalov Toig axgow^ivoig, ov fieXerjd^ivTa ngog vdioQ xal
öixavixrjv avayxr^v, waueQ ovv 6q>f] Tig, aXXa fiCTcc noXXrjg i^ov-
alag xal ade lag. Wie im Euboiciis dem Schriftsteller, stellt sich
Dio hier dem Gerichtsreduer gegenüber, der durch die Notwendigkeit,
jede Minute der ihm zugemessenen Zeit auszunützen, in seiner freien
Bewegung beschränkt und zu genauer Vorbereitung genötigt wird. Auch
in dieser Stelle der Olympica erblicke ich ein Zeugnis für den impro-
visatorischen Charakter der Rede. Die Worte „Tavra fikv ovv ine^^Xd^ev
6 Xoyog xa^* av%bv ixßag^' gewinnen einen tieferen Sinn, wenn wir
annehmen, dafs Dio sich wirklich von den aufsteigenden Gedanken
treiben läfst, ebenso die Worte „tov ^vvavTiüvTog aei (paivofiivov
^vfiq)iQovTog xal avayxalov Tolg axQoioftivoig", wenn die Gedanken
ihm wirklich zufällig begegnen. Nur wenn die Hörer fühlten und
474 Fünftes Kapitel.
wufsten, dafs die Gedanken im Augenblick von ihnen erzeugt wurden,
konnten ihnen solche Äufserungen einen wahren und überzeugenden
Eindruck machen, sodafs sie sich geneigt fühlten, die Entschuldigung
gellen zu lassen. Dem ^vvavjwv Olymp. 38 entsprechen genau die
ifi7cl7ttovT€Q loyoi Euboicus § 1. Diese Betonung der Zufälligkeit des
Gedankenverlaufs ist nur in der Slegreifrede am Platz, weil sie wie in
der schriftstellerischen Darstellung, so auch in der schriftlich vorberei-
teten Rede ein unentschuldbarer Mangel wäre. In denselben Zusammen-
hang gebort es, wenn sich Dio im Euboicus § 129 den Jägern vergleicht
oi y€ Inetday t6 tcqcjtov Tlx^og hclaßovTeg xaiitLvftt ifco^evoi f^era^v
Inixixiaoiv itigip cpaveQLOTiQii) xai fiakkov syyvg, oix wxvrjoav
%ovxuj ^vvaiioXovd']^aavT€Q u. s. w. Mindestens wird man zugeben
müssen, dafs in diesen Äufserungen die 7tQoa7ColT}aig ax^diaa^ov ent-
halten ist Aber wir haben keinen Grund Simulation anzunehmen, deren
• der berühmteste Redner der Zeit schwerlich bedurfte. Auch handelt es
sich in den angeführten Stellen um einen Mangel der Composition, der
sich leicht beim Stegreifreden ergiebt, der aber keineswegs so unab-
trennbar mit ihm verbunden ist, dafs ihn der Redner um der TtQOO"
Ttolr^aig ax^diaofiov willen geflissentlich hätte anstreben müssen. Wir
haben vielmehr Grund anzunehmen, dafs Dio aus der Not eine Tugend
macht, wenn er das nXavaad^at Iv Xoyoig als einen Vorzug seiner
philosophischen Vorträge behandelt.
Ich glaube daher sowohl den Euboicus wie die Olympica als ächte
Stegreifreden ansprechen zu dürfen. Das dirjytjfia des Euboicus ist
vielleicht von diesem Urteil auszunehmen. In der Olympica tritt der
improvisatorische Charakter namentlich im ersten Teil hervor. Für die
späteren F^artien war jedenfalls eine gründlichere Meditation erforderlich.
Doch möchte ich auf zwei Punkte hinweisen, die auch für diese eine
vorherige schriftliche Ausarbeitung unwahrscheinlich machen. Erstens
macht die Überleitung in § 48 zu der den letzten Teil bildenden Ver-
gleichung der religiösen Verdienste des Pheidias und des Homer nicht
den Eindruck des reiflich vorbedachten. Im vorausgehenden Teil hat
Dio vier Dolmetscher der dem Menschenherzen eingeborenen Ahnung
des Göttlichen namhaft gemacht, den Dichter, den Gesetzgeber, den
bildenden Künstler, den Philosophen. Da er nun im Schlufsteil nur
zwei dieser Interpreten, den gröfsten Dichter und den gröfsten Bild-
hauer, hinsichtlich ihrer Leistungen für das religiöse Bewufstsein des
Volkes vergleichen wollte, so mufste er den Gesetzgeber und den Philo-
sophen beiseite schieben. Die Art, wie dies in dem überlieferten Texte
Dios letzte Lebensperiode. 47^
geschieht, macht den Eindruck der Willkürlichkeit. Am AnfaDg voo § 48
sagt Dio zuoächst nur, er wolle den Gesetzgeber beiseite lassen (%dv
fjikv ovv vofÄod'ivfjv kaaufisv va vvv elg ev-^vvag ayeiv^ avdga ava^ri"
Qov nai Tovg aklovQ avrov ev^vvovza). Im folgenden Satze verspricht
er, die (drei) übrigen auf ihr Verdienst um die Religion zu prüfen. Es
wirkt daher überraschend und störend, wenn dann auch noch der Philo-
soph beseitigt wird. Die Art, wie dies geschah, ist durch eine Lücke
im Text verdunkelt; dafs es geschah, ist zweifellos. — Sodann ist die
Verwendung des schoi> in der ersten und dritten Königsrede gebrauch-
ten TOTtog Ttegi toi Jiog ein auf Improvisation deutender Zug.
Für die Beurteilung der zweiten tarsischen Rede ist besonders der
Schlufspassus wichtig. Man hat den Eindruck, dafs der Redner noch
mehr in petto hat, was er vorbringen würde, wenn nicht die verfüg-
bare Zeit verstrichen wäre. In § 51 wird die Frage aufgeworfen:
„giebt es denn in unserer Zeit keine Güter mehr, die des Schweifses
der Edlen wert sind?^ Damit scheint eine neue Gedankenreihe an-
zuheben, der Preis der sittlichen Güter, in dem die ganze Rede gipfeln
müfste. Aber die Antwort auf die Frage wird kurz abgebrochen mit
den Worten: v7t€Q wv lawg fiaxQOTCQOv kiyeiv nqbg vf^ag. Dann
wird von neuem angesetzt. Der Redner erwähnt den Vorwurf, der
den Philosophen gemacht wird, dafs sie das Streben der Menschen
. durch ihre Lehre abspannen. Das kommt mir vor, erwidert er, wie
wenn einer den Musiker tadeln wollte, dafs er beim Stimmen seines
Instrumentes manche Saiten straffer spannt, manche lockerL Die schlech-
ten und unnützen Bestrebungen sind jetzt fast alle zum Reifsen über-
spannt, die edlen ganz und gar gelockert: &€aaaa^€ ä^ ei&iwg, el
ßovkea^'e, Trjv Ttjg q>ikaQyvQlag InliaOLv, t^v xfig axQaalag. Der
Hörer hat das bestimmte Gefühl, dafs mehr über dieses Thema folgen
soIL Aber kurz und hart wird abgebrochen mit den Worten: aXX^
ioiKa yaq TtoQQO) ftQoayeiv, xal xad'aTteQ ol kv taig yaXrjvaig fia-
XQOtegov vrjxofxevoi, ro (niXkov ov TtQoogav. In diesem Schlufs ist
der sicherste Beweis enthalten, dafs die Rede kein loyog yeygafifiivog
ist. Dieses Andeuten, Ablenken, Verschweigen, wo man eine voll-
tönende peroratio erwartet, ist nicht auf eine künstlerische Absicht,
sondern einfach darauf zurückzuführen, dafs Dio aus äufseren. Gründen
schliefsen mufste, ehe er seinen Gedankenfaden ganz abgesponnen hatte.
Dies ist ein sicheres . Kennzeichen der Stegreifrede') und, was noch
1) Vgl. auch den Schlufs voo or. 80.
476 Fönftes Kapitel.
wichtiger ist, es lehrt uns, dals derartige Reden für die Edition keiner
OberarbeitUDg unterzogen wurden. Es wäre ja leicht gewesen, durch
Ausgestaltung des Schlusses die ganze Rede abzurunden, wenn man
nicht gewissenhaft die ursprüngliche Form samt den ihr anhaftenden
Zufälligkeiten gewahrt hätte.
Die hiermit zu ihrem Abschlufs gelangte Untersuchung über die Werke
4ler letzten Periode hat uns vielfach Gelegenheit geboten, ihre charakte-
ristischen Eigenschaften hervorzuheben. Auch die allgemeinen Charakter-
züge der ganzen Periode wurden schon im Eingang dieses Kapitels ent-
wickelt Sie unterscheidet sich von den vorhergehenden nicht durch
eine Wandlung der philosophischen Ansichten Dios, sondern durch die
veränderten äufseren Bedingungen seiner Wirksamkeit Die formale
Eigentümlichkeit dieser Periode ist die Ausbildung eines auf Massen-
wirkung berechneten epideiktiscben Stils für die popularphilosophische
Predigt, in der wir eine teilweise Rückkehr Dios zur Sophistik erkannten.
Materiell enthalten diese Reden kaum etwas, für das nicht schon in seiner
*
früheren Wirksamkeit die Ansätze vorhanden waren.
Die Darstellung der stoischen Theologie in der Olympica ist nicht»
neues. Denn schon in der Borysthenitica hatte Dio die von der Theo-
logie nicht zu trennende Kosmologie der Stoa verkündet; der ersten
Rede vom Königtum liegt dieselbe theologische Anschauung zugrunde,
wie der Olympica, und auch die früher besprochenen religiösen Stellen
seiner bithynischen Friedenspredigten gehören in denselben Zusammen-
hang. Vom dogmatischen Standpunkt gewähren diese religiösen Kund-
gebungen Dios kein grosses Interesse. Wenn sich daraus das eine oder
andere für die stoische Theologie lernen läfst, was sonst nicht oder nicht
so deutlich überliefert ist, so Hillt das aus dem Rahmen unserer Aufgabe
heraus. Eigene philosophische Gedanken Dios sind nicht darin. Er
stellt sich nur die Autgabe, die Lehren des Chrysippos und Poseidonios
zu popularisiren. Wichtig für Dio ist dabei nur die Art und Weise der
Aneignung und Darstellung. Die Darstellung richtet sich nach den
stilistischen Principien der dionischen Epideiktik. Sie ist also nicht
bestimmt, wie ich früher gezeigt habe, durch scharfe Begriffsbestimmungen
und bündige Beweise den Verstand der Hörer zu überzeugen, sondern
strebt danach, durch schwungvolle und begeisterte Verkündigung auf
das Gemüt der Hörer eine mächtige Wirkung hervorzubringen. In der
Borysthenitica gesteht Dio selbst, dafs ihm bei seinem Versuch, die
Dio8 letzte Lebensperiode. 477
stoische Kosmologie in das Gewand eines Mythos zu kleiden, Piaton als
Vorbild vorgeschwebt hat Ich meine, dafs diese Darstellungen — auch
der Schlufsteil des Euboicus, der freilich nicht theologischen Inhalts ist,
gehört zu derselben Stilgattung — die gröfste Bewunderung verdienen,
wenn man sie als das nimmt, was sie sein wollen. Es gelingt dem
Redner wirklich, den Hörer vom Boden der Alltäglichkeit emporzuheben
zum ahnenden Erfassen des ewig gültigen, was den überlieferten Reii-
gionsvorstellungen zugrunde liegt Das ist nicht ein Verdienst der theo-
logischen Doctrin, die er sich aneignet, auch nicht der äufseren stilistischen
Mittel, die er verwendet, um sie darzustellen. Das entscheidende ist die
Aneginuog selbst, die durch lebendiges religiöses Gefühl die theologischen
Dogmen in Religion zurückverwandelt. In der Olympica ist es für jeden
Leser unverkennbar ausgedrückt, dafs der Gottesglaube dem Redner
Herzenssache ist und die Grundlage und Voraussetzung seiner Lebens-
anschauung bildet Er sucht ihn nicht durch Syllogismen zu beweisen,
sondern verkündigt ihn wie ein Priester und Prophet. Dals ein Gott
Schöpfer und Erhalter dieser Welt ist, erscheint ihm als das allergewisseste
und handgreiflichste, und mit heiligem Zorn eifert er gegen den natur-
wissenschaftlichen Materialismus der epikureischen Schule. Ich wieder-
hole, dafs es nicht auf den dogmatischen Gehalt seiner Theologie an-
kommt, sondern auf die Bedeutung, die der Glaube für sein persönhches
Leben gewonnen hat. Die stoische Theologie, zu der sich Dio bekennt,
können wir aus anderen Quellen besser und gründlicher kennen lernen ;
aber in keinem anderen Werke der griechischen und römischen Litteratur
sehen wir, wie hier, einen frommen Menschen in dieser Lehre Befrie-
digung seines religiösen Bedürfnisses und Andacht und Erhebung suchen.
Insofern gehört die Olympica, wie auch die sonstigen theologischen
Kundgebungen Dios, zu den wichtigsten Denkmälern der antiken Reli-
gionsgeschichte.
Zu dem Bilde, das wir im Laufe unserer Betrachtungen von Dios
Persönlichkeit gewonnen haben, würde eine rein wissenschaftliche Be-
schäftigung mit theologischen Problemen gar nicht passen. Er würde
ihnen ganz aus dem Wege gegangen sein, wenn er nicht den Glauben
als Grundlage seiner praktischen Lebensanschauung gebraucht hätte.
Dafs es ihm nicht auf philosophische Erkenntnis, sondern auf das per-
sönliche Verhältnis des Menschen zur Gottheit ankommt, zeigt sich in
der Olympica vor allem darin, dafs er aus seinem philosophischen Gottes-
glauben eine vertiefte Auffassung der polytheistischen Volksreligion und
ihres Bilderdienstes abzuleiten sucht Die ganze Rede gipfelt ja in dem
478 Fflnftes Kapitel.
i
Nachweis, dafs dem Bilderdienst eine hohe religiöse Bedeutung zukommt.
Die Rechtfertigung der Idololatrie, die er dem Pheidias in den Mund
legt, geht davon aus, dafs wenn wir überhaupt Bildnisse der Gottheit
aufstellen wollen, diese nur menschliche Gestalt tragen können. Ver-
nunft und Einsicht machen das Wesen der Gottheit aus. Die aber kann
kein Bildhauer oder Maler abbilden; denn sie sind nicht Gegenstände -der
Anschauung. Die sinnliche Veranschaulichung des göttlichen Geistes
kann nur eine symbolische sein. Das vollkommenste Symbol des Geistes
ist aber der menschliche Leib, als ein Gefäss der Vernunft, in dem sie
wohnen und sich offenbaren kann. Also liefert der das beste Bildnis
der Gottheit, der sie in menschlicher Gestalt so schön, würdig und er-
haben als irgend möglich darstellt. Oder wäre es besser überhaupt kein
Bildnis oder Gleichnis der Gottheit aufzustellen ? Sollen wir nur zu den
göttlichen Himmelskörpern anbetend emporblicken ? Sie alle verehrt ja
der Verständige als selige Götter, sie sind (nach § 58) ij^ovg xal dia-
volag fAcaia 7cavTwg\ aber sie stehen uns innerlich wie äufserlich zu
fern. Der religiöse Trieb erzeugt in den Menschen ein mächtiges Be-
dürfnis, der Gottheit mit Verehrung und Gottesdienst ganz nahe zu treten,
ihr im Gebete ihre Anliegen vorzutragen, ihr Opfer und Kranzspenden
darzubringen. Denn wie Kinder, die von Vater und Mutter gewaltsam
getrennt sind, in unbezwinglichem Heimweh und Sehnsuchtsschmerz oft
ihre Hände im Traum nach den Abwesenden ausstrecken, so auch die
Menschen nach den Göttern, die sie mit Recht als Wohlthäter und Ver-
wandte lieben, voll eifrigen Strebens, wie es auch immer sei, mit ihnen
in Gemeinschaft und Verkehr zu treten. — Diese Worle, in denen die
Quintessenz der olympischen Rede enthalten ist, zeigen deutlich, in
welchem Sinne Dio dem Bilderdienst der griechisehen Volksreligion eine
Berechtigung zuerkennt. Er leitet ihn aus der menschlichen Schwäche
ab, die ein sinnliches Symbol der Gottheit braucht, um ihr in Liebe und
Anbetung nahen zu können. Dieses Symbol ist freilich ein unvoUkom-^
menes, das hinter dem wahren Wesen der Gottheit weit zurückbleibt;
aber es ist zugleich das vollkommenste, das für menschliche Anschauung
hergerichtet werden kann; und das Bedürfnis selbst, das wir durch diese
unvollkommenen Symbole zu befriedigen suchen, das Bedürfnis nach
Wiedervereinigung mit der Gottheit, von der wir stammen, ist der Mensch-
heit bestes Teil.
Es ist bekannt, dafs die Stoa überhaupt durch ihren philosophischen
Pantheismus und Monismus den Polytheismus der Volksreligion nicht zu
verdrängen beabsichtigte. Als Einzeloffenbarungen des göttlichen Welt-
Dios letzte Lebensperiode. 479-
geistes lässt sie die vielen Götter neben dem obersten Gott bestehen.
So erwähnt auch Dio häu6g neben dem Weltgott eine Mehrheit von
üntergöttern. Zweifellos waren sie auch für ihn nur Teilkräfte der
einen göttlichen Kraft Seine Behandlung der Frage Ttod'ev ^ecSv IV-
voiav %Xaßov ol av^gwnoi in § 27 — 35 ist in erster Linie auf den
Weltgott zugeschnitten. Am Anfang heifst es zwar TteQi d-etSv zfjg t€
xad'okov q>va€U)g xal fidkiata %ov ndvrwv 'qyefiovog, dann aber tritt
schon § 28 allein das allgemeine ^'elov in den Vordergrund , in dem
wir mitteninnen leben und weben und mit dem wir verwachsen sind.
In § 29 ist nur von dem Einen die Rede, der uns gesät und gepflanzt
hat und noch erhält und ernährt, dem rtQOTtdvwQ ^eog. Daneben
erscheint § 29 und § 31 die xheia q)vaig, die Mutter Natur, die ja bei
den Stoikern auch nichts anderes ist, als eine der Manifestationsweisen
des Gesamtgottes. In § 32 wird die ganze Betrachtung mit der Folge-
rung abgeschlossen, dafs die Menschen, die so trefflich an Gottes Tisch
gespeist und getränkt wurden, doch nicht umhin konnten das äaifioviov
zu verehren und zu lieben. Gegen Ende des Satzes erscheinen in ganz
nebensächlicher Erwähnung die Götter im Plural. In den) von dem
x^QOviOfiog der Mysterien hergenommenen Vergleiche § 33, 34 ist zwar
von einer Mehrheit unsterblicher Götter die Rede, die das Menschen-
geschlecht in die Geheimnisse der Religion einweihen, aber der Zusammen-
hang lehrt, dafs damit nicht die Götter der Volksreligion, sondern die
göttlichen Himmelskörper gemeint sind, die um unsere Erde einen Reigen
aufführen, wie beim d-QOviaixog die fivovvTeg um den fivovfAevog; und
die religiöse Erkenntnis, die durch den Anblick dieses Reigens in dem
Menschengeschlecht gezeitigt wird, bezieht sich zwar auch auf die Gött-
lichkeit aller dieser Erscheinungen, vor allem aber auf den Herrscher
des Alls, der das Himmelsgewölbe und den ganzen Kosmos lenkt wie
ein kundiger Steuermann sein Schiff. In § 35 endlich hören wir, dafs
selbst die Tierwelt, obgleich der Vernunft entbehrend, den Gott (rov
d-eov) kennt und verehrt und willig ist, nach seinem Gesetz zu leben.
Ja selbst die seelenlosen Pflanzen, die das göttliche Pneuma nicht als
Seele, sondern nur als unbewufste natürliche Triebkraft durchwohnt
{üxjjvxa und anXfj tivi q)va€i äioixovfieva), sind mit Wunsch und
Willen bereit, jede die ihr zukommende Frucht zu tragen. So hand-
greiflich und fafslich sind Gedanken und Macht dieses unseres Gottes
(ovTiü 7tdw ivagyrjg xal 7CQ6drjkog f] roiäe %ov &€0v yvwfir} xal
dvva^ig), — Es ist also klar, dafs den Inhalt der von Dio vertretenen
Religion nur die Verehrung des höchsten Gottes bildet. Aber wir können
480 FuDftes Kapitel.
uns nicht immer mit unsereu Gedanken bis zu ihm erheben, der die
Quelle aller Kraftäufserung ist. Unserer Anschauung stehen die einzelnen
Offenbarungen Gottes, die Einzelgötter, näher; und warum sollten wii*
sie nicht verehren, da wir ja in ihnen doch immer nur den Einen ver-
ehren? Der Polytheismus der Volksreligion ist also neben dem philo-
sophischen Honismus und Monotheismus berechtigt, so können wir im
Sinne der Stoa und Dios sagen, weil er ihm nirgends zuwiderläuft, son-
dern sich nur von ihm unterscheidet, wie die Teile vom Ganzen. Es
ist nur ein Schritt weiter auf demselben Wege, wenn auch der Bilder-
dienst als berechtigt anerkannt wird. Der Stifter der Stoa hatte diesen
Schritt nicht gethan. In seiner üolLtela verwarf er ausdrücklich die
Tempel und Idole. Aber es ist unzweifelhaft, dafs dieser Zug zu den
Kynismen des Zenon gehörte, die von der späteren stoischen Orthodoxie
verworfen wurden, dafs also Dio auch in diesem Punkt nicht von der
zu seiner Zeit geltenden Form der stoischen Lehre abweichL Bezeichnend
für Dio selbst ist aber die persönliche Wärme, mit der er für den Bilder-
dienst eintritt. Wir sehen daraus, dafs ihm mehr an der Rehgion ge-
legen war als an dem philosophischen Dogma, in seiner Schilderung
der Sehnsucht nach dem Göttlichen, aus der er die Berechtigung des
Bilderdienstes herleitet, kommt die religiöse Stimmung seines eigenen
Gemütes zum Aus<lruck. Die ist uns in unserm Zusammenhang nicht
minder wichtig, als die geschichthche Herkunft der Lehre.
Der stoische Gott ist bekanntlich ein zweigesichtiges Wesen. Auf
der einen Seite ist er Gesetz und Notwendigkeit, auf der anderen Ver-
nunft und zwecksetzender Wille. Er ist auch auf der einen Seite raum-
erfüllender Stoff, auf der anderen Geist und Bewufstsein. Wir wollen
hier nicht verfolgen, wie es die Stoa fertig bringt, vermittelst der durch
die Tonoslehre vertieften heraktitischen oäog avia xdru) diese entgegenge-
setzten Attribute in ihrem einheitUchen Weltprincip zu verknüpfen, son-
dern nur darauf hinweisen, dafs bei Dio vorwiegend die persönliche Seite
der Gottheit betont wird, diejenige Seite also, durch die eine reUgiöse An-
näherung dem Menschen ermöglicht wird. Darum wird ja in der Olym-
pica das Werk des Pheidias gepriesen, weil es das höchste Ideal mensch-
licher Vollkommenheit als Ausdrucksmittel für das Wesen der Gottheit
benutzt. Darum wird dem Zeusbilde des Pheidias vor dem homerischen
der Vorzug gegeben, weil es besser als dieses die vollkommene Güte
Gottes ausdrückt. Es ist der Kunst des Pheidias gelungen, das Bild
einer Person zu schaffen, in der sich Hoheit, Kraft und Strenge, wie
sie dem König ziemen, mit väterlicher Güte und Milde ohne Widerspruch
Dios letzte Lebensperiode. 481
vereinen: ttjv fiiv yaQ oQxrjV xal %6v ßaaiXia ßovkerai drjXovv %d
iaxvQov xov eidovg xal t6 fieyakoTtQCTtig' %6v dl nariga xal TfjV
XTjdeiiovlav %6 tzq^ov xal 7tQoag)iJiig. Bekanntlich kehrt der Abschnitt
über die kTtixl'qaeig zov Jiog in der ersten und ursprünglich auch in
der dritten Rede ,,vom Königtum^^ wieder. Dort wird der himmlische
König als Vorbild des irdischen Königs geschildert. Es zeigt sich der
Zusammenhang zwischen Dios Theologie und Politik. Aber das Königs-
ideal ist ja von dem allgemein menschlichen Ideal nicht verschieden. Wer
sich selbst beherrschen gelernt hat, der ist ein König. Jeder Mensch
kann nach diesem Ziele streben. Also auch mit der Ethik steht die
Theologie im engsten Zusammenhang. Nur wenn man sich das klar
macht, versteht man die Rolle, die das religiöse Element in Dios Ge-
dankenkreis spielt. Wie es sich für einen Mann gehört, den wir mit
dem platonischen Ausdruck als lA^d'OQia (piXoaotpov %e cvÖQog xal
7toXn:ixov bezeichnen können, zieht er die göttlichen Dinge nur heran,
um seinem praktischen Ideal die höhere Weihe zu geben. In den bithy-
nischen Reden sahen wir zuerst den priesterlichen Zug hervortreten,
der in den ötaki^eig der Exilsperiode völlig fehlt. In den Werken der
letzten Periode fehlt er fast nirgends. Wir können es als charakteristisch
für diese Periode betrachten, dafs Dio die Pflichten des Menschen jetzt
religiös oder kosmisch-metaphysisch zu begründen sucht. Weil Gott ein
Gott der Ordnung, des Friedens und der Eintracht, ein Gott der Liebe
ist, darum ist die Arbeit die schönste und Gott wohlgefälligste, die sich
Friede und Eintracht im engsten wie im weitesten Kreise zum Ziele
setzt Es ist immer dieselbe Gott wohlgefällige Arbeit, ob wir Kampf
und Streit im Inneren der Menschenbrust oder in der Familie oder in
der Stadt oder im Weltreich befrieden. Es liegt im Wesen des Zevg
OLXiog xal ^EzatQeiog^ dafs er TtavTag dv^QUTtovg ^vvayei xal ßov-
Xerai q>Lh)vg elvai akXrjloig^ ix^QOV de rj TtoXifiiov ovdiva ovdevog.
Aus derselben Gedankenrichtung geht es hervor, wenn Dio in der ersten
Königsrede ^ 37 — 47 die göttliche Weltregicrung als Vorbild des irdi-
schen Königtums behandelt und in der dritten denselben Gedankengang
wiederholt, wenn er im Schlufsteil der zweiten Königsrede den König
mit dem Leitstier der Herde, Gott mit dem Hirten vergleicht und in
der vierten Königsrede Gott als den Lehrmeister ^ev ßaai^ixii rix^rj
hinstellt. Auch in der Alexandrina kommt die religiöse Gesinnung des
Redners in sehr bemerkenswerter Weise zum Ausdruck, wo er ausführt:
OTi za av/jtßalvovra xolg av^Qwrtoig Iti^ ayad^(^ nivd"^ 6y,ol(ag
iavl daifiovLa, — — xad^6h)v yccQ ovdfv svdaifiov oiä^ iaq>ikifji0Vj
V. Arnim, Dio. 31
482 Fänftes Kapitel.
0 fiTj xavä yvwfitjv xal övvafAiv rwv &€(Sv aq)i'AV€iTai ngog ^fdag,
akkä Ttavtaxfj navtwv ayad'cSv avTol Kgarovai xal öiaveidovai da-
\pihLq toig l^iXovat dixea&ar za xcnca de aXXaxod'ev wg i^ Izigag
Tivog mjy^g ^^ercrt nkrjalov ovarjg naq riylv. Auch im Prooemium
der zweiten Tarsica tritt Dio als Bote der Gottheit auf, was um so be-
merkenswerter ist, weil die Rede nicht der popularphilosophischen, son-
dern der politisch-symbuleutischen Gattung angehört. Im Euboicus wird
mit höchstem religiösen Pathos (§ 135) den Pädcrasten vorgeworfen,
dais sie sich nicht schämen ov%b Jla yevid'kiov ovre ^Hqav yafii^kioy
OVIS Molgag TekeatpoQovg rj koxlav ^Aqtb^lv rj fdtjtiQa ' Fiav, ovdk
tag TtQOBOzvjaag av-d-QWTtlvrig yeviaewg Eikei&vlag oväk ^^(pQodinjv
Inviwfjiov Trjg xara (pvGiv nqog %b d'ijkv %ov aggevog avvodqv xe
xal ofiiklag. Ist hier die Ausdrucks weise dem Vorstellungskreis der
Volksreligion entlehnt, so ist darum doch nicht minder gewifs, dafs die
religiöse Begründung der geschlechtlichen Sittlichkeit ernst gemeint ist.
Gleich darauf (§ 138) finden wir das Grundgesetz der Humanität, wiederum
mit religiöser Färbung, ausgesprochen in den Worten: t) xoivfj t6
OLvd'QiüTtivov yivog anav €v%if,iov xal Ofiori^ov vno %ov (piaavrog
d'EOv ravTct atjfieia xal avfußoka ix^"^ ^^^ rifiaa^ai öixalvjg xai
koyov xal ifjineiQlav xakwv %e xal aioxQVJv yiyovev. In all diesen
Stellen ist eine religiöse Gesinnung des Redners ausgeprägt, die den
öiaki^Big der Exilszeit noch ganz fremd ist. Den merkwürdigsten
Beweis für die Verbindung, die Theologie und Naturphilosophie in Dios
Geist mit der praktischen Philosophie eingegangen waren, liefert die
Borysthenitica, die wenn sie auch Vorgänge aus der Exilszeit schildert,
frühestens in der bithynischen Zeit entstanden sein kann.
Will man zum intimen Verständnis dieses für den Kenner ebenso
anziehenden wie für den gewöhnlichen Leser befremdlichen und ab-
stofsenden Werkes gelangen, so darf man sich nicht begnügen, jeden
der Teile, in die sich die Rede gliedert, für sich zu betrachten, sondern
mufs dem geistigen Bande nachspüren, das sie zu einer künstlerischen
Einheit verbindet.
Das Gespräch, das Dio zunächst mit Kallistratos und einigen anderen
Borystheniten führt und das im weiteren Verlauf zu dem zusammen-
hängenden Lehrvortrag Anlafs giebt, den Dio auf dem freien Platz vor
dem Zeustempel an eine zahlreiche Versammlung andächtiger Zuhörer
richtet, knüpft bekanntlich an einen Phokyhdesspruch an, den Dio trotz
seiner Kürze für wertvoller erklärt, als llias und Odyssee zusammen-
genommen :
Dios letzte Lebensperiode. 483
xal Tode 0<jjxvlldov' noXig Iv axoTtdkip xaTcr ncoaiiov
oixevaa afiixQrj xQiaawv Nlvov aq)Qaivovar]g.
Es ist also der Gedanke emphatisch vorangestellt, der uns so oft
in den Städtereden Dios begegnet, dafs die politische und sociale Organi-
sation, nicht der materielle Wohlstand Glück und Wert einer politischen
Gemeinde bedingt. Der Vortrag, den Dio auf Bitten der Borystheniten
zur näheren Begründung dieses Satzes hält, handelt also Ttegi nolswg
(§18 ßovlo^evoi axovaai negl noletjg). Er definirt zunächst § 20
die TtoXtg als nkrjO-og avd'QWJvwv iv xav%(^ xaTOixovvrcjv vtco
vofiov dioixovi4€vov. Wie der Besitz der Vernunft für den Menschen
im Gegensatz zu anderen sterblichen Lebewesen artbildendes Merkmal
ist, so für die noXig, im Gegensatz zu andern durch Lebensgemeinschaft
verbundenen/rAiy^ av&Qatnmv, die Gesetzlichkeit. Es könnte hiernach
scheinen, als ob nur dasjenige Staatswesen den Namen nokig verdiente,
dessen Glieder sämtlich dem Gesetz (das hier nicht als positives Recht,
sondern als Naturrecht und Vernunftgesetz aufgefafst wird) in all ihrem
Thun folgen. In diesem Sinne ist aber nur die Gemeinschaft der
seligen Götter eine Ttokig. In der Unvollkommenheit menschlicher Ver-
hältnisse mufs man schon diejenige politische Gemeinschaft als Ttohg
anerkennen, in der die Inhaber der Staatsgewalt (ol a^ovreg xal
Ttgoeaviiüreg) weise und verständig sind und die übrige Masse der Staats-
bürger durch die Weisheit der Regierenden so geleitet wird, dafs ihre
ünvollkommenheiten keine Störung der Gesamtordnung hervorrufen.
Das Urbild der vollkommenen Staatsordnung ist das friedliche und
willige Zusammenwirken der göttlichen Wesen und Kräfte im Kosmos.
Auch unter ihnen ist eine Abstufung höherer und niederer Wesen vor-
handen, aber die niederen ordnen sich ohne Streit freiwillig den höheren
unter.^) Durch das Band der Liebe geeinigt thun sie alle ihre Arbeit,
ein jedes die, welche ihm zukommt. Die weitere Ausführung zeigt, dafs
Dio unter diesen götthchen Wesen die Sterngötter und die Elemente
versteht. Sonne, Mond und Planeten sind Wesen höherer Art, weil sie
selbständige Bewegung haben , während die übrigen Gestirne nur die
Gesamtbewegung des Himmelsgewölbes mitmachen. An diesem himm-
lischen Vernunftstaat, der allein der Idee einer nokig vollkommen ent-
spricht, haben in gewissem Sinne auch die Menschen, als vemunftbe-
1) Ich halte fest an der in meiner Ausgabe Torgeschlagenen Ergänzung des
Satzes § 22 t&v uhv ^yovfiivtov xai n^dtrotv &eäfv, (rdJy ^i inouiviov) %toQls
3f
484 Fanftes Kapitel.
gabte Weseo Anteil: wg Ttaideg avv avägaai Xiyovtai (Aerix^iv tvo-
keiog, (fvaei TtoXixai ovteg, ov T(p q>Qovelv re xai 7tQa%xetv xa t(3v
fcohidiv oidk T(ff noivwvelv rov voidov, d^vveroi ovreg avrov. Das
heifst: die Menschen sind von der Natur, die ihnen den Jioyog verliehen
hat, darauf angelegt Bürger dieser Gemeinde zu werden. Sie werden
es, wenn sie ihren Willen der göttlichen Weltvernunft unterordnen und,
wie jene kosmischen Kräfte, freiwillig an der Verwirklichung der gött-
lichen Weltordnung mitarbeiten : ducutU volmtem fata^ nolentem trakunt.
Dio schickt sich nun an, nachdem er von dieser göttlichen noXi"
Tela gesprochen hat, zu untersuchen, welche von den unvollkommenen
irdischen Verfassungen ihr verhältnismäfsig am nächsten kommt Man
erwartet, dafs er als solche die ßaaiXela rühmen wird. Denn sowohl
in der ersten Rede neQi ßaaikelag § 42 als in der dritten § 50 wird
die monarchische Regierungsform als das Abbild der göttlichen Welt-
regierung gepriesen. Wenn nun Dio auf Wunsch des Hieroson, der
ihn hier unterbricht, seine Auseinandersetzung über die beste irdische
Staatsverfassung auf den folgenden Tag verschiebt, und statt dessen
TteQi rrjg d'elag eXre Ttolewg eXre dicmoa^riaeoig zu reden unter-
nimmt, so ist darin nicht ein wirklicher Wechsel des Themas zu er-
kennen. Durch die unerwartete Wendung wird mehr Leben und Ab-
wechselung in die Rede gebracht und zugleich, was für die stilistische
Gestaltung des folgenden Teils wichtig war, an die Einkleidung und
an das Publicum, zu dem Dio redet, wieder erinnert. Dafs damit wirk-
lich die innere Einheit der Rede preisgegeben werde, kann man von
vornherein nicht wahrscheinlich finden. Soll diese gewahrt bleiben, so
mufs auch der folgende Teil wenigstens indirect auf die irdische Politik
Bezug haben.
Unsere Erwartung wird insofern bestätigt, als in der ersten Hälfte
des Schlufsteils (§ 29 to fihv dri bis § 38 incl.) die Beziehung auf die
irdische Politik durchaus nicht fehlt. Hieroson hatte Dios Äufscrungen
in § 22. 23 etwas zu wörtlich genommen und nähere Auskunft über
die &Bla noXig verlangt. Dio erläutert nun seine vorigen Äufserungen
dahin, dafs der Kosmos zwar nicht im vollen Wortverstande eine Ttolig
sei, da ja ihre oben gegebene Deflnition {Tclfj&og avd'Qcimüv h xavxi^
xoTOixovvTwv u. s. w.) auf ihn nicht passe und da er ein einheitlicher
lebendiger Organismus (Ojjov), nicht wie die rtolig nur eine organisch
geordnete Gemeinschaft discreter Lebewesen sei. Es bestehe aber eine
Analogie . zwischen beiden. Denn wie alle Rechtsordnung, durch die
eine Mehrheit von Personen zu einer politischen Einheit verbunden
Dios letzte Lebensperiode. 485
wird, Dach stoischer Auffassung auf dem ihnen gemeinsamen Besitz des
koyog beruht, so teile auch das Menschengeschlecht mit den Göttern
den loyog und könne daher durch eine gemeinsame Rechtsordnung
mit ihnen zu einer politischen Gemeinschaft verbunden werden. Diese
Behauptung wird ausdrücklich auf den gegenwärtigen Weltzustand (^
vvv öicnLoaiATjaig) beschränkt, wo eine Vielheit von Elementen, Wesen
und Kräften den Kosmos bildet, der aber doch einheitlich bleibt, weil
er von einer einheitlichen göttlichen Kraft und Seele durchdrungen ist.
Als Gegensatz der vvv diayioafirjaig schwebt dem Redner schon hier
der Zustand der ixTtvgujaig vor, von dem nachher die Rede sein wird.
Der gegenwärtige Wcltzustand ist insofern das Vorbild der besten Staats-
verfassung, als die ganze ungeheure Vielheit der Wesen von einem
höchsten Geist und Willen, wie von einem König, nach einheitlichen
Gesetzen und zu einheitlichem Zweck geleitet wird. Die Dichter haben
also in ahnender Intuition das richtige getroffen, wenn sie den höchsten
Gott nicht nur als Vater der Menschen und Götter, sondern auch als
König bezeichneten. Dem Vaternamen Gottes entspricht die Auffassung
des Kosmos als eines gemeinsamen Hauses der Menschen und Götter,
dem Künigsnamen die, welche ihn als Ttoltg betrachtet. Denn wo ein
König ist, da mufs auch ein Staat sein.
Es ist klar, dafs schon in diesem Abschnitt eine Beantwortung der
oben angeregten Frage nach dem relativen Wert der verschiedenen
irdischen Staatsformen enthalten ist. Von dem Gott König wird § 32
gesagt: naQaäeiyfia naQix^^ ^^^ avtov ÖLoUrjaiv^) Trjg evdal^ovog
TLoi fioxaglag xataazaaewg. Darin ist deutlich ausgesprochen, dafs der
Redner auch für irdische Verhältnisse die gesetzlich geordnete Monarchie
als die beste Staatsform, als eine evöalfAwv xal (xaxaQla %cnao%aoig
betrachtet. Ebenso sagt Dio in der dritten Rede neQi ßaaiXelag § 50,
vom Königtum: ncQi öi Trjg eidaifAovög %€ xal -d-eiag YLOtaoxaaewg
zf^g vtv IrciTLQatovarfi XQ^i Suk^eiv inifiekiOTeQov. In der Borys-
thenitica ist die Ausdrucksweise eine so knappe, dafs man sehr genau
Acht geben mufs^ um bei den Worten t^^ evdalfiovog xai ^ay.aQlag
xaTaoTaaewg sofort an die monarchische Verfassung irdischer Staaten
zu denken. Aber der Zusammenhang und die angeführte Parallelstelle
lassen über die Bedeutung der Worte keinen Zweifel. Der Schlufs
scheint mir nicht abzuweisen, dafs die Borysthenitica derselben Periode
1) Oberliefert ist allerdings r^e wörov $&oix^a£füS; aber die von mir aufge
nommene Gonjectur von Emperius dQrfte kaum auf Widerspruch stofsen.
486 Fflnftes Kapitel.
in Dios Leben wie die Reden negl ßaaiXelag augehört. Der knappe
Ausdruck war nur dann am Platze, wenn erstens die gegenwärtigen
Verhaltnisse das Lob der verfassungsmäfsigen Monarchie rechtfertigten
und verständlich machten und wenn zweitens Dio seinen Hörern als
Lobredner der Monarchie bereits bekannt war. Unter Nerva war keine
dieser beiden Bedingungen erfüllt Frühestens kann die Borysthenitica
in die Zeit der ersten Königsrede gehören^ die sich in dem Abschnitt
§ 37—46, besonders in § 42 nahe mit ihr berührt und ausdrücklich
eine spätere ausführlichere Behandlung des Gegenstandes in Aussicht
stellt. Sie kann aber auch nicht viel später fallen, da, wie ich nach-
her zeigen werde, schon eine dem Jahre 101 angehörige Ansprache
Dios sie als vorhanden voraussetzt und auf ihren Inhalt anspielt.
Es hat sich uns ergeben, dafs die erste Hälfte des Scblufsteils der
Borysthenitica (§ 29 med. — 38) der Beziehung auf das Thema der
Rede (rtegl /toXeiag) nicht entbehrt Wie steht es mit der zweiten Hälfte
(§39 — Schlufs)? Hier scheint Dio, indem er in mythischer Einkleidung
die stoische Lehre von ixfcvQwaig und Ttakiyyeveala vorträgt, die
Politik ganz aus den Augen zu verlieren und Kosmologie um ihrer
selbst willen zu treiben. Wäre dies wirklich der Fall, so hätte Dio die
bis hierhin gewahrte Einheitlichkeit seines Werkes durchbrochen. Um
das glaublich zu machen, dürfte man sich nicht auf das früher be-
sprochene nlavaad'ai iv Xoyoig berufen. Denn dies ist immer nur
ein zeitweises, gewissermafsen episodisches Abirren vom geraden Wege
der Darstellung, nach dem der Redner die anfänglich verfolgte Spur
wiederßndet Es sind aber Anzeichen vorhanden, dafs Dio die kos-
mischen Vorgänge auch hier nur als ein ideales Vorbild der mensch-
lichen schildern will. Durch diese Auffassung würde die innere Einheil
des ganzen Werkes gewahrt werden.
Ich darf zunächst auf die Form hinweisen, in der der kosmologische
Mythos von Dio eingeführt und an das voraufgehende angeknüpft wird.
Nachdem erläutert ist, in wiefern die stoische Auffassung des Kosmos
als Ttohg berechtigt ist und worauf diese Lehre abzielt, wird der
Mythos nicht so angereiht, als ob der Redner zu einem ganz neuen
Gegenstand überginge, sondern unmittelbar an das vorhergehende an-
geschlossen, als ob es sich nur um eine vertiefte Darstellung desselben
Gegenstandes handelte, die wegen ihres esoterischen Charakters in
mythischer Form gegeben werden mufs. Die Auffassung des Kosmos
als Ttokig^ so hörten wir vorher, ist nicht buchstäblich zu nehmen.
Es ist nur eine bildliche Ausdrucksweise, neben der auch andere bild-
Dios letzte Lebensperiode. 487
liehe Ausdrucksweisen berechtigt sind. Mit demselben Rechte wie als
nolig kann man den Kosmos als ein Hauswesen betrachten, in dem
Gott als Hausherr und Familienvater waltet. Ein drittes Bild für die-
selbe Sache ist das des Wagens mit den vier Rossen, den Gott als
Wagenlenker föhrt: ode fiiv 6 xüv q>iloa6q>(av Xoyog — ^SQog di
fiv^og kv oTto^^qTOig teletaig vtco [ddyujv avÖQaiv fderai &avida^
^ofievog, 61 tov &e6v jovtov vf^vovaiv dg rileiov %b xcri TZQuitov
^vloxov Tov releiOTOTOv agiAorog. Die Steigerung und Vertiefung, die
dieses dritte Bild bringt, liegt darin, dafs Haus und Staat nur auf die
ÖKXKoafdfjacg passen, während durch das dritte Bild auch die wechseln-
den Weltperioden der stoischen Lehre, hTtigoiatg und naXiyyeveala,
symbolisch veranschaulicht werden sollen. Es ist offenbar die Absicht
dieses Teiles, zu zeigen, dafs auch diese Seite der stoischen Lehre der
Vorstellung von einer weisen göttlichen Weltregierung nicht widerspricht.
Diese Vorstellung aber hat Dio in unserer Rede § 22 nur eingeführt,
um sie als ideales Vorbild für die Regierung der menschlichen Staaten
zu benutzen. Es ist also der Schlufs berechtigt, dafs auch die in dem
Mythos von den vier Rossen und ihrem Wagenlenker veranschaulichte
Seite der göttlichen Weltregierung, d. h. die Vorstellung gewaltiger
Umwälzungen des ganzen Weltzustandes, eine Beziehung auf die irdischen
und menschlichen Verhältnisse haben soll. Darum nennt er schon § 22
die göttliche Ttokig „ovdafiwg cmlvriTOv ovdi aQyrjvy aXka aq>odQäv
ovaav xcrl TioQSvoidivrjv^.
Diese aus der Composition der Borysthenitica abgeleitete Begrün-
dung meiner Auffassung wird verstärkt und bestätigt durch die Stellen
anderer Reden, in denen derselbe Gegenstand kürzer berührt wird.
In der ersten Rede TtSQi ßaaiXelag § 42, wo nach Dios eigener Er-
klärung in § 37 die Kosmologie nur als Vorbild der irdischen Staats-
regierung berührt wird'), wird diese Vorbildlichkeit nicht auf die dia-
nocfiTjaig beschränkt, sondern ausdrücklich auf die wechselnden Welt-
perioden ausgedehnt {oTtoiov ye %b ^vfiTcav avro %b evdaiidov xal
üO(p6v iel diaftOQeverai xbv aneiqov aldiva avvexvjg Iv oTtelgoig
neqioöoig). In der 40. Rede (Iv %fj nargldi tzbqI xrig nqog ^rta"
p,Big o^ovolag) findet sich § 35 ff. ein Abschnitt, der in kurzen Worten
den Gedankengehalt der Borysthenitica recapitulirt: „Seht ihr nicht des
1) § 37 öv x^ fiutovftivovs dei rai>9&vrirai>s xcU rä r&v &rfjrdiv Stinovxas
iTtiuslelad'alf tiqös ixelvor d>s Swaröv iariv evd'^vovTas xai Aq)Oftou}iivras rdv
aürdiv r^ÖTtov.
488 Fönftea Kapitel.
gesamten Himmels und seiner göttlichen, seligen Wesen ewige Ordnung
und Eintracht und Selbstbescheidung, die das schönste und erhabenste
ist, was der menschliche Gedanke erfassen kann? Seht ihr nicht der
Elemente, Luft, Erde, Wasser und Feuer, die Ewigkeit hindurch zu-
verlässig und gerecht bestehende Harmonie, mit wieviel Verständigkeit
und Mafshalten sie, selbst erhalten und den ganzen Kosmos erhaltend,
ihre Dauer genicfsen ? Bedenket doch, wenn es auch einigen vorkommt,
dafs meine Rede den Boden unter den Füfsen und den Zusammenhang
mit der Wirklichkeit verliert, dafs diese Elementarwesen, die unvergäng-
lich und göttlich sind und von Gedanken und Macht des ersten und
mächtigsten Gottes gesteuert werden, nur durch ihre gegenseitige Liebe
und Eintracht erhalten werden, die stärkeren und mächtigeren so gut
wie die geringeren. Wenn diese Gemeinschaft aufgehoben würde und
Zwietracht entstünde, würde ihre Unvergänglichkeit sich nicht bewähren,
sie würden aus ihrer Ruhe gestört werden und den undenkbaren und
unglaublichen Übergang aus dem Sein in das Nichtsein erdulden. Denn
die zeitweilige Vorherrschaft des Aethers (eTCiXQdTrjaig ai&iQog == Ix-
nvQioaig), von der die Weisen lehren, des Aethers, in dem die herr-
schende und entscheidende Kraft der Weltseele wohnt und den sie oft
auch Feuer zu nennen nicht vermeiden, vollzieht sich doch wohl mit
Mafsen und sänftlich, zu vorbestimmten Zeiten und in aller Liebe und
Eintracht. Dagegen sind die ÜbergrifTe und Streitigkeiten der übrigen,
die sich in gesetzwidriger Weise vollziehen, mit der äufsersten Gefahr
des Verderbens verbunden, die freilich das Ganze niemals in Frage
stellen kann, da ein ganz friedlicher und gerechter Sinn in ihm wohnt
und überall alle Wesen gehorsam und nachgiebig dem heilsamen Ge-
setze dienen und Gefolgschaft leisten.'^ Dafs diese Stelle mit der Borys-
thenitica in allen Einzelheiten genau übereinstimmt, ist nicht zu ver-
kennen. Auch hier wird das geordnete Zusammenwirken der kosmischen
Kräfte (der Elementarwesen) als Vorbild meoschlicher Ordnung und
Eintracht geschildert. Ich halte für wahrscheinlich, dafs diese Stelle
nach der Borysthenitica geschrieben ist, die also zwischen der ersten
Königsrede (vom J. 100) und der 40. Rede (vom J. 101) in der Mitte
stehen würde. In der ersten Rede wird, wie wir sehen, eine künftige
ausführliche Behandlung des göttlichen Weltregiments versprochen^ in
der 40. scheint mir, in der eben mitgeteilten Stelle, diese ausfülirliche
Behandlung als schon bekannt vorausgesetzt zu werden. Diese Annalime
erklärt am besten die Einmischung der Naturphilosophie in eine politische
Rede. Sie war weniger auffallend und anstöfsig, wenn Dio scliou als
Dios letzte Lebensperiode. 489
Vertreter dieser Lehre bekannt war. Besonders ist zu beachten, dals
in der 40. Rede die persönliche Auffassung der Elemente, auf der die
Verherrlichung ihrer Liebe und ihres freiwilligen Gehorsams beruht,
ganz unvermittelt auftritt, während sie im Zusammenhang der Borys-
thenitica wohl begründet erscheint, weil sie hier als Götter und als
Bürger des göttlichen Musterstaates eingeführt werden.
Die Stelle der 40. Rede beweist, wenn man ihre Beziehung zur
Borysthenitica erkannt hat, dafs auch dort die Umwälzungen des ge-
samten Weltzustandes ein Bild der politischen Umwälzungen sind. Denn
in der 40. Rede ist der politische Zweck zu deutlich, als dafs man an-
nehmen könnte, Dio treibe hier Kosmologie um ihrer selbst willen. Er
wollte, wie mir scheint, sagen: so wenig wie im Kosmos eine und die-
selbe Verfassung unverändert fortbesteht, ebensowenig ist dies im irdi-
schen Staate möglich. Wie dort muts auch hier ein unaufhörlicher
Kreislauf stattfinden, indem die Entwicklung abwechselnd zur höchsten
ständischen Differenzirung und wieder zur völligen Nivellirung aller
ständischen Gegensätze führt. Dem Zustand der öiaxoafirjaig entspricht
die Gliederung der Gesellschaft in übereinanderliegende Schichten, die
in verschiedenem Mafse an der Vernunft und Herrschaft Anteil haben.
Dem Zustand der ixnvQwaig würde der demokratische Staat und die
demokratische Gesellschaft entsprechen, wenn die gleichmäfsige Beteili-
gung aller an der Herrschaft auf der gleichmäfsigen Verbreitung der
Bildung und Vernunft beruht. Wie im Zustand der ixTtvgwaig die
ganze Materie zur höchsten Tonosstufe erhoben , d. b. zu Geist und
Seele geworden ist (§ 54 elvai, yag avtdv fjdrj %rivixade anXdig Ttjv
Tov fjvioxov xal deOTtOTOv ipvxi^v, (xäXXov dh avxb %o (pQovovv xal
To ^yovfievov avTrjg. JL€iq)d'€ig yag dri (xovog o vovg xal %6nov
a^rixavov if^Tclr^aag oItov, ate iTclarjg Ttavrax^ xexv^ivog u. s. w.),
so müfste auch in der wahren Demokratie die Masse des Volkes gleich-
mäfsig durchgeistigt sein. Unter dieser Voraussetzung würde der eine
Zustand nicht besser als der andere sein. Aber Dio hält die Verwirk-
lichung dieses Zustandes für unmöglich. Je weiter der Kreis der an
der Herrschaft beteiligten gezogen wird, desto mehr schwindet die UofT-
nung, dafs Herrschaft und Vernunft zusammengehen könnten. Dafs
dies Dios Ansicht war, wissen wir aus der dritten Rede negl ßaailelag
§ 45. Von den drei guten Verfassungen, die hier im Anschlufs an die
aristoteUsche Staatslehre unterschieden werden, ist das Königtum die
fia),iaTa av^ß^vai dwarrj , die Aristokratie rclelov anixovaa tjdrj
%ov dvvoTOv xal %ov avf^fpiQovrog, fQlzrj dk awffQoaivf] xai agetf}
490 FQDftes Kapitel.
örjfiov TtQoaäoxwaa nore evQijaeiv xaraaTaaiv irtuixfj xal vo^ifiovy
drifjioiiQa%ia TtQoaayoQevoidivr] , iTtieixig ovo^a xal nQaov, eYrceg r^y
övvarov. Die Tendenzen der Entwicklung sind zwar dieselben im Staats-
leben wie im Kosmos. Sie strebt die Unterschiede in der Gesellschaft
zu nivelliren, und sobald die Nivellirung durchgeführt ist, setzt die ent-
gegengesetzte Tendenz der DifTerenzirung ein. Aber während sich im
Kosmos dieser Kreislauf in ruhiger, natürlicher Entwicklung nach ewigen
Gesetzen vollzieht, ist im irdischen Staatsleben die Entwicklung oft ge-
waltsam und mit Hafs und Zwietracht verbunden. Or. 3 § 49 lehnt Dio
eider ah, von den avfi(poQal und nadTj^aTa der einzelnen Staats-
formen zu handeln; dagegen ist es or. 40 $37 unverkennbar die Ab-
sicht des Redners, gerade hinsichtlich der Umwandlung der Staatsform
auf das himmlische Vorbild hinzuweisen. Im Kosmos bleibt eben stets
der göttliche Geist am Regiment, mag er nun die Welt, die er aus sich
erzeugt hat, als ein aufser und Ober ihr stehender König regieren, oder
sie zurücknehmen in die Einheit seines Wesens, sodafs der Unterschied
von Gott und Welt verschwindet. Wenn dieser Kreislauf im irdischen
Staatsleben nicht verwirklicht wird, so bleibt er doch auch für dieses
Vorbild und Ideal. Auch der kosmische Kreislauf vollzieht sich nicht
ohne Zwischenfalle. Die Sage weifs von gewaltigen Katastrophen zu
berichten, durch welche bald durch Feuer, bald durch gewaltige Wasser-
fluten die Erde iu Redrängnis geriet und die Tier- und Pflanzenwelt von
ihrer Oberfläche fast ganz vertilgt wurde.
Diese Katastrophen, von denen die griechische Sage in den Erzäh-
lungen von Phaethon und von der deukaUonischen Flut eine dunkle
Erinnerung bewahrt hat, beweisen aber nichts gegen die Weisheit und
Vollkommenheit der göttlichen Weltregierung, in der sie notwendige
und regelmäfsig im Lauf der Zeiten wiederkehrende Momente bilden:
%av%a dh OTtavloig ^viJißalvovxa doxelv fiiv avd-qdnoig dta rbv av^
Twv oke&QOv ylyvBöd'at ^fj xcera Xoyov f^tjdi piexixBLV Trjg xov nav-
Tog 'ca^eiog, Xavd'dveiv dh avrovg oQd^dig ytyv6fj,€va xal nunä yvio-
fitjv rov Gifit/ovrog xal xvßeQViivTog %6 nav (Rorysthen. § 50).
Ich hofl'e durch diese Retrachtung den Sinn des Mythus in der
Rorysthenitica, den Dio nicht mit ausdrücklichen Worten aussprechen,
sondern nur geheimnisvoll andeuten wollte, richtig gedeutet zu haben.
Es ist dadurch klar gelegt, wie die Theologie und Kosmologie in Dios
ethisch-politischen Gedankenkreis eingreift. Das Staatsregiment soll die
göttliche Weltregierung nachahmen. Da diese in ihrem Kreislauf ganz
verschiedene Formen durchläuft, so ist auch auf Erden der Wechsel
Dios letzte Lebensperiode. 491
der Slaatsform notwendig und berechtigt. Die Demokratie wäre etwas
hohes und herrliches, wenn sie sich nur verwirkhchen liefse.
Wie die göttliche Weltregierung zum Wohle des Ganzen geführt
wird, so ist auch auf Erden nur das Regiment berechtigt und Gott
wohlgeföllig, welches das Wohl des Ganzen im Auge behält. Dieser
Gedanke zieht sich durch alle vier Königsreden wie ein roter Faden.
Nicht minder als die Tyrannis verabscheut er die Oligarchie, in der
wenige reiche Bürger sich zusammenthun, um auf Kosten der unbemit-
telten Masse im eigenen Klasseninteresse das Regiment zu führen (or. 3
§ 48). Jeder ärmste und geringste hat das gleiche Anrecht wie der
reiche und mächtige, Fürsorge und Berücksichtigung seiner Lebens-
interessen vom Staate zu fordern. Dio ist ganz durchdrungen von dem
Humanitätsgedanken. Wir haben im dritten Kapitel seine Ansicht über
Freiheit und Sciaverei kennen gelernt. Wie die Kynikcr und Stoiker
hält er die Unterschiede der Menschen mit Ausnahme der sittlichen für
nichtig. Dafs auch diese Ansicht auf religiösem Grunde beruht, zeigt
vor allem die schon citirte Stelle des Euboicus § 138, wo gegenüber
den auf menschlicher Satzung beruhenden Unterschieden der Ehre und
des Standes die auf Gottes Schöpferwillen beruhende Wesens- und
Rechtsgleichheit aller Menschen betont wird.*) Dazu stimmt es, dafs er
in Lehre und Leben dem Lose der Armen und Geringen besondere
Beachtung schenkt. In der Zeit des Exils sehen wir ihn mit dem ge-
meinen Manne, besonders mit Bauern, Jägern und Hirten verkehren und
ihrem Bedürfnis seine Predigt anpassen. Die Vorliebe für das Land-
volk ist ihm immer geblieben. Aber auch die Frage, wie den städtischen
Armen zu helfen sei, hat ihn beschäftigt Als unter dem Proconsulat
des Bassus über das bithynische Proletariat nicht ohne dessen eigene
Schuld eine grausame Verfolgung hereinbrach, hat er sich nach Kräften
bemüht, das Los der Armen zu mildern. Er ging darin so weit,
dafs er bei seinen Standesgenossen in den Verdacht demokratischer Ge-
sinnung kam , gegen den er sich or. 50 § 3 verteidigt. Beachtenswert
in diesem Zusammenhang ist auch die Stelle der zweiten tarsischen Rede
§ 21 — 23, wo sich Dio der Proletarier von Tarsos, der kivovQyoly an-
nimmt und die Bürgerschaft auffordert, sie durch Verleihung des Voll-
bürgerrechts in gute Patrioten zu verwandeln. Endlich hat Dio in einer
1) Or. 7 § 138 xoi9^ rd dv&^t&mvov ySvos änav ivriftov xai öjuörifiov ind
ro€ ^öaavTos &eo€ raCrd awiftela xcU ai5ußoXa ixov roif ri^äa&cu dixaitos xai
Myov xcci iftneiQtav xaXc5v re xai (Uo^qmv yiyoviv.
492 Faoftes Eapilel.
seiner schönsten Reden, im Euboicus, seiner Liebe und Fürsorge für
die Armen ein unvergängliches Denkmal gesetzt.
Ich habe an anderer Stelle') den Nachweis geführt, dafs die Rede
am Anfang und am Schlufs verstümmelt ist. Die berühmte Erzählung
von dem euböischen Jäger, mit der sie jetzt beginnt und von der sie
in den Handschriften den irreführenden Titel EißoUog rj xvvrjyog führt,
war ursprünglich als Einlage gedacht. Die Absicht des Ganzen war
nachzuweisen, dafs auch der Arme sich ein menschenwürdiges Dasein
schaffen könne. Es wurde unterschieden zwischen den Armen auf dem
Lande und den städtischen Armen. Für jene ist es, nach Dios Mei-
nung, weit leichter, ihren Lebensunterhalt zu finden und sich ohne
Capitalbesitz ein Leben zu schaffen, in dem alle natürlichen und be-
rechtigten Bedürfnisse Befriedigung finden.
Von jeher haben sich die socialen Theoretiker mit Vorliebe der
utopischen Dichtung bedient. Indem sie dem Erzeugnis ihrer Specu-
lation mittelst der Phantasie Anschaulichkeit verleihen und von dem,
was ihnen als Ideal vorschwebt, wie von einer örtlich und zeitlich be-
stimmten Wirklichkeit erzählen, suchen sie zugleich die Schönheit und
die Möglichkeit ihres Ideals zu erweisen. Denn was Glicht unglaublich
scheint, wenn es als Thatsache berichtet wird, glaubt auch der
wollende Mensch in die Welt der Thatsachen einführen zu können.
Dieser Gattung socialer Tendenzdichtung gehört auch Dios Erzählung
von dem euböischen Jäger an^ die zeigen soll, wie einfach die Be-
dingungen menschlicher Glückseligkeit sich gestalten und wie gering
ihr Bedarf an materiellen Existenzmitteln ist, sobald die Schranke der
städtischen Cultur hinweggeräumt ist, die ihn vom Busen der Mutter
Natur entfernt.
Jede verstandesmäfsige Gedankenentwicklung kann immer nur ein-
zelne Züge aus dem Gegenstand ihrer Betrachtung herausheben, während
es der dichterischen Darstellung gelingen kann, indem sie Zustände und
Vorgänge in ihrer Totalität verkörpert, eine ganze Welt von Gedanken
in das von ihr geschaffene Bild zu bannen. Was einer solchen Dar-
stellung an begrifllicher Schärfe und lehrhafter Bestimmtheit abgeht^ das
ersetzt sie reichlich durch die Fülle des als Möglichkeit in ihr enthal-
tenen GedankenstofTs. So ist es auch Dio gelungen, ein dichterisches
Bild zu zeichnen, dessen Bedeutung sich nicht in wenige Worte zu-
sammenfassen Iclf^t. Es enthält soviele sinnige und für das Ideal des
1) Hermes XXVI, 397 f.
Dio8 letzte LebeDsperiode. 493
Verfassers bedeutungsvolle Züge, dafs nur eine Schritt für Schritt der
Erzählung folgende Interpretation ihre ganze VortrelTlichkeit nachweisen
kann. Die Lösung dieser reizvollen Aufgabe würde über die Grenzen
unserer Darstellung hinausgehen. Ich begnüge mich daher mit wenigen
Andeutungen.
Wenn ich die dionische Erzählung zu der Gattung der utopischen
Tendenzdichtungen rechne, so ist das zwar insofern richtig, als die
beiden Jägerfan)ilien als ideale Typen zur Veranschaulichung eines sitt-
lichen Ideals gedichtet sind. Aber die Geschichte spielt nicht, wie andere
Utopieen, auf einer fabelhaften Insel des indischen Oceans, im Innern
Africas oder jenseits von Thule, sondern mitten in Hellas, an einem
geographisch genau bestimmten Orte. Sie ist auch nicht in ferne Vor-
zeit verlegt, wie Piatons Kritias, oder in ferne Zukunft, wie Bellamy's
„Looking backward^, sondern giebt sich als eigenes Erlebnis des Red-
ners aus seiner Exilszeit. Die Zustände und Vorgänge, die geschildert
werden, enthalten nichts phantastisches und märchenhaftes, sondern
halten sich durchaus in den Grenzen des empirisch möglichen. Es ist
sehr wohl möglich, dafs der Redner auf seinen Irrfahrten irgendwo und
irgendwann ähnliche Menschen und Zustände wirklich angetroffen hat.
Aber weiter dürfen wir nicht gehen. Die gleichmäfsige Beziehung aller
Züge auf die Idee zeigt deutlich, dafs wir uns auf dichterischem Grund
und Boden bewegen.
Die Composition der Erzählung ist eine sehr glückliche, sofern die
anziehende Schilderung des ländlichen Lebens der beiden Familien, für
die sich der Hörer erwärmen soll, ihr unerfreuliches städtisches Gegen-
bild umrahmt. Die Freude an der ländlichen Freiheit bildet den
Grundton, mit dem die Geschichte anhebt und in dem sie ausklingt.
Mit doppeltem Behagon kehren wir zu der Alm zurück , nachdem die
Erzählung des Jägers unsere Phantasie eine Zeit lang mit den Bildern
des städtischen Treibens erfüllt hat. Aber nicht nur durch den Con-
trast steigert das Mittelstück der Erzählung die Wirkung des Haupt-
motivs, sie ist auch in sehr geschickler Weise benutzt, um den Charakter
des Jägers durch die Handlung zu entfalten. Vor allem ist das Ver-
hältnis des Jägers zu dem Staat, dessen Bürger er ist, ein notwendiges
Glied in der Schilderung seiner Lebensverhältnisse. Also auch für die
positive Seite der Darstellung steuert das Mittelstück der Erzählung
wesentliche Momente bei.
Denn darauf kommt es ja dem Redner an, dafs das Leben dieser
armen Leute nicht nur einzelne Vorzüge vor dem Leben der Sladtleute
494 Fanftes Kapitel.
hat, sondern in seiner Totalität nach aufsen und nach innen alles ent-
hält, was für ein volibefriedigtes Menschenleben von wesentlicher Be-
deutung ist. Es liegt darin durchaus nicht, dafs Dio jede höhere Cultur,
die über diese einfache Lebensform hinausgeht, für verderblich hält,
sondern nur, dafs das wesentlichste im Menschenleben von ihr unab-
hängig ist. Hinsichtlich seiner Autarkie kann das Leben dieser ein-
fachen Leute tausende beschämen, die einen viel reicheren Stoff nicht
nur an äufserem Besitz, sondern auch an Wissenschaft und Kunst zum
Aufbau ihres Lebens verwenden.
Besser als die Städter sind nach Dios Auffassung diese Wald-
bewohner mit Wohnung, Nahrung und Kleidung versorgt. Wieviel
schöner ist es in der Einsamkeit des Waldthales zu wohnen, wo man
für freie Bewegung Baum hat und die Stille der Natur den Menschen
zu sich selber kommen läfst, als in dem Lärm und Gedränge der Stadt.
Die Schilderung des Waldthales (§ 14. 15) ist zwar frei von sentimen-
taler Naturschwärmerei, die dem Jäger nicht anstehen würde, und scheint
ganz realistisch seine Vorzüge für die Tiere der Herde als Hauptsache
zu behandeln. Aber die unbewufste Freude des Jägers an der Schön-
heit der elementaren Natur, die ihm nicht Gegenstand müfsiger Augeo-
und Gefühlslust, sondern als Stätte seines arbeitsvollen Lebens eine wirk-
liche Heimat ist, kommt doch deutlich genug zum Ausdruck und wird
durch seine Klage über die Enge und den Lärm der Stadt beleuchtet
Dafs auch in der sinnlichen Lust an Speise und Trank diese Armen
den Beichen überlegen sind, wird als ein Hauptpunkt ausdrücklich be-
tont. Das selbsterlegte Wildpret und selbst der rauhe Hirsebrei mundet
ihnen nach tüchtiger Arbeit und Bewegung in freier Luft vortrefflich
und mit Behagen trinken sie dazu den selbstgebauten Wein.
Wie zufrieden der Jäger mit seiner Kleidung ist und wie wenig er
für die Eleganz städtischer Toilette Verständnis hat, zeigt sehr hübsch
die drollige Scene, wie er Chiton und Himation, die ihm die Gemeinde
als Ehrengabe verleiht, anfangs nicht annehmen will, und als man ihn
wider seinen Willen damit bekleidet, durch Oberwerfen des altgewohnten
Tierfelles das modische Costüm verunstaltet. Den neuen Anzug auf
Gemeindekosten erhält er bekanntlich als Ersatz für den Chiton seiner
Tochter, den er vor Jahren einem schiffbrüchigen Mitbürger nach liebe-
voller Pflege und Bewirtung beim Abschied geschenkt hatte. Sehr er-
götzlich ist auch geschildert, wie die Felle der erlegten Hirsche ihm als
bedeutender W'ertgegenstand gelten und einen Hauptbestandteil des
Familienvermögens ausmachen. Mit ihnen beschenkt er seine Gäste,
Dios letzte Lebensperiode. 495
und als er zur SelbsteiDschatzung für die CommuDalsleuer aufgefordert
wird, benutzt er die Hirschfelle als Wertmesser seiner Steuerkraft.
Haus und Hof stammen noch aus der Zeit ihrer Väter, als sie die
Herden des reichen Mannes hüteten. Nur haben sie den ursprünglich
für die sommerliche Almtrifl leicht gezimmerten Holzbau verstärken
müssen, um ihn für den Winteraufenthalt brauchbar zu machen. Die
hinter dem Gehöft ansteigende Berglehne haben sie mit Weizen, Gerste,
Hirse und Bohnen nach dem Mafse ihres Bedürfnisses angebaut. Die
Weinpflanzung, die sie allmählich vergröfsert und kürzlich bis auf 42
Weinstücke gebracht haben, ist trefflich gediehen. Sie liefert ihnen
Trauben zum Nachtisch und einen süfsen Rotwein, der auch ihren
städtischen Gästen Achtung einflöfst. Fügen wir noch den bescheidenen
Viehstand von acht Ziegen, einer Kuh und einem Kalb, die Jagdgewehre
und die unentbehrlichsten Haus- und Wirtschaftsgeräte hinzu, so ist
damit alles erschöpft, was sie besitzen. Geld haben sie nicht und be-
gehren sie nicht. Die 100 Drachmen, die ihm von der Gemeinde be-
willigt werden, weigert sich der Jäger anzunehmen. Wenn von Zeit
zu Zeit die Neuanschaffung eines unentbehrlichen Gerätes notwendig
wird, so tauschen sie es gegen Stücke ihrer Jagdbeute oder Wirtschafts-
erzeugnisse im nächsten Dorfe ein. Der Gesundheitszustand der Familien
ist natürlich ein vortrefflicher. Die Eltern der jetzigen Besitzer haben
ein hohes Alter erreicht und sind bis zuletzt stark und rüstig geblieben.
Die Mutter des einen ist noch am Leben. Aus Dios schwächlicher
Körperbeschaffenheit schliefst der Jäger, er müsse wohl ein Städter sein.
Aber nicht nur leiblich sind die Waldbewohner gut versorgt: im
gesunden Körper wohnt eine gesunde Seele. Der höchste Zweck der
ganzen Darstellung liegt in der dramatischen Entfaltung des Charakters
der Hauptperson. Der Redner will seine Hörer überzeugen, dafs Men-
schen, denen die städtische Cultur und die modische Schulbildung fehlt,
darum noch keine Barbaren zu sein brauchen. Was er im Bilde des
Jägers und seines Familienkreises veranschaulicht, ist das, was wir „naive
Gesittung'* nennen würden; eine Lebensform, die alles enthält, was das
Menschenleben ehr- und liebenswürdig macht, obwohl ihr fast der ganze
Apparat an Wissen und Kunst fehlt, den eine Jahrhunderte alte Cultur
zur Veredlung des Lebens entwickelt hat.
Dios Jäger ist, trotz seiner Unwissenheit, die z. B. in dem Glauben
an Tage guter Vorbedeutung {orav firj fAinQov j] ro aekrjviov) und in
seinen naiven Äufseningen über die städtischen Einrichtungen zum Aus-
druck kommt, durchaus nicht auf den Kopf gefallen. Er hat nicht nur
496 Fünftes Kapitel.
deo Verstand, den er für sein einfaches Leben braucht, sondern auch
einen gesunden Mutterwitz, mit dem er in der Volksversammlung tllier
die sykophantischen Künste des Demagogen triumphirt und die Lacher
auf seine Seite bringt Er hat freilich weder lesen noch schreiben ge*
lernt, geschweige denn Rhetorik und Philosophie. Denn er ist im
Walde aufgewachsen und nur einmal als Knabe mit seinem Vater in
der Stadt gewesen. Aber an Erziehung fehlt es ihm trotzdem nicht.
Mit gutem Bedacht hat Dio nicht den Vater, der erst im reifen Mannes-
alter seinen ständigen Wohnsitz in den Bergen nahm, sondern den Sohn
zum Helden seiner Erzählung gemacht, der fast garnicht mehr mit der
städtischen Sphäre in Berührung gekommen ist. Er ist durch einen
besonderen GlUckszufall von der modernen Pädagogik verschont ge-
blieben und aufser den freien und natürlichen Verhältnissen, in denen
er aufgewachsen ist, haben nur die Eltern auf ihn eingewirkt, die, ob-
gleich durch Armut zu niederem Lohndienst gezwungen, von bürger-
licher Geburt waren und ihm eine gute und anständige. Tradition ins
Leben mitgegeben haben. Er ist also nicht als culturloser Wilder auf-
gewachsen, sondern hat die einfachsten Elemente einer alten Gesittung
in sich aufgenommen, die er auch, wie wir sehen, seineu Kindern über-
liefert. Da er sich abseits von der Menschenherde gehalten hat, die
ihn sonst unfehlbar auch in ihren rücksichtslosen Kampf um Gold,
Macht, Elire und Gennfs hineingerissen hätte, so haben sich diese Keime
ungehemmt entfalten können.
Da er ganz frei und unabhängig gelebt hat und weder von der
Obrigkeit noch von andern stärkeren bedrückt und übervorteilt worden
ist, so hat er nicht nötig gehabt, die Bauernschlanheit in sich auszu-
bilden ; er ist vertrauensvoll, offen und walirhaft geblieben : anXovg xai
yevvalog. Seine edle Wahrhaftigkeit hat der Erzähler besonders betont,
indem er ihn in der Volksversammlung seinen ganzen Besitzstand dar-
legen und auch nicht das kleinste verschweigen lüfst. Dio hat ihn in
Verdacht, wenigstens den schonen Obst- und Gemüsegarten verschwiegen
zu haben (§ 64 aXV iv zi oTtexQvtpio rovg uoklragj ro ndUuOTov
züiv Tirr^iAdTCJv). Aber der JHgcr kann sich rechtfertigen: den Garten
hatten sie damals noch nicht, er ist später angelegt worden. Durch
diesen feinen Zug wird neben der Wahrhaftigkeit des Jägers zugleich
sein fortschreitender Wohlstand, die Frucht fleifsiger Arbeit, gekenn-
zeiclinet. Es ist ihm natürlich, jedem Menschen, auch wenn er ihn
zum ersten Male sieht, olfen und vertrauensvoll entgegenzukommen und
gutes von ihm zu denken. Auch wo zu Mifstrauen Anlafs vorhanden
Dios letzte Lebensperiode. . 497
ist, wie bei dem Besuch der Abgesandten aus der Stadt, läfst er nicht
von seiner Art. Den Gegensatz zu dieser aftkorrjg bildet das mifs-
trauische und verleumderische Wesen des Sykophanten, der bei allen
Menschen die im gesellschaftlichen Existenzkampfe geschulte Verschlagen-
heit und rücksichtslose, vor keinem Mittel zurückschreckende Selbst-
sucht voraussetzt, die ihn selbst beseelt, und deshalb eine so einfache
Persönlichkeit, wie der Jäger ist, nicht zu begreifen vermag.
Die beiden Jägerfamilien sind arbeitsame Leute. Ihren bescheidenen
Wohlstand haben sie sich mit ihrer Hände Arbeit so zu sagen aus dem
nichts erschalTen. Ich habe schon an anderer Stelle darauf hingewiesen^
dafs nach kynischcr Ansicht auf der körperlichen Arbeit ein ganz be-
sonderer Segen ruht. Die Arbeit, die diese Waldbewohner thun, um
sich ihr Leben zu erhalten , ist ein wesentliches Stück ihres Lebens-
glückes. Sie arbeiten nur für sich, aber sie nehmen auch keine oder
fast keine Arbeit anderer Menschen für sich in Anspruch. Sie sind im
vollsten Wortsinne avzovqyoL Erzeugnisse der Industrie besitzen sie
nur ganz wenige. Auch des Kaufmanns, der den Güteraustausch ver-
mittelt, bedürfen sie nicht. Dienstboten halten sie nicht; die heran-
wachsenden Kinder finden in der Bedienung der Eltern ihren natürlichen
Beruf.*) So ist die Familie ihr Staat und ihre Welt. In der Familie
entwickelt sich ein heiteres und liebevolles Zusammenleben, das ihrem
gemütlichen und geselligen Bedürfnis genügt. Hierfür ist es von Be-
deutung, dafs Dio uns zwei Hausstände schildert, die durch Bande der
Freundschaft und Verschwägerung verbunden sind. Jeder der beiden
Männer hat die Schwester des anderen geheiratet. So erhält die kleine
Colonie erst volle Selbstgenügsamkeit, indem sich die beiden Männer
und die beiden Frauen an einander anschliefsen und in der Kinderwelt
neben dem geschwisterlichen Verhältnis das kameradschaftliche zwischen
Vettern und Cousinen reicheres Leben erzeugt. Mit grofser Anmut und
Liebenswürdigkeit hat Dio im letzten Teil der Erzählung die Fröhlich-
keit dieses traulichen Zusammenlebens geschildert. Auch ist die Familie
nicht völlig von der übrigen Welt abgeschieden. Der junge Bauer aus
dem nächsten Dorfe, ein avriQ nXovatog^ führt die älteste Tochter des
Jägers heim. Dio will andeuten, dafs die fleifsig und anspruchslos er-
1) Vgl. or. 10 ne^i oixermv, besonders § 13 xai ft^v dnov oixirrjs iarivy
e^&ve Sia^&eiQoviai ol yiyvöfievoi nazdes xal AoyöxsQol xe yiyvovrai xai vneg-
riffavdtXEQot^ Övxoi uhv xov SiaxovovvxoSj i/ovxss Sk o-ö xaxa(poovovaiv' Snov S*
&v avxoi diaiy Ttolif dvSQsiöxe^oi xal laxvoöxepoty xöjv Tcaxigatv ei^di;e i^ <ipXV^
xtjSsa&ai uav&dvovxee,
V. Arnim, Dio. 32
498 Fänftes Kapitel.
zogeneD Mädchen auch über den Familienkreis hinaus geschätzt werden
und den Anforderungen gewachsen sind, die ein grüfseres Anwesen an
die Bäuerin stellt. Auch nach ihrer Verheiratung bleibt die junge
Bäuerin, deren Ehe mit mehreren Kindern gesegnet ist, mit den Eltern
in liebevollem Verhältnis. Aber diese lehnen es durchaus ab, von dem
Wohlstand des Schwiegersohnes für sich Vorteil zu ziehen. Sie legen
Wert darauf, ganz unabhängig zu sein und keiner Unterstützung zu
bedürfen. Als einmal Mifswachs sie zwingt^ Saatkorn von ihrem Schwieger-
sohn zu entleihen, ist es ihnen Gewissenspflicht, gleich nach der Ernte
das geliehene zurückzuerstatten. So ist dafür gesorgt, dafs der reiche
Bauer nie seiner Frau die Armut ihrer Eltern, für die man auch noch
sorgen müsse, vorwerfen kann. Hingegen wird der Hof des Schwieger-
sohnes von den Waldleuten mit Wildbret versorgt und mit Obst und
Gemüse, den Erzeugnissen des Gartens, der ihr Stolz ist. Denn der
Bauernhof unten im Dorf besitzt keinen Garten.
Die jüngere Tochter des Jägers wird ihrem Vetter, der sich ent-
schlossen hat, im Walde zu bleiben und selbst wieder ein Jäger zu
werden, zur Frau gegeben. Die Schilderung dieses Verhältnisses, die
im letzten Teil der Erzählung in den Vordergrund tritt, soll nach der
Absicht des Redners eine vorbildliche Darstellung naturgemäfser und
vernünftiger Eheschliefsung sein, wie er § 80 gesteht. Sie soll den
Gegensatz bilden zu der bei den Eheschliefsungen der Reichen und
Vornehmen herrschenden Unnatürlichkeit und berechnenden Kälte, die
mit allen ihren Erkundigungen über Herkunft und Vermögenslage und
mit den verwickelten Stipulationen ihrer Eheverträge doch keine gute
Ehe zustande bringt. Auch hier ist es dem Redner gelungen, mit
wenigen Worten viel und bedeutungsvolles zu sagen. Mit wenigen
Strichen zeichnet er die Leidenschaft des Burschen, die sich, obwohl
durch Scham und Sitte gebändigt, zum Ergötzen der beiderseitigen Eltern
in treuherzig naiver Weise kundgiebt Bei seinem Eintritt in das Zimmer
errötet er. Den Hasen, den er erlegt hat, bringt er der Geliebten als
Huldigungsgabe und benutzt einen Augenblick, wo er sich unbeobachtet
glaubt, zu einem Kufs in Ehren. Als der Gast, der die Lage der Dinge
sofort überschaut hat, neckend fragt, ob auch diese Tochter, wie ihre
ältere Schwester, einen reichen Mann bekommen soll, errötet er wieder
und mit ihm zugleich das Mädchen. Da er sich als Jäger genügend
ausgebildet l'ühlt und mit Hirsch und Wildschwein fertig zu werden
weifs, glaubt er sich gereift genug, um einen eigenen Hausstand zu
begründen, und erwartet mit brennender Ungeduld, dafs die Eltern den
Dios letzte Lebensperiode. 499
•
Tag der Hochzeit festsetzen. Denn dafs die beiden ein Paar werden
sollen, ist längst beschlossene Sache. Aber die Eltern warten noch,
wie sie sagen, auf einen Tag guter Vorbedeutung. Sein verschämter
Versuch, anzudeuten, dafs dieser Tag gekommen und kein Grund vor-
handen sei, noch länger zu warten, stimmt beide Väter zur Heiterkeit.
Auch das Schwein, das für das Hochzeitsopfer gebraucht wird, hat er
sich schon ohne Vorwissen des Vaters zu verschaffen gewufst — die
Mutter war natürlich im Geheimnis — und es im selbstgezimmerten
Kofen hinter dem Hause so trefflich gemästet, dafs es vor Fett fast
birst und den Ansprüchen der Götter genügen kann. Die ganze Ver-
handlung über die Festsetzung der Hochzeit wird mit der gröfsten Frei-
mütigkeit und Herzlichkeit geführt. Die Rührung der Frauen macht
sich in Küssen Luft, während die Väter durch humoristische Behandlung
der Sache ihre Oberlegenheit wahren. Die ganze Scene ist ein Bild
einfacher Humanität und von wohlthuender Wärme durchdrungen. Bei
aller Freimütigkeit geht es unter diesen einfachen Leuten sittig und
zartsinnig zu. Man fühlt, dafs es in diesem Kreise nicht an Liebe fehlt,
und versteht das Gefühl des Jägers, das sich in jenen naiven Worten
ausspricht: t6t€ iyviav otl iv taig nokeaiv ov q)iXovaiv aXXijXovg.
Aber Dio begnügt sich nicht das glückliche Familienleben seiner
Armen auf dem Lande zu schildern. Er sucht dem Bilde tiefere Be-
deutung zu geben, indem er zeigt, dafs man dem Jäger nicht Versäum-
nis seiner Pflichten gegen den Staat und gegen die Menschheit schuld-
geben darf. Der Jäger ist von einer natürlichen Menschenliebe erfüllt,
die es ihm zu einer selbstverständlichen Sache macht, dem Obdach-
losen Gastfreundschaft und dem Notleidenden Hülfe zu gewähren, auch
wenn er ihn nie zuvor gesehen hat. Die humane Gesinnung, die jeden
hülfsbedürftigen Mitmenschen als Bruder betrachtet, beruht bei ihm
nicht auf dem philosophischen Dogma, auch nicht auf der Furcht vor
dem Gotte des Gastrechtes, sondern auf natürlichem Gefühl. Die Ver-
leumdungen des Sykophanten nimmt er im allgemeinen mit Gleichmut
hin und begnügt sich, sie kurz und sachlich oder mit trockenem Witz
zurückzuweisen. Nur die eine Beschuldigung, dafs er, ein zweiter
Nauplios, von den kapherischen Felsen trügerische Feuersignale gebe,
um die Schiffe an den Klippen scheitern zu lassen und sich am Gute
der Schiffbrüchigen zu bereichern, versetzt ihn in eine gewisse Erregung:
fifj yoQ eXrj • nori, lo Zev, kaßelv f4i]Ö€ xeQÖävai xigdog tocovtov
anb avd'QOJTCwv övarvxlag. Wie er sich in Wahrheit der armen Schiff-
brüchigen annimmt, ihnen die Pflege, deren sie bedürfen, gewährt, aus
32*
500 Ffinftes Kapitel.
seinen bescheidenen Mitteln sie freigebig, ja grofsmtttig bewirtet und
das alles aus reiner Menschenliebe und mit wohlthuender Herzlichkeit,
wird durch Dios eigenes Erlebnis uud das jenes anderen Bürgers, der
in der Volksversammlung für ihn zeugt, bewiesen. Besonders bezeich-
nend für seine Gesinnung sind seine Worte § 7 inifAekrjaofied'a oTttag
aw&^g, inetdii ae %yvu)(A€v ana^ und der Kufs, den er in der
Freude des Wiedersehens dem überraschten Sotades verabfolgt, den er
vor Jahren gerettet und in seinem Hause bewirtet hatte.
So zeigt Dio, dafs der Jäger trotz seiner Absonderung von der
Menschenherde Gelegenheit findet, seine Pflichten gegen die Menschheit
zu erfüllen. Aber wie steht es mit der Gemeinde, der er als Bürger
angehört? Ist nicht solche Absonderung vom Leben der Gemeinde
eine schwere Verletzung der Bürgerpflicht? Dio hat dafür gesorgt, dafs
den Leuten selbst deswegen ein sittlicher Vorwurf nicht gemacht werden
kann. Denn sie sind nur bei der Lebensweise geblieben, in der sie
aufgewachsen sind. Wenn jemanden ein Vorwurf trilTt, so sind es die
Väter. Aber auch sie hatten ja nur der Not gehorcht. Erst als ihre
Versuche in Stadt oder Dorf Arbeit zu finden, fehlgeschlagen waren,
hatten sie sich entschlossen, die bisherige Sommerwohnung auch als
Winterquartier zu benutzen. Die delicate Frage nach der sittlichen
Berechtigung solcher Absonderung hat also Dio hinweggeräumt. Um
so deutlicher verfolgt der mittlere Teil der Erzählung die Tendenz,
nachzuweisen, dafs diese Leute für das Wohl ihrer Vaterstadt mindestens
ebensoviel leisten als die eifrig am Gemeindeleben beteiligten Städter.
Nicht allein, dafs sie in Kriegszeiten oder gegen Überfälle der Piraten
bessere Vaterlandsvertheidiger als manche Städter abgeben würden (§ 49),
auch ihre wirtschaftliche Arbeit, durch die sie die Ödländereien des Stadt-
gebietes wieder in ertragsfähiges Culturland verwandeln, nützt dem Staate
mehr, als das Zungendreschen städtischer Müfsiggänger. Aus den der
Erzählung folgenden Beflexioneu wissen wir, dafs es Dios Absicht war,
die Verödung des platten Landes und das Zusammenströmen der ganzen
Bevölkerung in die Städte als den Krebsschaden des gegenwärtigen
Culturzustandes zu bezeichnen. Diese Tendenz kommt besonders in
der Bede des ^rjvwQ l7ium]g § 33—41 zur Gellung, in welcher prak-
tische Vorschläge zur Heilung des Übels gemacht werden.
Zwei Drittel des Stadtgebietes liegen verödet. Der Redner selbst
besitzt in der Ebene und im Gebirge ausgedehnte Ländereien, die wegen
des Mangels an ländlichen Arbeitern unbestellt bleiben. Wenn Jemand
sie wieder anbauen wollte, so würde er, wie er sagt, nicht nur keine
Dio8 letzte Lebensperiode. 501
Pacht von ihm fordern, sondern selbst gern einen Teil des Betriebs-
capitals vorschiefsen. Der Bürgerschaft rät er, die Occupation des Ge-
meindelandes durch Private nicht zu verhindern, sondern zu befördern
und zu prämiiren. Wer ein Stück der verödeten Feldmark wieder in
Cultur setzt, soll zehn Jahre lang keine Abgaben davon zahlen. Erst
nach Ablauf dieser Zeit, wenn die Wirtschaft genügende Lebensfähig-
keit erlangt hat, soll er zu einer mäfsigen Abgabe, die nach Procenten
des Ertrags an Feldfrüchten zu berechnen wäre, herangezogen werden.
Auch Fremden soll die Occupation unter ähnlichen Bedingungen wie
den Bürgern gestattet werden. Nur sollen sie schon nach Ablauf von
fünf Jahren eine Abgabe, und zwar den doppelten Betrag von der-
jenigen zahlen, die von den Bürgern erhoben wird. Wenn ein Fremder
200 Plethra anbaut, so soll er das Bürgerrecht erhalten. Dafs den Bür-
gern soviel günstigere Bedingungen gemacht werden, ist selbstverständ-
hch vom Gerechtigkeitsstandpunkt. Der Zweck der vorgeschlagenen Mafs-
regel ist ein materieller und idealer zugleich. Sie würde nicht nur in
absehbarer Zeit die Gemeindeeinkünfte vermehren, sie würde auch einen
grofsen Teil der städtischen Proletarier allmählich wieder in wohlhabende
Bauern verwandeln und sie nicht nur ökonomisch, sondern auch phy-
sisch und moralisch auf eine höhere Stufe heben.
Hier ist der Punkt, wo die moralphilosophische Tendenz der Schrift
in das nationalökonomische Gebiet hinübergreift. Denn für Dio ist auch
die Nationalökonomie nur ein Teil der ethisch-politischen Wissenschaft.
Zunächst aber müssen wir unsern Gedankengang bezüglich des Jägers
zum Abschlufs bringen. Soweit der Verfasser zeigen will, dafs das
Leben des Jägers und der andern Waldbewohner allen Anforderungen
genügt, die man äufserlich und innerlich an ein der Menschenwürde
entsprechendes Dasein stellen kann, gipfelt die Darstellung in dem
Triumph des Jägers in der Volksversammlung. Es siegt hier die An-
schauung, dafs auch der Staat alle Ursache hat, mit solchen Bürgern
zufrieden zu sein. Freilich hat der Jäger das formale Recht verletzt,
indem er einen Boden anbaute, der zum Gemeindeland gehörte, ohne
Zins zu zahlen. Aber er hat bona fide gehandelt und die jahrelange
Unkenntnis der Gemeinde zeigt, dafs diese mit ihrem Besitze selbst
nichts anzufangen wufste. Dafs er sich durch den Anbau des verödeten
Landes, das sonst niemandem zugute kam, nach den Grundsülzen des
natürlichen Rechtes und der Billigkeit ein Anrecht auf den Besitz des-
selben erworben hat, wird ausdrücklich anerkannt (§ 61 ipi]q)iaaad'ai
ök avtoig xaQTtovad'ai to xwqLov xcri avTovg aal ja rixva). Damit
502 Ffinftes Kapitel.
hal auch der Staat das Verhalten der Waldleute als von seinem Standpunkt
aus berechtigt anerkannt. Auch zeigt die rührende Bereitwilligkeit des
Jägers, alle Forderungen, die man an ihn stellen könnte, zu erfüllen
(vgl. namentlich § 50), dafs er nicht gesonnen ist, ^ich seinen Bürger-
pflichten zu entziehen. Aber zu diesen Pflichten rechnet er nicht die
Beteiligung an dem politischen Leben seiner Vaterstadt. Er glaubt ihr
durch productive Arbeit mehr zu nützen als durch seine Beteiligung an
den Volksversammlungen, die ja bei Leuten seiner Klasse doch haupt-
sächlich darauf abzielen würde, sich vom Staate füttern zu lassen.
Neben den Zügen, die das Bild des Jägers zu vervollständigen dienen,
enthält die Volksversammlungsscene eine Satire auf die schlechten Dema-
gogen, die von persönlichem Ehrgeiz und andern selbstsüchtigen Be-
weggründen geleitet, ohne tiefere Sachkenntnis und politische Einsicht
sich der politischen Laufbahn zuwenden und durch eine rabulistische
Redekunst, die ihnen als zureichende Qualification für den Beruf des
Staatsmannes gilt, das Volk mifsleiten. Dafs Dio hier eigene Eindrücke
und Erlebnisse aus seiner prusanischen Zeit verarbeitet, scheint mir
sicher. Eine theoretische Behandlung desselben Gegenstandes enthält
die zweite tarsische Rede § 28 — 37.
Der Erzählung folgen im Euboicus zunächst in § 81— 102 Betrach-
tungen, die aus ihr das Facit ziehen. Dann, mit § 103, wendet sich
der Redner dem zweiten und schwierigeren Teil seines Themas zu.
Auch den städtischen Armen will er Anweisung geben, wie sie ihren
Lebensunterhalt flnden können, ohne ihre Gesundheit, ihre Lebens-
freudigkeit und ihre Menschenwürde einzubüfsen. Dio gesteht selbst
zu, dafs sich hier ungleich gröfsere Schwierigkeiten erheben. Am besten
wäre es schon, wenn man den Strom der städtischen Proletarier aufs
Land zurückleiten könnte, um sie wieder in Bauern zu verwandeln —
und was etwa von Seiten der Gesetzgebung geschehen könnte, um dieses
Ziel zu fördern, ist ja in der Einzahlung durch die Anträge des avrjQ
InuiYrg angedeutet. Da sich aber dieses Ziel vorläufig nicht erreichen
läfst, gilt es, auch den städtischen Armen den Weg zu zeigen.
Von diesem Teil der Rede, der uns das allerhöchste Interesse ein-
flöfsen würde, ist leider nur der negative Teil erhalten, in dem die
Berufe, die nach Dios Ansicht der Arme meiden soll, behandelt werden
— und selbst er ist nicht vollständig. Für die Beurteilung des uns so
fremdartigen Stiles habe ich im ersten Teil dieses Kapitels den richtigen
Standpunkt zu gewinnen gesucht. Man darf sich durch die Form nicht
zur Ungerechtigkeit gegen den Inhalt verleiten lassen. Das Unternehmen
Dio8 letzte Lebensperiotie. 508
selbst verdient die höchste Anerkennung und der Verlust des positiven
Teils ist tief zu bedauern.
Ich glaube hier auf eine Behandlung der einzelnen von Dio ver-
pönten Berufe verzichten zu dürfen und begnüge mich auf die grund-
legenden Gesichtspunkte hinzuweisen, die in §109 — 113 aufgestellt
werden. Dio erinnert an den Hesiodvers, der besagt, dafs keine Arbeit
Schmach bringt, und findet ihn nur zutreffend, wenn man dem Begriff
Arbeit weit engere Grenzen zieht, als der allgemeine Sprachgebrauch.
Nicht jede Thätigkeit, durch die man sein Brot erwirbt und irgend-
welchen Bedürfnissen anderer Menschen dient, hat Anspruch auf den
Ehrennamen Arbeit. Zwei Forderungen sind es^ denen eine Thätigkeit
genügen mufs, die wir als Arbeit anerkennen sollen. Sie mufs sich
subjectiv und objectiv legitimiren können, objectiv durch den Zweck,
dem sie dient, subjectiv durch ihre Unschädlichkeit für den Arbeitenden
selbst. Der objective Zweck mufs immer von der Art sein, dafs er dem
Menschenleben hinreichenden Nutzen gewährt (§ 112 ;(^e/ay Ixarfiv
noQexovra nqbg xov ßlov). Was damit gemeint ist, würden wir deut-
licher erkennen, wenn die Behandlung der empfehlenswerten Berufe
erhalten wäre. Meines Erachtens liegt dieser Forderung die Unter-
scheidung der berechtigten, weil in der Natur begründeten Bedürfnisse
von den durch die Cultur geschaffenen Scheinbedürfnissen zugrunde.
Denn § 110 spricht er von den Tixvai, oaac a;^^€tot xai TtQog oidiv
0(pek6g eiaiv evQrjiiivai dt' aßelre^lav re xai rQvq>riv xwv noXetov,
Es hängt also diese Forderung mit Dios Kritik der materiellen Cultur
seiner Zeit zusammen, die wir früher besprochen haben. Proben davon
erhalten wir in § 117 — 123. Die Besprechung des einzelnen würde zu
weit führen. Die subjective Unschädlichkeit, durch welche die echte
Arbeit charakterisirt wird, ist eine doppelte: die physische und die
moralische. Nur die Thätigkeit ist Arbeit, die den thätigen selbst weder
an seinem Leibe noch an seiner Seele schädigt. Offenbar beruht diese
Forderung auf dem Grundgedanken der Humanität, den wir schon oben
bei Dio nachwiesen. Es ist zwar hier nur von freien Arbeitern die
Rede. Da aber im Euboicus selbst, an anderer Stelle, Achtung vor der
Menschenwürde auch des Sclaven gefordert wird, so dürfen wir anneh-
men^ dafs es eben der Humanitälsgedanke ist, der Dio zur Verwerfung
aller Berufe veranlafst, die den, der sie ausübt, an Leib oder Seele
schädigen. Denn vom Humanitätsstandpunkt ist es unzulässig, dafs
selbst der ärmste und geringste Mensch für andere Menschen seine
Gesundheit und seine Menschenwürde aufzuopfern gezwungen wird.
604 Ffinftes Kapitel.
Dies ist der hohe und reine Begriff der Arbeit, den Dio zum Grund-
stein seiner Lebensphilosophie gemacht hat. Auf diesem Grundgedanken
beruhte auch der uns verlorene positive Teil über die einzelnen Wege
der Lebensfristung, die er den städtischen Armen empfehlen zu dürfen
glaubte. Eine materielle Cultur, deren Pracht und Herrlichkeit darauf
beruht, dafs der grüfsere Teil des Volkes sein Glück und seine Men-
schenwürde opfern mufs, um einer kleinen Minderheit den Genufs jener
Güter zu verschaffen, ist nicht allein deswegen, nach Dios Ansicht, zu
verwerfen, weil sie das Wohl der Gesamtheit preisgiebt und dem llunia-
nitätsgedanken widerspricht, sondern auch weil die so teuer erkauften
Güter keine wahren Güter sind und denen selbst, die über sie verfugen,
nicht zum Segen gereichen. Das Ziel einer vernünftigen Politik kann
daher nicht sein, das rafünirte Genufsleben der Reichen und die Schein-
güter der materiellen Cultur der Gesamtheit des Volkes zuzuführen und
sie dadurch mit in das Verderben der höheren Klassen hineinzuziehen,
sondern einen arbeitsamen, einfach lebenden Mittelstand zu schaffen,
der in seiner ]ihysischen und moralischen Gesundheit und in dem seih-
ständigen Betrieb einer Arbeit, die mittelbar oder unmittelbar dem wahren
Wohle der Gesamtheit dient, die Elenientc irdischen Glückes besitzt.
Nachdem wir die Grundgedanken von Dios Politik entwickelt haben,
wird es nicht nOtig sein, noch seine Stellungnahme zu den einzelnen
brennenden Fragen der Stadt- und Provincialpolitik der östlichen Reiclis-
halfte ausführlich zu behandeln. Wie Dio sich praktisch zu diesen Fra-
gen stellte, hat das vorige Kapitel gezeigt. Ich darf mich mit dem Hin-
weis begnügen, dafs Dio die Ergebnisse seiner billiynischen Erfahrungen
in abgeklärter und verallgemeinerter Form auch andern Städten zugute
kommen liefs. Die wichtigsten Gedanken sind folgende. Das Heil von
Staat und Gesellschaft beruht in erster Linie nicht auf materieller, son-
dern auf moralischer Grundlage. Die Sittlichkeil, Zucht und Sitte im
Privatleben ist von der gröfsten Bedeutung für den Staat und das öfl'ent-
hclie Leben. Denn es läfsl sich keine scharfe Grenze zwischen dem
Leben der einzelnen Bürger und dem der staatlichen Gemeinschaft ziehen.
Das Laster, das die Mehrzahl der einzelnen Bürger ergreift, wird zum
Laster des Staates und vergiftet sein Leben. Die alexandrinische und
die erste tarsische Hede zeigen dies an Beispielen. Auch der Staat als
Ganzes kann sittlich oder unsittlich sein. Die sittliche Beurteilung ist
es, die über seinen Gesamtwert entscheidet. Der elende Zustand der
meisten Städte und Provinzen des Ostens beruht auf denselben mora-
lischen Gebrechen, die das Leben der einzelnen verwüsten, auf (/^^cJyoc:,
Dios letzte Lebeosperiode. 505
nXeove^la, q)ckovixla (or. 34 § 19), auf der UnkenntDis der ethisch-
politischen Wissenschaft. Die meisten Staatsmänner, die heutzutage die
städtischen Angelegenheiten verwalten, betrachten vornehme Geburt oder
Geldbesitz als ausreichende Qualification für den staatsmännischen Beruf;
höchstens haben sie sich eine rhetorische Bildung angeeignet (or.34 §29).
Der leitende Beweggrund ihrer ganzen politischen Thätigkeit ist nicht
wahre Vaterlandshebe, sondern Ehrgeiz. Weil es ihnen an tieferer poli-
tischer Einsicht gebricht, die ihnen Überlegenheit dem Volke gegenüber
verleihen könnte, sind sie nur gehorsame Diener des Volkes. Durch
Anpassung au seine Launen suchen sie persönliche Augenblickserfolge
zu erringen. Was weiter wird, wenn sie von der Bühne abgetreten
sind, kümmert sie wenig. Männer, die die PoHtik zu ihrem Lebens-
beruf machen und ihr dauernd ihre besten Kräfte widmen, sind selten.
Die meisten treiben sie nur als jcaQeqyov und für kurze Zeit, bis sie
die persönlichen Ehrungen, auf die es ihnen ankommt, Euergesiedecrete,
Kränze, Statuen erhalten haben. So kommt durch den beständigen
Wechsel der Personen ein unstätes Wesen in das städtische Regiment,
das jede weitschaueude und zielbewufste Politik unmöglich macht. Aus
den sittlichen Fehlern, die in der Masse des Volkes vorherrschen und
von denen auch die Führer nicht frei sind, erklären sich, nach Dios
Meinung, die in der ganzen griechischen Welt überall in gleicher Weise
wiederkehrenden Übel: der Bürgerzwist in den einzelnen Städten, der
Hader der Städte in den Provinzen, die Unfähigkeit der Städte und der
Provinzen gegenüber dem Reich und seinen Vertretern, den Slatthallern,
das richtige und zu ihrem eigenen Besten dienende Verhalten zu be-
obachten. Nach diesen drei Gesichtspunkten bespricht Dio in der zweiten
tarsischen Rede die Verhältnisse von Tarsos. Aber auch die im vorigen
Kapitel besprochenen bithynischen Verhältnisse lassen sich unter die-
selben drei Gesichtspunkte ordnen. In allen drei Beziehungen herrscht
eine Vergeudung der Kräfte im Kampf um nichtige Ziele, während die echte,
schöpferische Arbeit, die zum Wohle des Ganzen dient, vernachlässigt
wird: al (abv yaq 7Covr]Qal xai avucpelelg arcoväal xai (ftXoxc^Lai
fxakkov eioL %ov TCQoarfAOVJog avTera/Aivat xal zqotcov riva a/to^-
QtjyvvvTaL (wie Saiten einer Cither, von denen vorher die Rede war)
al de V7ceQ tcov nakkioTOjy oliog ly.Xvoviai. In letzter Linie hegt
allen diesen Übelständen, nach Dios Meinung, eine falsche Weltanschauung
zugrunde, die in äufseren Gütern, wie Besitz, Genufs, Ehre, statt in sitt-
lichen Gütern , das um seiner selbst willen erstrebenswerte Ziel findet.
506 FQnftes Kapitel.
Nachdem ich die rednerische Tbatigkeit Dies in seiner letzten Epoche
ihrer Form und ihrem Gedankengehalte nach charakterisirt habe, darf
ich die Besprechung der Werke Dies als abgeschlossen ansehen. Der
biographischen Darstellung bleibt noch der Scblufsstein einzufügen. In
dem Briefwechsel des Plinius mit Trajan sind einige Nachrichten ent-
halten, die auf Dios letzte Lebensjahre ein Schlaglicht werfen. Nicht
nur, was Plinius ttber Dio selbst mitteilt, sondern alles was wir aus
seinen Briefen über Prusa erfahren, ist uns von Bedeutung.
Wir wissen nicht, wann Dio nach Prusa zurückgekehrt ist, wo wir
ihn im Jahre 110 oder 111 antreffen*). Ich halte es für das weitaus
1) Das Datum der Stallhalterscbart des Plinias ist durch Moromsen Hermes III 55 f.
eodgältig festgelegt. Von Galpurnius Macer, aus dessen Erwähnung ad Trai. 42. 6 1 . 62. 77
man scbliefsen kann, er sei zur Zeit von Plinius' bilhynischer Statthalterschaft, als
nächster Nachbar des Plinius, Statthalter von Niederroösien gewesen, steht durch
die Inschrift CIL. III 777 fest, dafs er zur Zeit der sechzehnten tribunicischen Gewalt
Traians, d.h. im Jahre 112, Mösien als legatus Augusti propraetort verwaltete.
Also mnfs das Jahr, in das seine Erwähnungen bei Plinius fallen, das erste, dessen
Anfang Plinius in der Provinz erlebte, nachdem er im September des Vorjahres ein-
getroffen war, das Jahr 111 oder 112 sein. Wenn die Legation des Macer, wie die
des Plinius, zwei Jahre (von Sommer zu Sommer gerechnet) dauerte und ihre gleich-
zeitige Anwesenheit in ihren beiderseitigen Provinzen für das erste Jahr des Plinius
bezeugt ist (denn erst nach der letzten Erwähnung Macers ep. 77, im 88. Briefe kehrt
der Geburtstag des Kaisers wieder, an dessen Vorabend Plinius ein Jahr früher in
der Provinz eingetroffen war), so sind nur zwei Fälle möglich. Das erste Jahr des
Plinius kann das erste oder das zweite des Macer gewesen sein. Ferner kann von
den drei Jahren, über die sich die Statthalterschaft des Macer erstreckt, das erste,
zweite oder dritte das Jahr 112 gewesen sein. Ad 1: War das Jahr 112 das Jahr
seines Eintreffens in Mösien und das erste Jahr des Plinius mit seinem ersten Jahr
identisch, so wäre auch Plinius im September 112 nach Bithynien gekommen. War
dagegen das erste Jahr des Plinius mit Macers zweitem Jahr identisch (immer noch
vorausgesetzt, dafs Macer im Sommer 112 nach Mösien kam), so wßrde Plinius erst
im September 113 nach Bithynien gekommen sein. Beides ist aber ausgeschlossen,
da sich Trajan im Herbst 113, über den sich der Briefwechsel auch im günstigeren
dieser beiden Fälle hinauserstrecken würde, nicht mehr, wie während des ganzen
Briefwechsels, in Rom befand, sondern zum Partherkrieg nach dem Orient gegangen
war. — Ad 2: War das mittlere Jahr der mösischen Statthalterschaft Macers das
Jahr 112, d. h. war er 111 nach Mösien gekommen, und war das erste Jahr des Pli-
nius mit seinem ersten Jahr identisch, so war Plinius ebenfalls im September 111
nach Bithynien gekommen. War dagegen das erste Jahr des Plinius das zweite
des Macer, so würde der erste der ad 1 besprochenen Fälle eintreten, den wir be-
reits als unmöglich erkannt haben. — Ad 3: War das Jahr 112 dasjenige, in dessen
Mitte Macers mösische Statthalterschaft ihr Ende erreichte, und das erste Jahr des
Plinius mit seinem ersten Jahre identisch, so wären beide Mitte 110 in ihren Pro-
Dios letzte Lebensperiode. 507
wahrscheinlichste, dafs dort wieder sein ständiger Wohnsitz war, seit er
im Jahre 105 den kaiserlichen Hof verlassen hatte. Dafs in den auf
105 folgenden Jahren Dio als popularphilosophischer Epideiktiker die
Hauptstädte der griechischen Welt bereist hat, ergab sich uns aus der
Betrachtung der erhaltenen Vorträge. Aber dadurch ist ständiger Wohn-
sitz in Prusa keineswegs ausgeschlossen. Ais Plinius im September 111
(oder 110) in Prusa eintraf, war Dio nicht erst vor kurzem dahin zurück-
gekehrt, sondern wohnte bereits wieder so lange dort, dafs er von neuem
die Oberleitung der Bauten hatte übernehmen können und dafs man
nach Beendigung seiner Amtsführung Rechenschaftsablage von ihm er-
wartete. Denn die Klage, die Eumolpus und Archippus bei Plinius
gegen ihn vorbrachten, wird zwar erst im 81. Brief erwähnt, der dem
nächsten Sommer nach Plinius Ankunft angehört, aber es scheint, dafs
die Sache schon bei Gelegenheit des ersten Eintreffens des Plinius in
der Provinz und in Prusa eingeleitet wurde. Da Dio in einem inneren
Säulen hof des Gebäudes, über das er damals Rechenschaft ablegen sollte,
seine Gattin und seinen Sohn beigesetzt hatte, so werden diese schon
verstorben gewesen sein, ehe dieser Teil des Gebäudes errichtet wurde,
sodafs dabei auf den beabsichtigten Begräbnisplatz Rücksicht genommen
werden konnte. Also mufs ihn schon vorher Krankheit und Tod seiner
nächsten Angehörigen nach Prusa zurückgerufen haben. Seine dauernde
Abwesenheit von Prusa hatte also wahrscheinlich nur wenige Jahre ge-
währt. Die Verhältnisse in Prusa hatten sich inzwischen nicht wesent-
lich gebessert. Die Unordnung des städtischen Finanzwesens dauerte
noch immer fort und auch die Bauangelegenheit war noch nicht zum
endgültigen Abschlufs gelangt. So lange der Sohn lebte, mochte Dio
ihm die politische Hauptrolle überlassen, während er selbst häuGge
Kunstreisen unternahm und seiner Thätigkeit als Reiseprediger den besten
Teil seiner Kräfte widmete. Als der Sohn gestorben war und sein vor-
gerücktes Alter ihm das Reisen immer mehr erschwerte, mag er sich
in Prusa zur Ruhe gesetzt haben und nun wieder in die städtischen
Angelegenheiten verflochten und zur Obernahme von Gemeindeämtern
bewogen worden sein. Ein braves Pferd stirbt in den Sielen. Es pafst
vinzen eingelroffen. Entspricht dagegen das erste Jahr des Plinius dem zweiten
Macers, so ergiebl sich der Fall, den wir schon ad 2 als möglich gelten liefsen.
Es sind also nur zwei Möglichkeiten: Plinius kann im September 1 10 oder 111 nach
Bithynien gekommen sein. Fär eine dieser beiden Möglichkeiten mit Sicherheit zu
entscheiden, haben wir keinen Anhaltspunkt. Eine erhebliche Bedeutung für unsern
Zweck würde auch diese Entscheidung nicht haben.
508 FflnAes Kapitel.
ganz zu dem Bilde, das wir von Dio gewonnen haben, dafs er seine
Thätigkeit als philosophischer Prediger eines Tages aufgeben und über-
leben konnte, dem städtischen Dienst hingegen noch als Greis bis zum
letzten Atemzuge seine Kräfte widmete. On revient toujours ä ses pre-
miers amours.
Als Plinius am 17. September 111 (oder 110) in Prusa eintraf, wid-
mete er sich sogleich mit grofsem Eifer der Revision der städtischen
Finanzen. Was er Über das Ergebnis seiner Arbeit im 17. Briefe dem
Kaiser berichtet, zeigt uns das wohlbekannte Bild der früheren Zustände,
die in Dios bithynischen Reden behandelt werden und von mir im
vorigen Kapitel dargestellt sind. Plinius hält eine diolxriGigy wie sie
uns früher in der 45. Rede begegnet ist. Er revidirt den Etat der
Gemeinde Prusa (rei publicae Prusensium impendia redüus debitores ex-
cutio) und überzeugt sich dabei, dafs dies schon längst dringend nütig
gewesen wäre. Er findet in dem Etat für durchaus ungesetzliche Zwecke
Summen ausgeworfen (quaedam pecuniae minime legitimis stimplibus
erogantur). Die weitere Klage, dafs Privatleute aus verschiedenen Grün-
den Gemeindegelder der Stadt vorenthalten {muliae pecuniae variis ex
causis a privatis detinentur) erinnert an Stellen der bithynischen Reden
wie or. 47 § 19 oder 48 § 3 et rig aga twv dr^^ioaiwv %x€i ti.
Wenn dann Plinius den Kaiser bittet, ihm ans Rom einen Mefs-
künsller zu scbicken, der durch genaues Nachmessen der errichteten
Raulichkeiten die Rückforderung bedeutender Summen von den städti-
schen Baucommissaren (curatores opennn) ermOglicben würde, so ist
klar, dafs sich die Revision des Plinius gleich anfangs auch auf die
Baurechnungen erstreckte, die gewifs unter allen Ausgaben der Gemeinde
die grüfsten Summen verschlangen. Dadurch wird es auch wahrschein-
lich^ dafs die im 81. Brief erwähnte Klage des Archippus und Eumol-
pus, die sich auf Dios Rechenschaflsablegung wegen seiner baucommis-
sarischen Thätigkeit bezog, eben bei dieser Gelegenheit und nicht etwa
bei einer späteren Anwesenheit in Prusa dem Plinius vorgelegt wurde.
Es mufs übrigens betont werden , dafs Plinius den Zustand der
Finanzen in Prusa zwar sehr ungeordnet und gründlicher Revision be-
dürftig, aber nicht verzweifelt fand. Durch Eintreiben der rückständigen
Gelder von den Staatsschuldnern und durch Streichung unnötiger Aus-
gabeposten, wie namentlich der übermäfsigen Summen^ die jährlich für
Verteilung von Öl an die ärmeren Bürger in Rechnung gestellt wurde,
gelang es ihm ein so günstiges Ergebnis zu erzielen, dafs er es mit seinem
Gewissen vereinbar fand, die Erlaubnis des Kaisers zum Bau eines neuen
Dios letzte Lebensperiode. 509
Badhauses in Prusa zu erwirken. In dem auf diese Angelegenheit be-
züglichen Schreiben (ep. 23) hebt er hervor, dafs das alte Badhaus den
Anforderungen der Gegenwart nicht mehr genüge, dafs ein Umbau sich
nicht verlohne und daher ein Neubau, seiner Ansicht nach, unvermeid-
lich sei. Weiter zeigt er, dafs durch die soeben von ihm vorgenom-
mene dioUrjOiQ die finanzielle Möglichkeit des Unternehmens geschaffen
sei. Der Kaiser giebt dem Antrage des Statthalters seine Zustimmung,
wofern kein Zuschufs aus Reichsmitteln notwendig werde und durch
den Bau nicht andere nötigere Ausgaben des prusanischen Gemeinde-
haushaltes zu kurz kämen. Der 70. Brief, mit der zugehörigen Antwort
des Kaisers, bezieht sich auf die Auswahl des Bauplatzes für das Bad-
haus. Ich brauche darauf hier nicht einzugehen. Denn die ganze An-
gelegenheit interessirt uus nur als Symptom der prusanischen Zustände.
Wenn ein ängstlich gewissenhafter Beamter wie Plinius ein neues Bau-
unternebmen befürwortete und für finanziell unbedenklich hielt, so
können wir schliefsen, dafs die früheren Bauten nicht mehr auf dem
Staatshaushalt lasteten, sondern endlich fertig geworden waren.
Der greise Dio war es, der den Bau, zu dem er einst nach seiner
Rückkehr aus der Verbannung die erste Anregung gegeben, jetzt, zwölf
Jahre später, zu Ende geführt hatte. Aber die Freude, seine alten Pläne,
die mit so vielen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt hatten und deren
Durchführung ihm soviel Verdrufs gebracht hatte, nun endlich verwirk-
licht zu sehen, sollte er noch nicht ungetrübt geniefsen dürfen. Seine
alten Feinde, deren Namen wir bei dieser Gelegenheit erfahren, Flavius
Archippus und Claudius Eumolpus, benutzten die Gelegenheit zu einem
tückischen Angriff auf sein Leben und seine Ehre.
Ober die Persönlichkeit des Archippus hat uns ein glücklicher Zu-
fall in dem Briefwechsel des Plinius mit Trajan weitere Nachrichten
erhalten, die was wir aus seinem Handel mit Dio lernen, in willkommener
Weise ergänzen : den 58. Brief mit seinen Beilagen und den 59. Brief
nebst der zugehörigen Antwort Trajans. Ein zwingender Beweis, dafs
Archippus der Feind Dios ist, gegen den er die 43. Rede gehalten hat
(siehe voriges Kapitel S. 368 f.), kann freilich nicht erbracht werden.
Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr grofs. Wir haben aus der Er-
klärung der 43. Rede entnommen, dafs Dios Gegner ein Mann von nicht
fleckenloser Vergangenheit war. Auf ihn mufsten wir beziehen, was
§ 5 von dem Gegner des Epameinondas gesagt wird: twv aneyvwo^i'
Vü)v Tig xai axlfjttDv Y,ai oxe eöoukevev ^ Tiokig xal izvQavvelTo
TCQvta xar avzrjg 7C€7toirjxojg. Es ist ein Mann, gegen dessen Ver-
510 Fanftes Kapitel.
leumdungen sich zu verteidigen üio unter seiner Würde findet, den
er mit Verachtung straft und höchstens mit einem derben Fluch ab-
fertigt, der aber trotz seiner befleckten Vergangenheit sich ein gewisses
Ansehen beim Volke zu bewahren gewufst hat. Besonders wird ihm
der Vorwurf des Delatorentums gemacht. Er sucht die Menge zu be-
stechen, damit keiner ihm seine früheren Schandthaten vorrückt, sondern
der Schleier der Vergessenheit über sie gebreitet wird. Es mag ja
mehrere solche Leute unter Dios Feinden in Prusa gegeben haben. Aber
auffallend ist es doch, wie genau das Bild des Gegners aus der 43. Rede
zu dem des Flavius Archippus in den Pliniusbriefen stimmt Auch er
ist ein Delator und Sykophant, wie sein niederträchtiger Versuc^i, Dio
in einen Majestätsprocefs zu verwickeln, beweist. Auch er hat eine
befleckte Vergangenheit und hat es doch verstanden, sich eine äufser-
lich angesehene Stellung wieder zu gewinnen. Unter Domitian war er
von dem Proconsul Velius Paullus wegen einer Fälschung oder Betrügerei
(crimine fahi) zur Arbeit in den Bergwerken verurteilt worden. Es war
ihm aber gelungen, seine Ketten zu durchfeilen und sich durch Flucht
der Abbüfsung seiner Strafe zu entziehen. Um seine bürgerliche Ehre
wieder zu erlangen, hatte er, wie es scheint, den Weg der Schmeichelei
beschritten. In einer Eingabe an Kaiser Domitianus hatte er nicht etwa
eine Beschwerde wegen ungerechter Verurteilung vorgebracht, denn dann
hatte sich ja Domitian nicht in Unkenntnis über die Thatsache der Ver-
urteilung befinden können, wie Trajan für möglich hält*); er hatte über-
haupt keinen Versuch gemacht, Wiederaufnahme des gerichtlichen Ver-
fahrens gegen sich zu veranlassen, sondern durch Überreichung einer
Denkschrift (libellus)^ die gewifs von Schmeicheleien strotzte, den Kaiser
so für sich einzunehmen gewufst, dafs er ihm ein Landgut in der Nähe
von Prusa kaufte, das für den Unterhalt seiner Familie ausreichte, und
ihn dem Proconsul L. Appius Maximus, als einen wackeren Philosophen,
dessen Charakter seinem Beruf entspreche, in den schmeichelhaftesten
Ausdrücken zu besonderer Fürsorge empfahl. Dieses kaiserliche Schreiben
und die dadurch bewirkte Protection des Statthalters hatten dem Archip-
pus seine bürgerliche Ehre wieder geschenkt In den Augen der Menge
war dadurch der Schimpf seiner Verurteilung ausgelöscht und wenn
auch die anständigen Leute sich von ihm fernhielten, so war es ihm
doch wieder möglich geworden, als Demagog und Sykophant auf seine
1 ) ep. 60 potuil quidem ignoraste Domitianus in quo statu esset Archippus,
cum tarn mulla ad honorem eius pertinenlia scriberet etc.
Dios letzte Lebeosperiode. 511
Weise io Prusa eine Rolle zu spielen. Die Ehrendecrele und Statuen,
die ihm im Lauf der Zeit von der Bürgerschaft zuerkannt wurden,
könnten eher zu seinem Gunsten sprechen. Denn, wie Trajan hervor-
bebt, in Prusa kannte man ja die Vergangenheit des Archippus. Aber
wer die Praxis der damaligen Griechengemeinden in der Verleihung
solcher Ehrungen kennt, wird auch hierauf kein grofses Gewicht legen.
Auch ein notorischer Schurke konnte solche Orden bekommen, wenn
man ihn gerade brauchte und seine Dienste nur für diesen Preis käuf-
lich waren.
Das Eintreffen eines neuen Statthalters in der Provinz bildete immer
eine günstige Gelegenheit, um von altersher schwebenden Streithändeln
den Ausschlag zu geben. In dem neuen Statthalter hoffte mancher,
ein Werkzeug seiner persönlichen Rachepläne zu finden; er sollte seinen
mit dem Richtschwert bewehrten Arm herleihen, um ihre Feinde zu ver-
nichten. So wurde ungefähr gleichzeitig von den Feinden des Archippus
gegen diesen und von Archippus gegen Dio ein Vorstofs unternommen.
Die Anklage gegen Archippus scheint später anhängig gemacht
worden zu sein. Der 58. und 59. Brief, die sich auf Archippus be-
ziehen, gehören bereits dem neuen Jahre, dem Frühling 112 (oder 111)
an. Denn im 52. Brief wird auf den Ende Januar belegenen Tag des
Regierungsantritts Trajans Bezug genommen. Plinius scheint sich da-
mals in Nikomedeia oder in Nikaia aufgehalten zu haben. Zunächst
werden die alten Sünden des Archippus wieder hervorgesucht, als er,
zum Richter beim Provincialgericht (conventus) berufen, auf Grund seines
Philosophenprivilegs um Befreiung von dieser Verpflichtung ersucht. Bei
dieser Gelegenheit traten Leute auf, die darauf hinwiesen, dafs er nicht
nur für jetzt von der richterlichen Function entbunden, sondern über-
haupt aus der Geschworenen liste gestrichen und der rechtskräftig über
ihn verhängten Strafe der Zwangsarbeit überliefert werden müfste, der
er sich durch die Flucht entzogen habe. Archippus konnte weder die
Thatsache der Verurteilung bestreiten, noch eine spätere Aufhebung
derselben nachweisen. Doch führte er als Beweis für die erfolgte Her-
stellung seiner bürgerlichen Ehre die vorher erwähnten Briefe Domitians
und ein Ehrendecrct der Gemeinde Prusa an und wies nach, dafs die
Briefe Domitians auch jetzt noch Rechtskraft hätten, da Nerva und Trajan
ausdrücklich die Aufrechterhaltung der durch Briefe Domitians erteilten
Beneficien verfügt hätten. Plinius berichtete über die Angelegenheit,
unter Beilegung der von beiden Parteien beigebrachten Documente, an
den Kaiser, in der handschriftlichen Oberheferung der Pliniusbriefe
512 Fünftes Kapitel.
sind aber nur die von Archippus vorgelegten Urkunden erhalten. Ehe
Plinius auf dieses Schreiben vom Kaiser Antwort erhielt, trat die An-
gelegenheit in ein neues Stadium. Von einer Frau, Furia Prima, wurde
eine neue Anklage gegen Archippus, über deren Inhalt wir nicht unter-
richtet sind, bei Plinius eingereicht. Da nunmehr Archippus dem Plinius
eine Verteidigungsschrift übergab und ihn in dringlichster Form beschwor,
sie dem Kaiser zu schicken, liefs sich Plinius auch von der Anklägerin
Furia Prima eine schriftliche Darstellung der Anklagepunkte geben und
schrieb einen zweiten Brief an den Kaiser (ep. 59), dem er beide
Schriftstücke beilegte, damit der Kaiser die Sache entscheiden könnte.
Die Antwort Trajans (ep. 60) bezieht sich auf beide Briefe des Statt-
halters. Hinsichtlich der früheren Verurteilung des Archippus entscheidet
er, dafs dieser, wenn auch vielleicht Domitian sich in Unkenntnis über
seine Antecedentien befunden habe, durch die Briefe dieses Herrsebers
als restituirt und in den Vollbesitz seiner bürgerlichen Ehre eingesetzt
zu betrachten sei. Dies sei aber natürlich kein Grund, neue Klagen,
die gegen ihn eingereicht würden, zurückzuweisen. Dieser etwas iro-
nisch gefärbte Zusatz enthält die Antwort auf das zweite Schreiben des
Plinius. Dieser hatte nicht gewagt, gegen Archippus, der sich auf einen
Brief Trajans selbst berufen konnte, und in dem er einen persönlichen
' Schützling Trajans vermuten mochte, das gerichtliche Verfahren zu er-
üfTnen und hatte vorgezogen, die Entscheidung dem Kaiser selbst zu
überlassen. Trajan schiebt die Entscheidung auf den Statthalter zurück
und weist ihn an, nach Hecht und Gesetz zu verfahren. Über den
weiteren Verlauf des Processes ist nichts bekannt.
Die Klage gegen Dio wurde dem Plinius, wie es scheint, gleich
bei seiner ersten Anwesenheit in Prusa eingereicht. Wir wissen, dafs
er sich, gleich nach seinem EintreiTen in der Provinz, längere Zeit in
Prusa aufgehalten hat. Denn die Bevision des Gemeindeetats und die
lüintreibung der rückständigen Gelder von den Staatsschuldnern erfor-
derte gewifs einen erhebhchen Zeitaufwand. Wenn nun der 81. Brief
die Erzählung über die Anklage gegen Dio mit den Worten einführt:
Cum Prusae ad Olympum, domine, pnblicis fiegotiis intra hospümm eodeni
die exihnns vacarem, so scheinen die Worte codem die exiturus zu be-
weisen, dafs es sich nicht um jene erste längere Anwesenheit des Plinius
in Prusa, sondern um einen späteren, ganz kurzen Aufenthalt daselbst
handelt. Aber der Wortlaut schliefst auch die Annahme nicht aus, dafs
eben am letzten Tage jenes ersten längeren Aufenthalts die Sache vor-
gebracht wurde. Für die letztere Annahme spricht, wie schon bemerkt.
Dios letzte Lebensperiode. 513
dafs sich Plinius gerade damals mit den BauangelegeDheiten von Prusa
eingehend hefafste, und sich dadurch Dios Gegnern die beste Gelegen-
heit bot, etwaige Fehler Dios in seiner Thatigkeit als Baucommissar zur
Sprache zu bringen.
Eine Sitzung des Stadtrats war vorausgegangen, in welcher Dio
Obernahme der unter seiner Leitung fertiggestellten Gebäude durch die
Gemeinde und Erteilung der D^charge beantragt hatte. Wenn in dieser
Sitzung Claudius Eumolpus, um durchzusetzen, dafs Dio vor der Ober-
nahme durch die Gemeinde über seine Amtsführung Rechenschaft ab-
legte, quod aliter fecisset ac debuisset, zu dem Mittel der Appellation an
den Statthalter grilT, so setzt dies voraus, dafs die Majorität der Ver-
sammlung sich für die sofortige Obernahme erklärt hatte. Der städtische
Oberbeamte und TCQOGzdTrjQ rrjg ßovXrjg Asklepiades sah sich durch die
Appellation des Eumolpus genötigt, die Angelegenheit dem Statthalter
vorzulegen. Wie es kam, dafs die Versammlung sofortige Obernahme der
Gebäude ohne vorausgehende Rechenschaftsablegung beschlossen hatte,
können wir nicht erraten. Aus dem Briefe des Kaisers (ep. 82) geht her-
vor, dafs Dio selbst sich zur Rechenschaftsablegung bereit erklärt hatte.
Man gewinnt den Eindruck, dafs der formeile Einspruch des Eumolpus
hinsichtlich der Rechenschaftsablegung nur erfolgte, um dem Archippus
Gelegenheit zu geben, seine Anklage wegen des crimen maiestatis anzu-
bringen. Dio hatte anscheinend keinen Grund, sich der Rechenschafts-
ablegung zu entziehen. Das crimen maiestatis war die Hauptsache. Es
bezog sich auf die schon erwähnte Thatsache, dafs Dio in dem Säulen-
hof des Gebäudes, in dem als Schmuck des Bibliotheksaales neben andern
Statuen auch die Trajans aufgestellt war, seine Gattin und seinen Sohn
bestattet hatte.
Als Asklepiades mit der Appellation des Eumolpus auch die von
Archippus vertretene Anklage wegen Majestätsverbrechen, in offlcieller
Eigenschaft als Vertreter der Gemeinde, zur Kenntnis des Plinius ge-
bracht hatte, war dieser sofort bereit, ehestens eine Gerichtsverhandlung
zu eröffnen und die geplante Abreise von Prusa zu verschieben. Aber
die Kläger baten um Aufschub zur Beschaffung weiteren Beweismaterials.
Plinius willfahrte ihnen und bestimmte, dafs die Verhandlung später in
Nikaia stattfinden sollte. Als dort an dem festgesetzten Tage die Ver-
handlung eröffnet wurde, bat Eumolpus um weiteren Aufschub, da er
mit der Beschafifung des Beweismaterials noch nicht fertig sei, während
Dio zu sofortiger Entscheidung drängte. Die hierüber von den Parteien
geführte Verhandlung erstreckte sich zum Teil auch auf die materiellen
V. A r n i m , Dio. 33
514 Fönftes Kapitel. Dios letzte Lebensperiode.
Streitpunkte. Plinius veiiiielt sich ganz ähnlich, wie in der früher be-
sprochenen Angelegenheit des Archippus. Da er sich scheute, in der
heiklen Angelegenheit eine selbständige Entscheidung zu fallen, willfahrte
er der Bitte des Eumolpus und gab den Parteien auf, ihm über ihre
Rechtsforderungen beiderseits Denkschriften einzureichen, die er dem
Kaiser zu eigener Kenntnisnahme und Entscheidung unterbreiten wollte.
Die Parteien erklärten sich bereit; doch UberUefs Eumolpus dem Archippus
die ausschliefsliche Vertretung des crimen maiestatis und wollte sich
seinerseits darauf beschränken, das Interesse der Gemeinde Prusa be-
züglich der baucommissarischen Thätigkeit und der Rechenschaftsablegung
Dios zu vertreten. Dio reichte denn auch seine Verteidigungsschrift in
kürzester Frist ein. Eumolpus hingegen und Archippus zögerten so
lange mit der Einreichung der versprochenen Anklageschriften, dafs sich
Plinius endlich entschlofs, nicht länger auf sie zu warten, und unter
Beilegung der dionischen Denkschrift selbst an den Kaiser berichtete.
Die Antwort Trajans (ep. 82) ersparte den Feinden Dios weitere Be^
mühungen. In schonender Form, aber mit hinreichender Deutlichkeit
tadelt er den Statthalter, dafs er wegen der Behandlung der Sache über-
haupt Zweifel gehegt habe. Er hätte wissen können, dafs der Kaiser
nicht durch Furcht und Schrecken und Majestätsprocesse die Ehre seines
Namens aufrecht erhalten woUe. Er weist ihn an, die Anklage des
Archippus kurzer Hand abzuweisen. Dagegen sei natürlich von Dio
wegen seiner Thätigkeit als Baucommissar Rechenschaft zu fordern, da
dies im Interesse der Gemeinde Prusa nötig und Dio selbst dazu bereit
sei. So war der heimtückische Angriff des Archippus auf Dios Ehre
und Leben gescheitert.
Die Nachrichten bei Plinius, die ich eben besprochen habe, sind
die letzte Spur von Dios Leben in der Oberlieferung. Sein Todesjahr
kennen wir so wenig wie sein Geburtsjahr. Es ist aber sehr wahr-
scheinlich, dafs er die Statthalterschaft des Plinius nicht lange überlebt
hat. Das genaue Datum der Geburt und des Todes vermissen wir in
diesem Falle kaum, wenn anders es uns gelungen ist, die Epochen
seiner Entwicklung zeitlich zu bestimmen und ihre Spuren in seiner
schriftlichen Hinterlassenschaft nachzuweisen.
Nachtrag.
Eid paar Berichtiguogen, die ich brieflichen Mitteilungen des Herrn
Professor von Wilamowitz verdanke , aber bei der Correctur der
Bogen nicht mehr anbringen konnte, mögen hier Platz finden.
Zu Seite 14. Es ist falsch, dafs man vor der Zeit der sophistischen
Bewegung Gnomen nur in metrischer Form gekannt habe. Prosaische
Gnomen , wie xQW^ ^'^Q (Alcaeus frg. 49) und die sogenannten
Sprüche der sieben Weisen waren längst vorhanden. Auch der Stil des
Herakleitois hat einen spruchartigen Charakter.
Zu Seite 143. 144. von Wilamowitz macht mich darauf auf-
merksam, dafs eine Art des Wettkampfes, wie ich sie im Text voraus-
gesetzt habe, die viele Tage dauert, sodafs dieselben Kämpfer immer
wieder einander gegenüber treten, weder in den uns bekannten Fest-
ordnungen vorkomme, noch überhaupt denkbar sei. Die ganze Schilde-
rung beziehe sich auf die dem eigentlichen Agon voraufgehende Zeit
des yvfiva^€G&ai. Hier in Neapolis habe Melankomas den Jatrokles
noch nicht besiegt In § 4 sei daher zu schreiben ovdiva (av) toxv-
T€QOv Tovzov hUrjoev, In der Frage des sterbenden Melankomas § 10
fcoaai Tivig elev fjfiiQai Xoinai %ov ayuivog umfasse der Ausdruck
ayiiv die ganze Zeit, mit Einschlufs der dem eigentlichen Kampf vor-
aufgehenden Obungstage. Ich fühlte mich verpflichtet, dem Leser diese
Bedenken gegen die von mir gegebene Darstellung nicht vorzuenthalten.
Aber sollte es nicht doch denkbar sein, dafs hier eine von dem son-
stigen Brauch abweichende Singularität vorliegt? Die dionischen Text-
worte, meine ich, müssen dem, der von ihnen ausgeht, die Vorstellung
erwecken, dads Melankomas den Jatrokles schon in Neapel selbst bei
der diesmaligen Augustalienfeier mehrmals besiegt hatte. Die Stelle in
§ 4 und die in § 10 stützen sich gegenseitig und es ist mifslich, beide
aus dem Wege zu räumen, die eine durch Änderung, die andere durch
die Annahme, dafs sich Dio ungenau und unklar ausgedrückt habe. Vor
33*
516 Nachtrag.
allem aber scheint es mir unmöglich, dafs die gegenwartige Erschöpfung
des Jatrokles (^dri fiivroi aTteiQi^xei) von seinen früheren Niederlagen
an anderen Spielstatten herrühren soll. Wenn also dieser Punkt zweifel-
haft bleibt, so kann doch kein Zweifel bestehen, dafs die Worte tov
jekevralov tovtov aywva — ovdiva %axv%BQOv %ov%ov hlxriaev
wegen %ov%ov (vgL gleich darauf %ov%ov %bv a%iq>avov) nicht auf früher
an anderm Orte stattgehabte Kampfspiele, sondern nur auf die gegen-
wartigen bezogen werden können, wie auch von Wilamowitz bei seiner
Conjectur ovdiva {av) voraussetzt. Wenn aber dies feststeht, so wird
der im Text versuchte Nachweis, dafs Melankomas in NeapoHs starb und
dort die Scenerie des Gesprächs zu denken ist, durch die vorgetragenen
Bedenken gegen meine Interpretation nicht berührt
Sachregister.
A.
Aischines der Sohn des Atrometos 129.
Ai sc hin es, Akademiker 89.
Aischines der Sokratiker 2t.
Akademie, ihre geschichtliche Entwick-
lung 84.
Akra tos, Agent Neros 216.
Alexandreia: Pflege der empirischen
Wissenschaften 84. — römische Wache
im Theater 438. — Pöbelaafstand 437.
Alexandros, 6 üriXonXdrtov 177.
Alexinos von Elis, ne^l Aya9yfjQ2% —
Schale in Olympia 23. 24.
Alkidamas: Stegreifreden 14.
Alkimos der Rhetor 24.
Arnos, Ortschaft der rhodischen Peraia 217.
Anaximenes von Lampsakos 39. 40.
Andronikos von Rhodos 112.
Androsthenes von Aigina 38.
Annikeris der Kyrenaiker 28. 29.
Antagoras 24.
Antigonos von Karystos 24.
Antiocheiaam Orontes : Sialenhalle der
Haoptstrafse 351.
Antiochos Ton Aigai 180.
Antiochos von Askalon 112.
Anti patres der Kyrenaiker 28.
Antipatros, Rhetor 131.
Antiphon der Sophist 14. »- nt^l öfto-
voias 14.
Antisthenes der Sokratiker 32f. 78.
— Verhältnis zu Sokrates and zar So-
phistik 32. — na^i liietus fj ne^l %ar
pax'nffcav 36. — Streitschriften gegen
Isokrates 36. — grofser Herakles 265.
— Archelaos nicht Quelle bei Dio or. 13
258 f. — nQOTQenrmoi 259. — dfrn}
and ^övriois 33. — Verhältnis seiner
Politik zar platonischen 34. — Logik
34 f. — Sprachphilosophie 35. — Ho-
merstadien 35. 167. — Rhetorik 36.
Antisthenes. ip 8ia8o%(as Qber den
Tod des Diogenes 38.
Apameia(Myrleia)inBithynienll6.358f.
Apollodoreer and Theodoreer 131.
Apollonios 6 E^övos 24. — von Tyana
142. 225. 277.
L. Appias Maximas, proconsal Bithy-
niae 510.
Aratos 24.
Archilochos 237.
Arete, Tochter des Sokratikers Aristip-
pos 29.
A r e t h a s , Biographie Dios 22.
Aristeides der Rhetor 180. — ^nk^
rßv Tsrrd^afv 442.
Aristippos vonKyrene25f. — als Lehrer
der TtaiSeia 26. — Honorarforderangen
25. — Schriftenverzeichnisse bei Diog.
La6rt. 30 f. — JiaxQißai 30. — Rhe-
torik 27. — Erkenntnistheorie 28.
Aristippos der jüngere 29.
Aristo kies von Pergamon 180.
Ariston von Ghios 31. 85.
Ariston von Keos 31. 83. — schreibt
TiQÖs Tots ^ro^as 88.
Aristophanes: Wolken v.967 257.
Aristoteles: Syllogismus und Inductioo
59. -> Begriff und Aufgabe der Dialek-
tik 69 f. — Topik 81. — sein Verhält-
i
518
Sachregister.
A
nis zur Rhetorik 68 f. — aofia und
y)tXoaoyia 69. — ^Ttoxeifteva npd/-
ftara 53. — aroixeta to€ avfi^iQov-
TOS 53.
Arkesilaos tod Pitane 84. — seine
Lehrmethode 85 f.
Arrianas Epictetea 175.
Asianismus 128f.
Asien, röro. Provinz: Hanptstatte der
sophistischen Rhetorik 127.
Asklepiades Ton Kios, der Arzt 116.
Asklepiades von Myrlea 116.
A s k 1 e p i a d e s , Oberbeamter in Prosa 51 3.
Asklepiades der Phliasier 24.
Athen: von Dio mit Rhodos verglichen
220 f. — als philosophische Universität
80 f.
Athenaios, Rhetor des 2. Jahrb. v. Chr. 96.
Atticismos 128f.
B.
Bion der Borysthenit 29. 30. 42.
Bitbynien in der Kaiserzeit 116 ff. —
Stadtverfassong 116. — Bithyniarch 120.
%otpdv TijQ Bi&vt'iae 117, »- innere
Wirreu unter Domitian und Trajan 121.
revolutionäre Tendenzen des Proleta-
riato 372. 374. — Verbot der Hetärieen
374. — Bedrückung durch den Pro-
consol Julius Bassus 372 f.
C.
Galpurnius Macer, Statthalter von
Niedermösien 506.
Ca e eil ins Ton Kaiakte 131.
Gharmadas, Akademiker 89. 90.
Ghrysippos 87. — Ober Rhetorik 79.
— Tis^i Xöyov x^ifaeofe 82.
Cicero verherrlicht das sophistische Bil-
dungsideal 98. — über die Schädlich-
keil des Specialistentums in der Wissen-
schaft 100. — de oratore libri III 91 ff.
— Verbesserung der Stelle de orat. III
§110 109.
Claudius, Kaiser 123.
Claudius Polyaenus, bithynischer
Gesandter 381.
D.
Dacier (Geten) 303. 378.
Demokritos, ethische Schriften 14.
Di a t r i b e n des Bion 30, des Aristippos 30.
Dictys Gretensis 167.
Dio von Prusa: Gocceianus 125. —
Familienverhältnisse 122 ff. — Vennö-
gensverhältnisse 125f. — Bildungsgang
126f. — Studium der Klassiker 131. —
städtischer Patriotismus 321. — Be-
ziehungen zu Apameia 360. — sophi-
stische Kunstreisen 152. — als Sophist
in Rom 142. — Beziehungen zum fla-
vischen Kaiserhaus 142. — als Sophist
im Gemeindeleben von Prusa 205. —
seine Verbannung Kap. 3, nicht mit der
Philosophenverlreibung zusammenhiD-
gend 227. — Verbannung: rechtlicher
Charakter 231 f. — - Exil: unstätes Leben,
Verrichtung niederer Arbeiten 247 f. —
Lehrmethode während des Exils 249 f.
— Reise nach Sky thien und Dacien 301 f.
— Restitution und Rückkehr nach Prusa
312f. — Bekanntschaft mit Nervs 148.
— Familien- und Vermögensverhältnisse
nach der Restitution 318 f. — seine
Gegner 208. — Gesandtschaft nach Rom
unter Nerva geplant 317, ausgeführt
unter Trajan 325. — Anfeindungen aus
der Bürgerschaft Prusas 323. — Ver-
halten nach der römischen Gesandt-
schaftsreise 334 f. — Verhalten in der
Bauangelegenheit 340 f. 348. — Ver-
halten in dem Streit zwischen Prusa
und Apameia 361 f. — sein Sohn 206.
— sein Sohn yvfivaalaqios 386, be-
kleidet eine praefeetura morum ebda,
das städtische Oberamt 387. — sein
Sohn stirbt vor ihm 507. — seine Gattin
stirbt 507. — Verhältnis zu Trajan 324.
329. 385. 395 f. — wohnt um 110 seit
längerer Zeil in Prusa 507. — als Greis
wieder städtischer Bancommissar 507.
— von seinen Feinden in einen Maje-
stätsprocefs verwickelt 513. — anfäng-
liches Verhältnis zur Philosophie 137.
— Bekämpfung der Philosophen 149,
Sachregister.
519
des Masooios ebda. — Verhältnis zur
Philosophie in den ersten Exilsjahren
242 f. — Reden und Schriften gegen
Donitian 249. — Charakter seiner Dia-
loge 281. 284 f. 298 f. — protrep tische
und therapeutische SiaXiieiS 272. —
Zeit der Stadtereden 463. — hellenisches
Nationalgefahl in der Rhodiaca 219. —
politische Ansicht in der sophistischen
Periode 147 f. — betrachtet ä(f%euf Av
d'(ftbn(ov als seinen Beruf 396. — spricht
im Sinne der römischen Regierung 437.
— Ähnlichkeit mit den Auslaufern der
kynischen Schule 42. — Abstufungen
seines Kynismus 254 f. — als Friedens-
prediger 364f. — ReligiosiUt 477. —
religiöse Grundlagen seiner Politik und
Ethik 481 f. — Verteidigung des Bilder-
dienstes 478. — Monotheismus und
Polytheismus 478 f. — der Kosmos als
ndXis 483, als Iqov 484. — Umwäl-
zungen des Weltzustandes als Vorbild
der politischen 4871 — SuMMdofitjots
und ix7ri6^(o0s£ 4841 — der Humanitats-
gedanke 491. — Fortschritt von der
IndiTidualethik zur Socialethik 365. —
Definition der nölte 483. — Begriff der
Arbeit 503. — möchte die stadtischen
Proletarier zu Bauern machen 500. 502.
— Beurteilung der Stadtpolitiker seiner
Zeit 505. — Abhängigkeit der öffent-
lichen Ton der privaten Sittlichkeit 504.
— die Prooeroien seiner Stadtereden
443 f. — Verwendung der Mythen 299 f.
— gemeinsame Motive der 12., 32., 7.,
33., 35. Rede 447 f. — Meldung des
Hiats 213. — epideiküscher Stil 252.
— stilistische EigentQmlichkeit des Eu-
boicus 458 f. — nXaräa&ai äp rote
Xöyote 439 f. — als Stegreifredner 173.
181. 471 f. — Einzelgespräch in Gegen-
wart einer Corona 288 f. — fortlaufen-
des Diatribenmanuscript 287 f. — wieder-
holter Vortrag derselben Rede 1701 —
Dubletten in seinen Reden 1701 —
Thätigkeit des Herausgebers der Samm-
lung 270. — or. 1 3251 330. 487; or.2
283.4071; or. 3 399. 4141; or.4 283.
399.412; or.5 4121; or.6 2601; or.7
442. 4551 4721 4921; or.8 2641283.
or.9 264. 283; or.lO 266. 283; or.ll
166ff. 181ff.; or.l2 4051 4381 473;
or.l2 §16 ff. 304; or. 13 2281 2561
274. 331. 334; or.l4 268. 279; or.l5
282; or.l6 268. 278. 299; or. 17 268.
27«; or.l8 132ff.; or.l9 233; or. 20
267; or.21 291; or.22 94 (die Zahl 72
im Text ist die nach der Reihenfolge
der Reden in meiner Ausgabe); or.23
284. 291; or.24 268. 273. 299; or.25
290.291; or.26 284; or.27 268. 2741;
or.28 143. 1461; or. 29 143. 1461;
or.30 146.283; or.31 210ff.; or.32
435 1 438 f. 469 ; or. 33 438 f. 442. 465 1 ;
or.34 4601 475. 491 ; or.35 3381 443.
4641; or.36§l 302, or. 36 Einleitungs-
gespräch 3061, or.36 4821; or.38 364.
367.462; or.39 364.367.373.382.434;
or.40 3441 352. 358. 364. 487; or.41
358. 364.434; or.42 173: or.43 3681
382; or.44 212. 314f. 346; or.45 335.
342.383; or.46 204f; or.47 (Kaiser^
brief)316, or.47 339.346.86813821;
or.48 357. 3761 382; or.49 384. 388;
or.50 371. 384. 388; or.51 386; or.52
1601; or.53 163; or.55 290; or.56 285.
2941; or.57 410; or.58 165; or.59 164;
or.60 2991; or. 61 168. 284. 2991;
or.62 416; or.63 158; or.64 159; or.65
268. 299; or.66 156. 212. 267. 276;
or.67 290; or.68 267. 272. 299; or.69
267.272.299; or.70 290; or.71 268.273.
299; or.72 268. 276. 462; or.74 289.
290; or. 75 1551 285; or. 76 1551;
or.77,78 254. 288. 299; or.80 268. 27«.
— rsrsMd 303. 398. •— iyntbfnov
*HQaxXiovs xal nXdrtuifoe 155. — miA-
V1U710Q iTfawoe, KÖfifjs iyxt&fnav 154,
^piTTaLKoC iTtaivos 155. — Teanßv bt-
ipQoOiSj Mi/ipcov 154. — ^nhQ 'O^ifpov
TiQds mdrafva 152. — Rede an die
mösischen Legionen 3091
Diodoros, Gegner Dios in Prusa 371.
Diogenes der Babylonier 79. 88. 91.
620
Sachregister.
Diogenes tod Sinope 37. 168. — Ho-
merstodien 40. — Rhetorilc 40. —
Ghrien 38.
Diooysios von Halilcarnatis 131.
Dionysios d. jüngere von Syralcos 21.
Dionysios Slcytobrachion 167.
D 0 m i t i a n Q s , Kaiser 207. 230. 232. 236 f.
277. 280. 310. 510.
Eleaten 4, jflngere 5, Ontotogie und
eristisclie Methode 6.
Elisch-eretrische Schule 23.
Empedolcles 4. — Erfindung der Rhe-
torilc 5.
Epikuros27. — Verliältnis zu Naosi-
phanes 43 f. — Filialen der Schale in
Lampsakos und Mitylene 80. — Ver-
urteilung der Rhetorik und der ^a&t}-
fiaxa 73. 77.
Epitimides der Kyrenaiker 28.
Ethisch-politische Wissenschaft 9.
— Begründung durch Sokrates 16.
Euandros 87.
Eubulides von Milet 23. 24.
Euhemeros Vifffii dvay^ayftj 167.
Eu kl ei des von Megara 21. — keine
Ideenlehre 22. — Verhältnis zu Sokrates
und Parmenides 22.
Eumolpus 507. 508. 509. 513.
Euphantos von Olynth 24.
Euphrates von Tyros 142. 2$b.
Euripides: Hercules v. 157— 164 165.
— PhUoktet 163. 164
F.
Flavia Domitilla 230.
Fla vius Archippus, Philosoph, Gegner
Dios 324. 349. 371. 507. 508. 509.511.
Flavius Clemens 230.
Flavius Sabinus 230f.
Fonteius Magnus, bithynischer Ge-
sandter 38t.
G.
Galen OS: Vortrag gegen Martialios 176.
Geten siehe Dacier.
Gorgias 9. — Verhältnis zu Empedokles 9.
-- Wanderleben 14 f. -- poetischer Aus-
druck 12. — gorgianische Figuren 12.
— rix*^ ffjro^iMi} 1 1. — synbu leutische
Reden 12. — nalyvwL 12. — A^oioi
lino&iaets 12.
Grammatik: ihre Loslösung von der
Sophistik 73.
Griechenstädte der Kaiserzeit:
sociale Verhältnisse 120. — municipale
Ämter und Ehren 119. — allgemein
hellenischer Patriotismus 117. — stadti-
scher Localpatriotismus 117. 321.
H.
Hege Sias der Kyrenaiker 28. 29.
H e g e s i a s von Sinope 6 KXoids in/xXtfv
39.
Hegesinos 87.
Helvidius Priscus 149.
Herakleides der Pontiker 80.
Hermagoras von Temnos 79. 88. 920*.
Hermag o ras, Sohn des Phainippos,
rhodischer Prytan 217.
Hermarchos: Brief an Theopheides 76.
Herodes Atticus 142. 160. 177 f.
Hipparchos von Nikaia, der Astronom
116.
Hippodromos der Sophist 180.
I.
insularum provincia 215.
I sokrates 168. — Gebrauch der Aas-
drücke ^tXoaofla und <pdoao^iliv 67.
— Honorarforderung 25. — Polemik
gegen die Sixd^ea&ai. diSdaxovree 8.
— NixoxXfje 13. — das Ideal der änpi-
ßsia 14.
Julia, Tochter des Titus 230 f.
Julius Bassus, proconsulBithyniae233.
— Zeit seiner bithynischen Statthalter-
schaft 375. — RepetundenproceCs 367 f.
379 f.
K.
Kaiser, römische: Philhellenismus 119.
Karneades 88. — Wahrscheinlichkeits-
lehre 93. — Schüler aus Bithynien 116.
Sachregister.
521
Kleitarchos, Schüler des jüngeren
Aristippos 29.
Kleitomachos, Akademiker S9. 90.
Kieanthes von Assos 87. — Einteilung
der Philosophie 77.
Kleoroenes: ir rtp iTity^a^ofiii'tp nai-
Sayoiyix^ 38.
Konen, Rhetor 131.
Krantor der Akademiker 84.
Krates der Akademiker 84.
Krates der Kyniker 24. 37. 40 f.
Kritolaos von Phaseiis 88. 00.
Kyniker 32 f. — volkspädagogische
Thätigkeit 41. — Homerstiidien 167 f.
— satirische Schriftstellerei 42. — der
Kaiserzeit 137.
Kyrenaische Schule 25 f.
Kyzikos 233.
L.
Lakydes 87.
Lukianos 237. — TZfpi rijs arrotf^dSoe
178.
Lykon der Peripatetiker 83.
Lykophron 24.
Lysias: Rede gegen Aischines 21. —
naiyvta 12.
Marti alios: Erasistrateer 176.
Megariker: Erislik 22. — formale Bil-
dung 22 f.
Melankomas 142 f.
Meieagros: iv r^ ß' Tte^i So^div 27.
Melissos 5.
Menandros: 6 iTiixa).ovutroe J^xuös
39. 168.
Menedemos 23. 24. 20.
Menippos von Gadara 37. — Satiren
und Tta/yna 42.
Metrodoros: Ansicht über die Rhetorik
76. — Tt^ds Toi'S dTid (fvoioXoy^ae kiyov-
TCLS dya&oie ilvai ^tJTOpas 45.
Metrodoros, Rhetor, Schüler des Kar-
oeades 89. 103.
Metro kl es der Kyniker 37. 40 f.
Mnesarchos, Stoiker 91.
Moni mos der Kyniker 37. 40 f.
M II c i a n u s 1 40.
Munatios von Tralles 160.
Musonins Rufus 149f. 216f. — oxo-
/«/ 174. 176.
Naturphilosophen, ionische 4, ost-
griechische 4.
Nausiphanes der Demokriteer 43 T.
Neapolis: Agon der Augustalien 144.
Nero, Kaiser 123. 218. 277. 293. 435.
— Falsche Neronen 294 f.
Nerva, Kaiser 232. 3IOf. 315.322.324-
— Brief an Dio 345.
Nikaia in ßlthynien 116. — Bürger-
zwist 373.
Nikomedeia in Bithynicn 116.
0.
Onesikritos von Aigina 38. 39.
P.
Pädagogik: materiale Bildungsmillel 8.
— formale Bildung 8. — des 3.Jahrh.
v. Chr. 80. — Erziehungssystem der
römischen Kaiserzeit 112. 134.
Pamphilos der Platoniker 74.
Panaitios: über die Ächtheit der sokra-
tischen Dialoge 31. — Schüler aus ßl-
thynien 116.
Paraibates der Kyrenaiker 28. 29.
Parthenios von Nikaia 116.
Pasi krates, Vater des Dio von Prusa
123 f.
Peraia, rhodische 21 7 f.
Peripatos: Entwicklung der Schule seit
Lykon 83. — - Entwicklung der Schule
seit Andronikos 112. — rhetorischer
Unterricht 82.
Phanias: über Aristippos 25.
Philagros der Sophist 177 f.
Philip pos der Megariker 23. 24.
Philiskos von Aigina 38. 39.
Philodemos von Gadara : ntpi frjroQtxffQ
45 f. 74. 89. 112.
522 Sachr
Philon von Latisi 97 f. lU4ff.
PhiloBopbcDschuJr: ils Etzieliung«-
aDSI*ll 20. — als Rkalin der Rhetor-
»ehule 20. ~- ihr Kampf gegen die
Rhetorik im 2. iahrh. v, Chr. 89ff.
Philosophie: Spielarten in der Kaiser-
»eit 137. 13S. 445r.
Philoslralos: viiae sopliislsriim 177.
— Leiirn Dies 224ir. — Apo(i.>tiius-
Toman 142.
Pholiion 40.
Piiormion, Peripaleliker 87.
PtaloD 464. — Bfguffder f,loao<ita 64.
— SpraebgebraDch 60. — Bildungs-
ideal 19. — Erziehung durch Wiseen-
scbaft 43. — »eine Schule als Er
liehutigMUJilalt 04r. — VeihÜliuis lur
sophisliBchcD Rhelorik und Eiistik 19.
— Kleilophon Ibtl
Plinius der jüngere: Zeil seiner Ver-
waltung Bilhpiena ao6. — conlrolin
die Finaciten von Prnsa 508. — beCür-
worlet bei Trajan den Bau eiaea neuen
fiadliauees in Piusa 508. — sein Vw-
haltea im Ptocefs des Archippus h\1.
— im Procefs Dios 514.
PlnlareboB von Chaironeia: noiiruiA
Tiafayyiluaja 311. — viyxfieie 'jift-
aio^Axovi xai MivAvSfov 16Ü.
Plulion, Rhetor 131.
PolemoD der Akademiker 84.
Poiemon der Sophist 142.110.— Lebens
leit 463. — in Pro» al« Schüler Dioh
ebda.
Popolarpbilosophie41f. — der Kai-
Po i
t 113.
B vooApameia 112. — gegen
HennigorsB 93.
pTokloB von Naukratis ISO.
ProlagoriB 0. — Wanderleben 14r. —
nennt sich loerst Sophist 4. — als
Tugendlehier 10. — Cursiis der bürger-
licben TQcbügkeit 13. — Erkennlais*
Iheorie 10. — 'Mn9>ta 10. — Op*oi-
JltM 13.
Pruia am Olfmpoa 116. — geographiiche
ScbilderuDg 121. — «vfonuo/iäe 341.
— Aufstand wegen der Brolprcise 207.
— Abhaltung des Gerichtstages in Prusa
328. — Vermehrung der Stadlrile 327.
— Wahl der Slartlräle 337 f. — S,ol-
xtjoit 327. 340. — strebt danach, Frei-
staat lu werden 329. — städtische Bau-
angelegenheil 34or. 347r. — Abhrucli
der Schmiedewetkstalt 350. — Poliici-
tationen TDr die etädlischrn Raulen 351.
— Streit mit Apamela 35S. — grausame
Verrolguiig des Demos durch Julius
Bassus 37 ir.
■rj-lanisST.
Relegation von ProvinciHlen 233.
Khetorschule: vulgäre 7. 6Ö. — al»
Rivalin der Pbilosophenschule 63.
Rhelorik: aicilische Technologie der Ge-
richtsrede 7. — Einrühruug der griech.
Rh. in Rom BB.
Rhodos: Freistaat 211. — Verlust der
Freiheit durch Claudius 214. — Her-
stellung durch Nero 214. — Verlust der
Freiheit durch Vespaaiao 215. — Her-
Etellnng durch Tilus 217.
Rom: Reidishsupisladt IIB. — Sammel-
punkt der griechischen Talente 118.
Senecs der illere 174.
Seneca der Philosoph: ludus de morte
Claudii 177.
ServiliusGalvus, proconsul Bithyalae
233.
Simmias, Kyrenaiker 29.
Sokrales: VerblllniB zur Sopbistik 16t.
— Eniebung durch Wiasenschart 17.
Sokratiker: unvollkommene 20. —
Verhältnis lur Sopbistik ebda.
Sophisten als Eniehrr 6. — Gelderwerb
6. — Pädagogik 35f. — ihr Bildungs-
Ideal 18. — als Lehrer der gerichtlichen
Beredsamkeit 7. — als Wanderlehrer 15.
— als kihaberorttanBisdger Schulen IS.
Sachregister.
523
— ausgcarbfitcle Reden 14. — Impro-
visalion 14. — Politische Theorien 13.
— Individualetliik 14. — Rhetorik und
Eristik 9. — Elenktik und Erislik 5. —
Etymologie 8. — Synonymik 8. — epi-
deiktische Vorlräge 12. — nal/via 12.
Sophistik: Fortdauern ihres Bildungs-
ideals in der zwcitt'n Häirte des 4. Juhrh.
()3. — Untergang und Erneuerung ihres
Bildungsideals 6S.
Sophistik, zweite 12Sf. — Ursprung
der zweiten Soph. 114. — Cullus der
griechischen Vergangenheit 1.3G. — ihr
Bildungsideal 132 f. — Honorare 142.
— rednerische Thäligkeit 153. — Ver-
tretung der Vaterstadt beim Kaiser 313.
— Widerlegung mythischer Überliefe-
rungen 166 f. — Pnblicalion von Sieg-
reif reden 172 f.
Sophokles: ^AxiXUoii igaorai 166.
Sosikrates von Rhodos 31.
Stegreifreden der zweiten Sophistik
135.
S 1 0 a : Ansicht Ober die Rhetorik 77. — Ent-
wicklung seit der Mitte des S.Jahrli. 77.
Stilpon 23. 24. — als Nebenbuhler des
Krates 41.
Straton der Peripaletiker S3.
Suetonius Nero 57. 295.
Synesiüs Dio 223.
T.
Telekles 87.
Theagenes von Knidos 160.
Themistius or. 10 p. 139nard. 143.
Theodoros 6 ä&ioi 29. 42.
Theodoros von Gadara 131.
Theophrastos: Frequenz seiner Schule
82.
Thrasea Paetus 149.
Timolaos von Larisa 40.
Timon von Phlius 23. 67. 85.
Titus, Kaiser, liebt den JMelankomas 143.
— Agonothet und Gymnasiarch in Nea-
polis 145.
Trajan, Kaiser 324. 326. 381.385.435.
506.512.514. — Verhältnis zu Dio 329.
— Vertreibung der Pantomimen 409.
V.
Yarenus Rufus, proconsul Bithyniae
367 f. — Zeit seiner bithynischen Statt-
halterschaft 375 f. — Anwalt der Bithy-
nier im Procefs des Bassus 378. — sein
eigener Repetundenprocefs 381 f.
Velins Paullus, proconsul Bithyniae
510.
Vespasian, Kaiser 142. 436.
X.
Xenokrates 29. — Definitionen der
Rhetorik 83.
Xenophon abhängig von Antisthenes 21.
— weder ao^tartjs noch ^döaoipos 21.
— von Dio gelobt 139.
Z.
Zenon der Eleat 5. — Erfinder der Dia-
lektik ebda.
Zenon von Kition 40. — über den Unter-
schied der Rhetorik und Dialektik 77.
— Homerstudien 16t.
Zenon der Sidonier 89.
Z o i 1 o s von Amphipolis 39. 40. — Homer-
Studien 16S.
dSoSoe {^nod'iafti 153.
dn^ißfia 14.
d^t-nj 6. 7. 16 — Txohrtxr- '^.
aÖToaxiStoi löyoi 180.
Siaxoüeir 24.
9taUyra&ai 251.
SiAleiis 179.
SiaXiifte und didXoyoi 279.
ixypdofis 153.
ißi7i(7iToyifS löyoi 440.
524 S(chi
xfiiTiKoi löyoi I6U.
»ions und ino^tont »3 (T. 109f. 111.
9'iäiifiiTmäi ßlos 64.
/la^vaTs -14. 45. SO. 112. 134.
piUrr, 179.
/liuriaa 13u.
flötiafxoi 161. 2ST.
aaiSi/a 8. 24. 3«. 44. R3. 120. — ty
Kixluts 134.
TjfaxTinöS und ^lafijitxäi ßioi US.
TflCHTUldC ^/de I>4.
TifoXaliai 4'IS.
I nfoorroCi;o-c /timue,'o€ 444. J
;i(it'0;To/i;?iE a-/tStaaain! 474.
1 aiyyfa/i/m unil f7iiSfiri]iiit 175
I T'<)|'7P<'70' (nodiWi) 172f.
^iloao^la 11. ITf. 63. 65. 67.
^govita/iBTa 190.
9-i-(ri()ltl;-oi 4.
EToy/o a. 6. 7. 11. 14. t7. 63.
OQifioxai 4. 67,
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